Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 6. Dezember 1995 wird zurückgewiesen. Auf die Klage wird die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 16. Juni 1997 verurteilt, dem Kläger wegen einer chronischen obstruktiven Emphysembronchitis nach § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung Verletztenrente nach einer MdE um 20 % ab 17. Mai 1989 und nach einer MdE um 30 % ab 16. März 1993 zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im zweiten Rechtszug. Ansonsten sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit wird um die Entschädigung einer Silikose als Berufskrankheit bzw. einer Emphysembronchitis nach § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine Berufskrankheit geführt.
Der im xxxxxx 1935 geborene Kläger war von Februar 1953 bis März 1968 im Untertagebetrieb des Steinkohlenbergbaus als Schlepper, Gedingeschlepper und Hauer beschäftigt. In dieser Zeit war er nach den Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten einer kumulativen Feinstaubdosis von 108 mg/m3 x Jahre (sog. Staubjahre) ausgesetzt. Im Februar 1978 wurde erstmals eine Silikose als Berufskrankheit angezeigt. Der Staatliche Gewerbearzt kam damals zu dem Ergebnis, es handele sich um eine eben leichtgradige Silikose des Schweregrades q1/2 der Klassifikation des International Labour Office (ILO). Silikotische Veränderungen einer derart geringgradigen Ausprägung verursachten noch keine erwerbsmindernden Einschränkungen der Atem- und Herzkreislauffunktion. In dem anschließenden Klageverfahren (SG Duisburg S 3 BU 125/78) wurde ein Gutachten von Prof. Dr. W. eingeholt, der leichtgradige Staublungenveränderungen (q2/1) feststellte aber keine Beeinträchtigung der Atemmechanik. Ein weiterer Entschädigungsantrag wurde mit Bescheid vom 18.02.1988 und Widerspruchsbescheid vom 30.06.1988 abgelehnt. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Duisburg (S 2 BU 107/88) sind Gutachten des Internisten Dr. R. vom 30.12.1988, Marienhospital in W., und des Prof. Dr. W. vom 17.05.1989 eingeholt worden. Beide kamen zu dem Ergebnis, daß keine Silikose in entschädigungspflichtigem Ausmaß vorliege. Prof. W. schätzte die Silikose radiologisch auf q2/2 ein und fand keine meßbare Beeinträchtigung der Lungenfunktion.
Im Juni 1992 zeigte der Allgemeinmediziner Dr. B. aus O. erneut eine Berufskrankheit an. Die Beklagte holte ein Gutachten von Prof. Dr. W. vom 16.03.1993 ein. Prof. W. stufte die Silikose wiederum in die Kategorie pq2/2 ein. Er führte desweiteren aus, die insgesamt etwas vermehrte Strahlendurchlässigkeit beider Lungen weise auf ein mäßiges Lungenemphysem hin. Lungenfunktionsanalytisch sei weder eine obstruktive Ventilationsstörung noch gar eine Störung des respriratorischen Gasaustausches objektivierbar. Schon aus diesem Grunde lägen die Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 nicht vor. Der Staatliche Gewerbearzt für den Aufsichtsbezirk Westfalen stimmte dem Gutachten am 28.04.1993 zu. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 25.05.1993 das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Anlage 1 zur BKVO ausdrücklich an, lehnte aber die Gewährung von Rente mit der Begründung ab, eine auf die silikotischen Veränderungen zurückzuführende Funktionsbeeinträchtigung von Lunge und/oder Herz-Kreislauf-System liege nicht vor. Dagegen legte der Kläger am 17. Juni 1993 Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren wurde ein Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes der Krankenkassen vorgelegt, in dem eine chronische Emphysembronchitis diagnostiziert wurde und eine Arbeitsunfähigkeit auf eine erhebliche Dyspnoe zurückgeführt wurde. Die Beklagte zog einen Bericht über die stationäre Behandlung des Klägers im Ev. Krankenhaus in X bei und holte eine gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. R. vom 27.08.1993 ein, der mit Prof. Dr. W. übereinstimmte. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.1993 zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 23.12.1993 Klage zum Sozialgericht Duisburg erhoben. Das Sozialgericht hat zunächst den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. B. als Zeugen vernommen. Dr. B. hat im Termin zur Beweisaufnahme am 04.11.1994 ausgesagt, beim Kläger liege unter Belastung eine Lungenfunktionsstörung vor, diese sei bereits im Jahre 1988 von Prof. K. festgestellt worden. Die mitbehandelten Kardiologen Dr. R. und O. hätten eine Rechtsherzbelastung festgestellt, die auf die Silikose zurückzuführen sei. Die Silikose sei die überwiegende Mitursache der Lungenfunktionsstörung. Der Kläger leide zwar an einem Lungenemphysem, dieses sei jedoch erst aufgetreten, als bereits eindeutige silikotische Veränderungen vorhanden gewesen seien.
