I. Die Beklagte wird in Abänderung des Bescheides vom 13. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. September 2008 verpflichtet, dem Kläger ab 1. Juli 2008 Altersrente unter Berücksichtigung des im Zeitraum vom 1. April 2008 bis 30. Juni 2008 tatsächlich erzielten Arbeitsentgelts von 12.484,- Euro zu zahlen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ein ist ein Anspruch auf einen höheren Zahlbetrag der Altersrente unter Zugrundelegung des tatsächlichen Arbeitsentgelts von 12.484 EUR für das zweite Quartal 2008.
Der 1948 geborene Kläger hatte mit seinem Arbeitgeber am 22.04.2003 eine Altersteilzeit – Vereinbarung im Block-Modell mit Freistellungsphase 01.01.2006 bis 30. 6. 2008 geschlossen. Am 11.04.2008 stellte er seinen Antrag auf Altersrente nach Altersteilzeitarbeit mit Rentenbeginn am 01.07.2008. Unterschriftlich willigte er in die auf dem Formular vorgedruckte Erklärung ein, dass der Rentenversicherungsträger zur Beschleunigung des Rentenverfahrens für einen Zeitraum von maximal drei Monaten vor Rentenbeginn die entsprechenden voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen hochrechnet und diese der Rentenberechnung zu Grunde legt. Zur Akte gelangte außerdem eine Entgeltbescheinigung des Arbeitgebers über die beitragspflichtigen Einnahmen vom 01.01 bis 31.03.2008 sowie eine Entgeltvorausbescheinigung vom 07.04.2008 für die Zeit von April bis Juni 2008. Die Beklagte stellte daraufhin auf der Grundlage eines Einkommens von 42.013,25 EUR für den Zwölfmonatszeitraum 01.04.2007 bis 31.03.2008 ein hochgerechnetes Entgelt für die Zeit vom 01.04.2008 bis 30.06.2008 von 10.503 EUR fest. Ausgehend davon bestimmte sie schließlich die Altersrente des Klägers ab 01.07.2008 und stellte sie mit Bescheid vom 13.05.2008 fest. Der Kläger widersprach der fiktiven Hochrechnung des Beitragsentgelts für die Zeit vom 01.04.2008 bis 30.06.2008; der Arbeitgeber habe am 07.04.2008 abweichend davon das auch tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelt von 12.484 EUR bescheinigt. Dieses sei zugrunde zu legen. Mit Bescheid vom 10.09.2008 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. An Stelle einer Vorausbescheinigung sei seit 01.01.2008 die so genannte "gesonderte Meldung" und Hochrechnung von Entgelten gemäß § 194 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) getreten. Nach § 70 Abs. 4 SGB VI seien diese Beträge in jedem Fall maßgeblich.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage. Es sei nicht darauf hingewiesen worden, dass eine vorzeitige Rentenantragstellung unter Umständen zu Nachteilen bei der Berechnung der Rente führen könne. Dies sei aus den Antragsunterlagen nicht zu erkennen gewesen, ein Hinweis auf § 70 SGB VI war nicht enthalten.
Der Kläger beantragt, die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 13.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2008 zu verpflichten ihm ab 01.07.2008 Altersrente unter Berücksichtigung des tatsächlich im Zeitraum vom 01.04.2008 bis 30.06.2008 erzielten Arbeitsentgelts von 12.484 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Da der Rente auf Antrag des Klägers die hochgerechneten beitragspflichtigen Einnahmen zugrunde gelegt worden seien, verbleibe es gemäß § 70 Abs. 4 SGB VI zwingend bei dieser Berechnung und zwar unabhängig davon, ob die tatsächlich beitragspflichtigen Einnahmen höher oder niedriger seien als die hochgerechneten. Bei dieser Rechtsauffassung blieb sie auch nach Kenntnis des vom Gericht zur Verfügung gestellten Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts (Urteil vom 13.08.2008, L13 R 58/08). Mit diesem Urteil war die Beklagte in einem anderen Fall verpflichtet worden, der Rentenberechnung das von einer Entgeltvorausbescheinigung abweichende tatsächliche Entgelt (nachträglich) zugrunde zu legen. Das Gericht hatte sich dabei auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.11.1995 (4 RA 48/93) gestützt und ergänzend ausgeführt, dass § 70 Abs. 4 SGB VI verfassungskonform auszulegen sei mit der Konsequenz, dass eine Rentengewährung in der Höhe zu erfolgen habe, wie sie sich aus den Beiträgen gemäß dem tatsächlichen Arbeitsentgelts ergeben. Die Beklagte hat hierauf mitgeteilt, dass dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.11.1995 über den dort entschiedenen Einzelfall hinaus nicht gefolgt werde.
Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Sie waren ebenso wie die Gerichtsakte Gegenstand dieses Verfahrens. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger Altersrente auf der Grundlage der tatsächlichen Arbeitsentgelte für die Zeit von April bis Juni 2006 zu zahlen. Soweit der Bescheid vom 13.05.2008 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2008) davon abweichend für diesen Zeitraum niedrigere (aus dem Zeitraum 01.07.2007 bis 31.03.2008) hochgerechnete beitragspflichtige Einnahmen zu Grunde legt war er rechtswidrig und insoweit aufzuheben und abzuändern.
Nach § 63 SGB VI richtet sich die Höhe einer Rente vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (Abs. 1). Dabei wird das in den einzelnen Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen in Entgeltpunkte umgerechnet. Im konkreten Einzelfall wird der Monatsbetrag der Rente dadurch bestimmt, dass die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden (§ 64 SGB VI).
Zur Sicherstellung einer beschleunigten Rentenfeststellung einer Altersrente hatte der Gesetzgeber zunächst in § 194 SGB VI (a.F., d.h. Fassung bis zum 31.12.2007) den Arbeitgebern aufgelegt, den Versicherten auf Verlangen das voraussichtliche beitragspflichtige Arbeitsentgelt für die Zeit bis zum Ende der Beschäftigung bis zu drei Monaten im Voraus zu bescheinigen (sogenannte "Entgeltvorausbescheinigung"). Durch das "Zweite Gesetz zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft" (MEG II) vom 07.09.2007 wurde diese für die Arbeitgeber als zu aufwändig kritisierte Regelung mit dem Ziel, diese von der Verpflichtung voraussichtliche Einnahmen zu schätzen, zu entlasten (Bundestag – Drucksache 16 /43 91, S. 40), abgeschafft. Mit Wirkung ab 01.01.2008 trat an die Stelle der Vorausbescheinigung durch den Arbeitgeber dessen Verpflichtung zur Abgabe einer gesonderten Meldung der beitragspflichtigen Einnahmen für abgelaufene Zeiträume, frühestens drei Monate vor Rentenbeginn. Den Rentenversicherungsträgern wurde es aufgelegt bei Antrag auf Altersrente und Vorlage einer gesonderten Meldung im Sinne von § 194 SGB VI die voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen für den verbleibenden Beschäftigungszeitraum bis zum Rentenbeginn für bis zu drei Kalendermonaten nach den in den letzten 12 Kalendermonaten gemeldeten beitragspflichtigen Einnahmen hochzurechnen (§ 194 Abs. 1 S. 3 SGB VI). Aus diesen hochgerechneten Einnahmen hat der Rentenversicherungsträger die zur Berechnung des individuellen Rentenanspruchs erforderlichen persönlichen Entgeltpunkte (vergleiche § 64 SGB VI) zu ermitteln (§ 70 Abs. 4 Satz 1 SGB VI). Weichen die tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Einnahmen des Versicherten von der durch den Rentenversicherungsträger erstellten Hochrechnungen ab, bleiben sie nach § 70 Abs. 4 S. 2 SGB VI für diese Rente außer Betracht. Dies bedeutet, dass der Kläger nach dem Wortlaut von § 70 Abs. 4 SGB VI keinen Anspruch auf eine Altersrente unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen beitragspflichtigen Einnahmen in der Zeit von April bis Juni 2006 hat.
Dieses Ergebnis ist jedoch weder mit Sinn und Zweck der §§ 194 ,70 SGB VI noch mit wesentlichen verfassungsrechtlichen Grundsätzen vereinbar.
Soweit ersichtlich (nach "juris" und "www.sozialgerichstbarkeit.de") haben sich bisher nur der 4. Senat des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16.11 1995,4 RA 48/93) und das Bayerische Landessozialgericht (Urteil vom 13.08.2008, L13 R 58/08), das zudem keine Gründe für die Zulassung der Revision erkannte, mit der Thematik auseinandergesetzt. Ausgangspunkt der Überlegungen des Bundessozialgerichts war die Erkenntnis, dass der Gesetzgeber mit Einführung von § 194 SGB VI (a.F.) und § 70 SGB VI die bis 31.12.1991 geltenden Vorschriften von § 123 AVG sinngemäß übernahm, ohne deren Regelungsgehalt inhaltlich zu ändern (BT-Drucksache 11/4124, bezogen auf die regelungs- und wortidentische Vorschriften des § 1401 RVO). Unstreitig verfolgte der Gesetzgeber mit diesen Vorschriften den alleinigen Zweck, das Verwaltungsverfahren im Sinne der Versicherten zu beschleunigen und mit dem Ziel, einen nahtlosen Übergang aus der Erwerbsphase in den Rentenbezug sicherzustellen, eine frühzeitige Antragstellung zu ermöglichen. Daran hat sich durch das MEG II nichts geändert, das lediglich die Arbeitgeber entlasten sollte, ohne dabei die bisherige Rechtsposition der Versicherten zu verändern. Der Normzweck von § 194 IVm § 70 Abs. 4 SGB VI beschränkt sich deshalb zeitlich auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens, ist mit Erlass des Verwaltungsaktes (hier Bescheid vom 13.05.2008) erschöpft und steht einer nachträglichen Korrektur der Entscheidung unter Zugrundelegung der tatsächlichen Verhältnisse nicht entgegen (BSG a.a.O.).
Es ist auch verfassungsrechtlich geboten § 70 Abs. 4 SGB VI so zu interpretieren, dass eine Rentengewährung auf der Grundlage der nach den tatsächlichen Entgelten bestimmten Entgeltpunkte durch nachträgliche Neufeststellung möglich bleibt. Bei der vom Kläger erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklage gilt dies jedenfalls für den Fall, dass der Rentenbescheid noch nicht gemäß § 77 SGG bestandskräftig geworden ist (vgl. BayLSG aaO.). Die davon abweichende Praxis und Rechtsauffassung der Beklagten steht nicht im Einklang mit Art. 14 Grundgesetz (GG).
Es entspricht allgemeiner Auffassung und ständiger verfassungsrechtlicher Rechtsprechung, dass nicht nur Versichertenrenten sondern auch Rentenanwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung dem Schutz des Art. 14 GG unterliegen (vgl. grundlegend BVerfG 28.2.1980, 1 BvL17/77). Zwar billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Bestimmung des Inhalts und der Schranken (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) rentenversicherungsrechtlicher Positionen grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit zu. Allerdings so das Gericht – "verengt sich seine Gestaltungsfreiheit in dem Maße, in dem Rentenansprüche oder Rentenanwartschaften durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistung des Versicherten geprägt sind". Die Eigentumsposition ist umso verstärkter je mehr " ihr Umfang durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten mitbestimmt wird, wie dies vor allem in den einkommensbezogenen Beitragsleistungen Ausdruck findet. Die Berechtigung des Inhabers steht also im Zusammenhang mit einer eigenen Leistung, die als besonderer Schutzgrund für die Eigentümerposition anerkannt ist (vgl BVerfGE 1, 264 (277f); 14, 288 (293); 22, 241 (253); 24, 220 (226)). Je höher der einem Anspruch zugrunde liegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor." Aus Art. 14 GG steht dem Kläger somit die Altersrente errechnet auf der Grundlage seiner nachweislichen tatsächlichen Arbeitsentgelte zu.
Die Rechtsauffassung der Beklagten zu §§ 194, 70 Abs. 4 SGB VI wäre nur dann zutreffend, wenn der Gesetzgeber damit eine verfassungsrechtlich zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) der eigentumsrechtlichen Position des Klägers hinsichtlich seiner verfassungsrechtlich geschützten Rentenanwartschaften getroffen hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat dies (a.a.O.) für zulässig erachtet, "sofern dies einem Zweck des Gemeinwohls dient und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht". Ungeachtet dieser Zulässigkeitsfrage mangelt es vorliegend schon an der Absicht des Gesetzgebers insbesondere mit § 70 Abs. 4 SGB VI in die eigentumsrechtlichen Positionen der Versicherten (im Sinne einer verfassungsrechtlich zulässigen Leistungskürzung) eingreifen zu wollen. Im Gegenteil: Mit dem Regelungskomplex der §§ 194,70 Abs. 4 SGB VI sollte die Rechtspositionen der Versicherten im Sinne eines beschleunigten Verwaltungsverfahrens sowie der Sicherstellung eines nahtlosen wirtschaftlichen Übergangs vom Erwerbs- in das Rentnerleben gestärkt werden. Eine Verkürzung der Versichertenrechte war erkennbar nicht beabsichtigt, § 70 Abs. 4 SGB VI steht – nach Erlass des "beschleunigten Rentenbescheides" – einer Korrektur mit dem Ergebnis einer Rentengewährung in der Höhe, wie sie sich aus den Beiträgen gemäß dem tatsächlichen Arbeitsentgelt gibt und wie sie jeder Versicherte aus Art. 14 GG verlangen kann folglich nicht entgegen. Dies wird im Übrigen auch einfachgesetzlich dadurch deutlich, dass § 64 SGB VI im Rahmen der Rentenberechnung für die Bestimmung der persönlichen Entgeltpunkte auf den Wert "bei Rentenbeginn" abstellt.
Die vom Kläger unterschriftlich auf dem vorformulierten Rentenantrag abgegebene Einwilligung, dass der Rentenversicherungsträger zur Beschleunigung des Rentenverfahrens für einen Zeitraum von maximal drei Monaten vor Rentenbeginn die entsprechenden voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen hochrechnet und diese der Rentenberechnung zu Grunde legt, ist kein Verzicht im Sinne von § 46 Abs. 1 S. 1 SGB I (BayLSG a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Erstellt am: 21.09.2009
Zuletzt verändert am: 21.09.2009