Die Beklagte hat dazu eine Stellungnahme von Prof. Dr. W. und Dr. S. vom 21.03.1995 vorgelegt, die bei ihrer Auffassung verblieben sind. Das Sozialgericht hat sodann den Arbeitsmediziner Dr. O. aus C. am 04.09.1995 zum Sachverständigen ernannt. Dr. O. ist zusammenfassend zu dem Ergebnis gekommen, das röntgenologische Erscheinungsbild der Quarzstaublungenerkrankung habe sich von Januar 1982 bis zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht wesentlich verändert und sei als leichtgradig zu beurteilen. Daneben liege beim Kläger eine chronische Atemwegserkrankung (Emphysembronchitis) vor, die aber nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise auf die Silikose zurückzuführen sei, dafür reiche der Ausprägungsgrad der Silikose nicht aus. Lungenfunktionsanalytisch bestünden leichte Störungszeichen des Lungengasaustausches, die sich unter körperlicher Belastung verstärkten. Diese Funktionsstörungen seien ebenfalls nicht mit Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise auf die Silikose zurückzuführen sondern erklärten sich in erster Linie als Folge der silikoseunabhängigen chronischen Emphysembronchitis. Eine aktive Lungentuberkulose sei nicht vorhanden.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 06.12.1995 die Klage im wesentlichen gestützt auf das Gutachten des Dr. O. abgewiesen. Gegen das ihm am 28.12.1995 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17.01.1996 Berufung eingelegt und zur Begründung eine Stellungnahme des Dr. B. vom 30.07.1996 vorgelegt, der nach wie vor die Auffassung vertritt, die Silikose bedinge eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 %.
Die Beklagte hat auf Anregung des Senats ein Verwaltungsverfahren nach § 551 Abs. 2 RVO eingeleitet. Sie hat zunächst Ermittlungen zur kumulativen Feinstaubdosis angestellt und alsdann ein Gutachten eingeholt von Dr. R., Chefarzt an den Krankenanstalten D. mit radiologischem Zusatzgutachten von Dr. S. Dr. S. ist unter Auswertung von Lungenübersichtsaufnahmen vom 07.09.1996 zu dem Ergebnis gekommen, es sei gegenüber den Vergleichsaufnahmen vom 81.07.1995 zu keiner Änderung, insbesondere zu keiner Progression der mäßigen Silikose gekommen. Sie sei in die Kategorie q/p 2/1 einzuordnen. Darüberhinaus lägen Zeichen eines mäßigen Lungenemphysems sowie angedeutete Zeichen einer chronischen Bronchitis vor. Dr. R. ist in seinem Gutachten vom 07.11.1996 zu dem Ergebnis gekommen, beim Kläger liege eine leicht- bis mittelgradige obstruktive Ventilationsstörung vor. Er diagnostizierte ein Lungenemphysem, das er nach radiologischen Kriterien als mäßiggradig, nach funktionsanalytischen Kriterien als leicht bis mittelgradig beschreibt. Ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Untertagetätigkeit und dem Emphysem sei anzunehmen. Der Kläger sei seit mindestens fünf Jahren durch die Folgen des Emphysems in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert, wobei sich seit dem Gutachten vom 17.05.1989 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 % sowie seit der Begutachtung vom 16.03.1993 eine MdE um 30 % ergebe. Das Gutachten ist am 28.11.1996 bei der Beklagten eingegangen. Die Beklagte hat mit Verfügung vom 06.12.1996 Entgeltnachweise für die Zeit vom 17.05.1988 bis 16.05.1989 bzw. für das Jahr vor dem letzten Tage der Aufgabe der Hauertätigkeit (31.03.1968) angefordert. Die Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes wurde dadurch erschwert, daß die Fa. L. GmbH & Co KG, bei der der Kläger 1988, 1989 beschäftigt war, nicht mehr existiert. Die Beklagte holte daraufhin eine Auskunft der Bundesknappschaft über das dort gespeicherte Arbeitsentgelt ein. Diese Auskunft ist am 02.05.1997 bei der Beklagten eingegangen.
Mit Bescheid vom 16.07.1997 lehnte die Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO mit der Begründung ab, nach dem nunmehr vorliegenden Entwurf des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zur Neuordnung der Berufskrankheitenverordnung sollten künftig die chronische obstruktive Bronchitis und das Emphysem nur dann als Berufskrankheit entschädigt werden, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten sei. Dies sei im Fall des Klägers nicht der Fall, weil bei ihm seit dem 17.05.1989 eine chronisch obstruktive Bronchitis und ein Emphysem bestehe.
Der Kläger vertritt die Auffassung, die Entschädigung könne nicht unter Bezugnahme auf eine Stichtagsregelung versagt werden, die überhaupt noch nicht existiere. Die Beteiligten haben übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß der Bescheid vom 16.07.1997 nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens geworden sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 06. Dezember 1995 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 25. Mai 1993 sowie des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1993 zu verurteilen, dem Kläger eine Verletztenrente wegen der BK 4101 der Anlage 1 zur BKVO (Silikose) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. ab 17. Mai 1989 und nach einer MdE um 30 v.H. ab 16. März 1993 zu gewähren, hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung ihres Bescheides vom 16. Juli 1997 dem Kläger wegen einer chronisch obstruktiven Emphysembronchitis in Anwendung von § 551 Abs. 2 RVO Verletztenrente in dem im Hauptantrag bezeichneten Ausmaß zu gewähren.
Der Vertreter der Beklagten beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage wegen Entschädigung einer chronisch obstruktiven Emphysembronchitis abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, die beruflichen Voraussetzungen für die Entschädigung einer Emphysembronchitis wie eine Berufskrankheit stünden nicht mehr in Frage. Auch werde die Erwerbsfähigkeit des Klägers ab 17.05.1989 um 20 % und ab 16.03.1993 um 30 % durch die Folgen der Emphysembronchitis gemindert. Die Beklagte vertritt aber die Auffassung, die Bundesregierung habe im Entwurf der Verordnung zur Neufassung der BKVO vom 13.05.1997 die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau unter Ziff. 4111 in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen wollen, aber in den Übergangsvorschriften die Anerkennung einer Berufskrankheit davon abhängig gemacht, daß der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten sei. Diese Stichtagsregelung werde von ihr seit dem 06.06.1997 aus Gründen der Gleichbehandlung der Versicherten angewandt. Zu diesem Zeitpunkt seien bereits 619 Fälle der zukünftigen Nr. 4111 der BKVO entschädigt worden. Die Beklagte hat vorsorglich die Einrede der Verjährung erhoben und dabei darauf abgestellt, der Anspruch auf Entschädigung der Emphysembronchitis wie eine Berufskrankheit sei erstmalig 1996 geltend gemacht worden.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sach- und Streitstandes im einzelnen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und der Streitakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zu lässig. Sie ist aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte hat zwar beim Kläger den Versicherungsfall einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Anlage 1 zur BKVO anerkannt. Ihm steht aber deswegen keine Verletztenrente zu. Dieser Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, weil der Versicherungsfall vor Inkrafttreten des 7. Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) eingetreten ist, § 212 SGB VII. Der Anspruch auf Verletztenrente scheitert daran, daß die dem Grunde nach als Berufskrankheit anerkannte Silikose keine meßbare MdE bedingt (§ 581 Abs.1 RVO).
Zwar liegen beim Kläger röntgenologisch nachgewiesene silikotische Veränderungen der Lungen vor. Das reicht aber allein für die Gewährung von Verletztenrente noch nicht aus. Erforderlich ist des weiteren, daß sich solche berufsbedingten Quarzstaubeinlagerungen in den Lungen auf die Funktion von Atmung und/oder Kreislauf aus wirken (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 02.11.1988 – 8/5a RKnU 3/87 – und BSG SozR 2200 § 551 Nr. 34; sowie ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteile vom 14.04.1994 – L 2 BU 20/93 – und vom 06.07.1995 – L 2 BU 80/92). Zwar liegen beim Kläger seit Juli 1988 Störungen des Lungengasaustausches vor mit Sauerstoffdruckerniedrigung sowie eine periphere Atemwegsobstruktion. Diese objektiv nachgewiesenen Funktionsstörungen können aber nicht mit der dafür erforderlichen Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise auf die silikotischen Veränderungen zurückgeführt werden. Sie erklären sich vielmehr als Folge einer von der Silikose unabhängigen chronischen Emphysembronchitis. Der Senat folgt insoweit dem in erster Instanz eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. O. Dieser Sachverständige begründet seine Auffassung schlüssig und überzeugend damit, daß die auf dem Röntgenbild erkennbaren Schatten lediglich eine Streuungsdichte der Kategorie 2 der internationalen Klassifikation erreichen und daß sich keinerlei Anhaltspunkte für Komplikationserscheinungen wie Ballungen, Verschwielungen und Schrumpfungen ergeben. Der gerichtliche Sachverständige stimmt insoweit mit den im Verwaltungsverfahren gehörten Gutachtern Prof. Dr. W. und Prof. Dr. R. überein.
Die vom Hausarzt Dr. B. vertretene Auffassung vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Dr. B. geht in seiner Stellungnahme vom 30.07.1996 von einer Einschätzung der Streuungsdichte röntgenologisch nachweisbarer silikotischer Veränderungen aus (2-3), die von keinem anderem Gutachter geteilt wird. Prof. Dr. W., Prof. Dr. R. und Dr. O. sind dem Senat als besonders erfahrene Gutachter auf dem Gebiet der Silikosebegutachtung bekannt, so daß keine Bedenken bestehen, sich deren Beurteilung anzuschließen. Auch Dr. H., Chefarzt der radiologischen Abteilung der Krankenanstalten D. kommt in seinem radiologischen Zusatzgutachten vom 03.09.1996 lediglich zu einer Silikose des Schweregrades q/p 2/1.
Dem Kläger steht aber Verletztenrente nach § 551 Abs. 2 RVO wegen einer chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung zu. Der diese Leistung ablehnende Bescheid vom 16.07.1997 ist in entsprechender Anwendung des § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegen stand des Verfahrens geworden. Diese Vorschrift setzt ihrem Wort laut nach voraus, daß der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt nach Klageerhebung durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird. Bei wörtlicher Auslegung der Vorschrift sind die Voraussetzungen nicht erfüllt. Änderung setzt voraus, daß der ursprüngliche Verwaltungsakt teilweise aufgehoben und durch eine Neuregelung er setzt wird; Ersetzung bedeutet, daß ein neuer Verwaltungsakt ganz anstelle des alten tritt (vgl. Meyer-Ladewig, Anm. 4 zu § 96 SGG). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat anschließt, ist aber diese Vorschrift unter dem maßgeblichen Gesichtspunkt der Prozeßökonomie dann entsprechend anzuwenden, wenn der neue Verwaltungsakt mit dem Streitstoff im Zusammenhang steht und der Grundgedanke des § 96 die Einbeziehung rechtfertigt (BSGE 47, 168 ff.). Dieser enge Zusammenhang ist bei der Entschädigung einer Silikose nach § 551 Abs. 1 RVO und einer Emphysembronchitis nach § 551 Abs. 2 RVO gegeben. Beide Erkrankun en sind ursächlich zurückzuführen auf die Staubentwicklung im untertägigen Steinkohlenbergbau. Die Entschädigung der Emphysembronchitis kommt auch unter beiden rechtlichen Gesichts punkten in Betracht, nämlich dann, wenn die silikotischen Veränderungen der Lunge – wie beim Kläger noch nicht der Fall – so weit entwickelt sind, daß sie ihrerseits als wesentliche Teilursache des Lungenemphysems anzusehen sind. Die Einbeziehung des Verwaltungsakts entspricht auch einem sinnvollen Verständnis der Prozeßökonomie, da die Klärung der tatbestandlichen Voraussetzungen so wohl der Entschädigung der Silikose als auch der Entschädigung der Emphysembronchitis im Rahmen einer einheitlichen lungenfachärztlichen Beweisaufnahme erfolgen kann und widersprechende Entscheidungen vermieden werden. Es steht der Anwendung des § 96 SGG nicht entgegen, daß der Rechtsstreit sich bereits in Berufungsinstanz befindet. Der Senat entscheidet dann insoweit über eine Klage (BSGE 18, 321).
Die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO sind erfüllt. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestehenden Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind, d.h. daß die Krankheit nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht worden ist, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 551 Abs. 1 RVO). Solche neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft liegen hinsichtlich der chronischen Emphysembronchitis für den Personenkreis der Bergleute im untertägigen Steinkohlenbergbau vor, soweit diese einer Feinstaubexposition mit einer Mindestdosis von 100 Staubjahren ausgesetzt waren. Dies entnimmt der Senat der Bekanntmachung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 01.08.1995 (Bundesarbeitsblatt 10/95 S. 39) und der sich aus dem von der Beklagten vorgelegten Verordnungsentwurf ergebenden Absicht der Bundesregierung solche Erkrankungen in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen (Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKVO).
Die arbeitstechnischen Voraussetzungen dieser neuen Berufskrankheit sind erfüllt. Nach den unbestritten gebliebenen Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten war der Kläger einer Feinstaubdosis von insgesamt 108,2 Staubjahren ausgesetzt. Der Kläger leidet an einer schweren chronischen Bronchitis sowie an einem Lungenemphysem, das nach radiologischen Kriterien mäßiggradig, nach funktionsanlytischen Kriterien leicht bis mittelgradig ist. Insoweit folgt der Senat dem im Wege des Urkundenbeweises verwertbaren Gutachten des Dr. R. Diese Erkrankungen sind mit der dafür erforderlichen Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Feinstaubexposition der Untertagetätigkeit des Klägers zurückzuführen. Die berufskrankheitsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit einer Begutachtung durch Prof. Dr. W. am 17.05.1989 20 % und seit der Begutachtung vom 16.03.1993 30 %. Dementsprechend ist die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Verletztenrente zu gewähren (§ 581 Abs. 1 RVO).
Es reicht aus, daß die neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft, die die Entschädigung einer chronischen Emphysembronchitis nach § 551 Abs. 2 RVO ermöglichen, zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob diese Erkenntnisse bereits zum Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung beim Kläger vorgelegen haben. Nach überzeugender höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, würde es der Funktion des § 551 Abs. 2 RVO als eine "Öffnungsklausel" widersprechen, auf den Erkenntnisstand bei Beginn der Erkrankung abzustellen. Dies hätte in vielen Fällen zur Folge, daß eine Entschädigung gerade der Erkrankungen, die Anlaß zur Erweiterung der Liste der Berufskrankheiten gegeben haben, nicht möglich wäre (vgl. m.w.N. BSG, Urteil vom 14.11.1996 – 2 RU 9/96 -, Breithaupt 1997 527, 530).
Der Entschädigung des Klägers steht auch keine Stichtagsregelung entgegen. Das Gesetz enthält eine solche Stichtagsregelung nicht. Entgegen der von Ricke vertretenen Auffassung (Anmerkung zum Ur teil des BSG vom 14.02.1996 in Sozialgerichtsbarkeit 1997, S. 482 ff.) liegt auch keine im Wege der Analogie zu schließende Regelungslücke vor. Das Bundessozialgericht hat dies in der zitierten Entscheidung mit zutreffender Begründung verneint. Gegen eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes spricht aber entscheidend auch der Umstand, daß der Gesetzgeber des SGB VII keine Veranlassung gesehen hat, die Entschädigung nach § 9 Abs. 2 SGB VII von einer wie auch immer gearteten Stichtagsregelung abhängig zu machen.
Die Träger der Unfallversicherung sind auch nicht befugt, selbst einen Stichtag festzulegen und Versicherungsfälle vor diesem Tag allein deshalb von einer Entschädigung auszuschließen. Auch insoweit folgt der Senat der überzeugend begründeten Entscheidung des BSG vom 14.11.1996, wonach die Festlegung eines Stichtages als Akt der Rechtssetzung grundsätzlich dem Gesetzgeber oder den von ihm auch insoweit ermächtigten Verordnungsgeber vorbehalten ist. Ein solcher Akt der Rechtsetzung hat bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen. Entgegen der Auffassung der Beklagten reicht es nicht aus, daß der Verordnungsgeber in einem Verordnungsentwurf eine Stichtagsregelung vorgesehen hat. Das Bundessozialgericht hat es in der Entscheidung vom 14.11.1996 dahinstehen lassen, ob und inwieweit nach Vorlage eines Entwurfs einer Änderungsverordnung die Unfallversicherungsträger möglicher weise darin vorgesehene Klauseln und Fristen bei der Entscheidung über einen Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO "im Vorgriff" zu berücksichtigen hätten, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundessozialgerichts der Entwurf einer solchen Änderungsverordnung noch nicht vorgelegen hat. Ein solcher Entwurf, der die Stichtagsregelung vorsieht, liegt inzwischen vor, er stellt aber noch nicht den vom Bundessozialgericht zu Recht geforderten Akt der Rechtssetzung dar. Ein solcher ist aber schon aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich. Eine Rechtsverordnung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der förmlichen öffentlichen Bekanntmachung. Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) werden Rechtsverordnungen von der Stelle, die sie erläßt, ausgefertigt und vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen im Bundesgesetzblatt verkündet. Im Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnung vom 30.01.1950 (BGBl. 1950, 29) ist eine generelle Regelung getroffen worden, wonach Rechtsverordnungen des Bundes entweder im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, wobei auf Rechtsverordnungen im Bundesanzeiger und Bundesgesetzblatt hinzuweisen ist. An dieser Publizitätswirkung fehlt es bei einem Verordnungsentwurf. Der Zeitpunkt, von dem an die Stichtagsregelung angewandt wird, würde dann, wie die Praxis der Beklagten exemplarisch zeigt, von dem eher zufälligen Datum abhängen, zu dem ein Verordnungsentwurf vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften durch Rundschreiben bekannt gemacht worden ist.
Der Senat verkennt nicht, daß es nach dem Gleichheitsbehandlungsgebot des Art. 3 GG bedenklich ist, daß bis zum Inkrafttreten einer Änderungsverordnung zur BKVO mit Stichtagsregelung eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO noch möglich ist, danach nicht mehr. Dieses Problem wird aber nicht dadurch gelöst, daß man die Stichtagsregelung eines Verordnungsentwurfs vorgreifend zugrunde legt, sondern lediglich zeitlich verschoben. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten sind bis zum 05.06.1997 619 Fälle der chronischen Emphysembronchitis als entschädigungsfähig anerkannt worden, wobei ein erheblicher Anteil der Versicherungsfälle bereits vor dem Stichtag des Verordnungsentwurfs eingetreten sein dürften. Für diese Ungleichbehandlung ist dem Senat kein sachlich einleuchtender Grund ersichtlich. Der vorliegende Fall zeigt in exemplarischer Weise, daß die Entschädigung oder Nichtentschädigung der chronischen Emphysembronchitis häufig davon abhängig war, wie zügig das Verwaltungsverfahren durchgeführt werden konnte. Hätte die Beklagte nicht besondere Schwierigkeiten gehabt, den Jahresarbeitsverdienst des Klägers als Berechnungsgrundlage der Verletztenrente zu ermitteln, so hätte sie den Kläger bereits vor dem 05.06.1997 nach § 551 Abs. 2 RVO entschädigen müssen. Anders als bei den ebenfalls mit Stichtagsregelung versehenen Änderungsverordnungen vom 22.03.1988 (BGBl. I S. 400) und vom 18.12.1992 (BGBl. I S. 2343) kann angesichts der doch recht großen Zahl von Entschädigungen nach § 551 Abs. 2 nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die oben aufgezeigte Ungleichbehandlung auf "verfassungsrechtlich noch vertretbare Ausnahmefälle" beschränkt ist (so BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 3 zur Verordnung vom 22.03.1988). Anders als bei der chronischen Emphysembronchitis sind die von den Verordnungen 1988 und 1992 neu aufgenommenen Berufskrankheiten in der Zeit vor Änderung der BKVO nicht in quantitativ erheblichem Maße nach § 551 Abs. 2 RVO entschädigt worden (vgl. dazu Hartung u.a., Erfahrungen mit der Anwendung von § 551 Abs. 2 RVO, Eine Auswertung der Erkrankungsfälle von 1986 bis 1991, St. Augustin 1996).
Die Übergangsvorschrift des Verordnungsentwurfs erscheint auch aus einem anderen Grunde verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Es kann nicht ausgeschlossen werden – wobei allerdings weitere Ermittlungen erforderlich wären -, daß die Stichtagsregelung bei der Berufskrankheit Nr. 4111 dazu führt, daß die Ablehnung der Schädigung nach der Stichtagsregelung der Regelfall und die Entschädigung nach der BK-Liste die seltene Ausnahme wird. Angesichts der großen Fortschritte in der Staubbekämpfung im untertägigen Steinkohlenbergbau liegt die Annahme nahe, daß die arbeitstechnischen Voraussetzungen – 100 Staubjahre – im Regelfall nur von solchen Bergleuten erfüllt werden, deren Beschäftigung im Steinkohlenbergbau schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückliegt. Die Entschädigung wäre dann im wesentlichen auf solche Fälle beschränkt, bei denen die chronisch obstruktive Bronchitis bzw. das Emphysem nach einer längeren Latenzperiode auftritt.
Der Entschädigung des Klägers steht schließlich nicht die Verjährung der Forderung entgegen. Nach § 45 Abs. 1 des 1. Buchs des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – (SGB I) verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Für die Hemmung, die Unterbrechung und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sinngemäß (§ 45 Abs. 2 SGB I). Die Verjährung ist im Sinne der § 208 ff. BGB unterbrochen. Nach § 45 Abs. 3 Satz 1 wird die Verjährung auch durch den schriftlichen An trag auf Sozialleistungen oder durch die Erhebung eines Widerspruchs unterbrochen. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat am 17.07.1993 gegen den Bescheid vom 25.05.1993, mit dem die Gewährung von Verletztenrente wegen einer Silikose abgelehnt worden war, Widerspruch eingelegt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Leistungsansprüche des Klägers aus der Zeit ab 1989 noch nicht verjährt.
Der Widerspruch des Klägers beschränkte sich nicht allein auf die Gewährung von Verletztenrente wegen einer Silikose. Das Begehren des Klägers ist vielmehr dahin zu verstehen, daß es ihm um die Entschädigung der bei ihm bestehenden Atemwegserkrankungen unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt ankam. Zu einer solchen umfassen den Überprüfung ist die Beklagte auch nach dem Verwaltungsverfahrensrecht verpflichtet. Nach § 20 Abs. 2 des 10. Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) hat sie nämlich, alle für den Einzelfall bedeutsamen und gerade auch die für den Kläger günstigen Umstände zu berücksichtigen.
Der Klage ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes stattzugeben.
Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen.
Erstellt am: 11.08.2003
Zuletzt verändert am: 11.08.2003