Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.10.1996 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob der Beklagte den Grad der Behinderung – GdB – herabsetzen und den Nachteilsausgleich "H" entziehen durfte.
Der 1963 geborene Kläger arbeitet in seinem nach Abschluß der Hauptschule erlernten Beruf als Gärtner.
Nach Auswertung von Arztbriefen der V. Kinderklinik D. aus dem Jahr 1977 hatte der Beklagte mit Bescheid vom 04.07.1978 wegen der Behinderung "Cerebrales Anfallsleiden" einen GdB (damals Minderung der Erwerbsfähigkeit – MdE -) von 80 sowie die Voraussetzungen u.a. für den Nachteilsausgleich "H" festgestellt.
Im Rahmen einer von Amts wegen eingeleiteten Überprüfung zog der Beklagte Arztbriefe der V. Kinderklinik D. aus dem Jahr 1994 sowie einen Befundbericht des praktischen Arztes Dr. P. von September 1994 bei. Nach Auswertung dieser Berichte setzte der Beklagte nach vorangegangener Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 10.11.1994 unter Aberkennung sämtlicher Nachteilsausgleiche den GdB auf zunächst 50 herab. Im anschließenden Widerspruchsverfahren wurde nach Beiziehung und Auswertung eines Berichtes von Prof. Dr. A., Chefarzt der Neuropädiatrischen Abteilung der V. Kinderklinik D., von Dezember 1994 mit Teilabhilfebescheid vom 14.03.1995 ein GdB von nunmehr 60 festgestellt. Im übrigen wurde der Widerspruch – nachdem dem Kläger die im Widerspruchsverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen zugeleitet worden waren – mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.1995 zurückgewiesen.
Im Klageverfahren hat der Kläger begehrt, einen GdB von mindestens 80 sowie die Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "B" und "H" festzustellen.
Nach Beiziehung eines Berichtes von Dr. P. von Januar 1996 hat das Sozialgericht von Prof. Dr. D., Chefarzt der Neurologischen Klinik der Krankenanstalten B., ein Gutachten von April 1996 eingeholt. Der Sachverständige hat den GdB für das festgestellte Anfallsleiden auf 50 eingeschätzt und die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen verneint. Zu den vom Kläger hiergegen unter Vorlage einer Bescheinigung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ö. von Juni 1996 erhobenen Einwendungen ist vom Sachverständigen noch eine ergänzende Stellungnahme von August 1996 eingeholt worden. Hierin hat Prof. Dr. D. an seiner Beurteilung festgehalten und eine neuropsychologische Zusatzbegutachtung für nicht erforderlich erachtet.
Mit Urteil vom 25.10.1996 hat das Sozialgericht im wesentlichen gestützt auf das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. D. die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die am 21.11.1996 eingelegte Berufung des Klägers. Er meint, die Herabsetzung des GdB und die Entziehung des Nachteilsausgleichs "H" seien schon deshalb rechtswidrig, weil keine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Sozialgesetzbuch – SGB – X eingetreten sei. Abgesehen hiervon hält er unter Hinweis auf die in erster Instanz vorgelegten Bescheinigungen des Dr. Ö. und eine neuerliche Bescheinigung von Februar 1997 den vom Sachverständigen vorgeschlagenen GdB für unzutreffend. Neben dem Anfallsleiden seien deutliche psychoorganische Veränderungen zu berücksichtigen. die seine kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Weiterhin ist er der Auffassung – abgesehen davon, daß auch insoweit keine Änderung eingetreten sei -, daß die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "H" zumindest insoweit erfüllt seien, als eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 25.10.1996 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 10.11.1994 und 14.03.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.1995 zu verurteilen, einen GdB von 80 sowie den Nachteilsausgleich "Hilflosigkeit" festzustellen, hilfsweise ein psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Im Berufungsverfahren ist von Prof. Dr. W., Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der W. W. -U. M., ein Bericht über eine am 06.01.1997 durchgeführte ambulante Untersuchung beigezogen worden. Die testpsychologische Untersuchung ergab intellektuelle und kognitive Gesamtfertigkeiten im IQ-Bereich von 70 (HAWIE-R-Test).
Auf die Inhalte der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Der Beklagte durfte den GdB auf 60 herabsetzen und den Nachteilsausgleich "H" entziehen. Denn nach den nunmehr feststellbaren Befunden sind weder ein höherer GdB als 60 noch die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "H" gerechtfertigt.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere unter Berücksichtigung der den Senat überzeugenden Bewertung des GdB durch den Sachverständigen Prof. Dr. D. muß davon ausgegangen werden, daß sich die gesundheitlichen Verhältnisse, die 1978 zur Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "H" geführt hatten, im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X wesentlich geändert haben.
Werden die nachteiligen Auswirkungen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes wesentlich geringer bewertet als in einem einige Zeit vorher erlassenen Verwaltungsakt, besteht die Vermutung, daß sie geringer geworden sind und nicht ursprünglich unrichtig bewertet worden sind (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 25).
Diese bereits aus der unterschiedlichen GdB-Bewertung folgende Vermutung ließe sich nur dann widerlegen, wenn die 1978 getroffenen Feststellungen als nachweislich unrichtig angesehen werden könnten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Da es sich bei den getroffenen Feststellungen um Wertungsentscheidungen im Rahmen der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz – AP – handelt, kann ihre ursprüngliche Unrichtigkeit nur dann angenommen werden, wenn die frühere Entscheidung einen gravierenden Wertungsfehler enthält oder nach den Anhaltspunkten unter keinem Aspekt haltbar erscheint (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 5). Hierfür finden sich angesichts des Inhalts der Entscheidung aus dem Jahre 1978 zugrundeliegenden medizinischen Unterlagen keine durchgreifenden Anhaltspunkte. Zu berücksichtigen ist auch, daß der Kläger 1978 gerade 15 Jahre alt war und sich die auf dem Anfallsleiden beruhenden Funktionseinschränkungen bzw. ihre Bewertung bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich anders darstellen können als im Erwachsenenalter (vgl. für "H" AP 1996 S. 39, entsprechend auch AP 1977 S. 14 bzw. AP 1983 S. 32).
Nach den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. ist unter Berücksichtigung des in den AP (S. 55) für das Anfallsleiden vorgegebenen Bewertungsrahmens jedenfalls ein höherer GdB als 60 nicht gerechtfertigt. Insbesondere hat sich der Sachverständige auch mit den vom Kläger eingereichten Bescheinigungen des Dr. Ö. auseinandergesetzt.
Die im Berufungsverfahren vorgelegte weitere Bescheinigung des Dr. Ö. und der beigezogene Bericht des Prof. Dr. W. rechtfertigen weder eine andere Beurteilung noch geben sie Anlaß zu den vom Kläger angeregten weiteren Ermittlungen. Angesichts der bei der Untersuchung durch den Sachverständigen feststellbaren Befunde ist auch hiernach eine für den GdB relevante Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung, die nach den AP (S. 57) grundsätzlich bei einem IQ von 70 bis 60 in Betracht kommt, nicht erkennbar.
Die von Prof. Dr. W. ermittelten intellektuellen und kognitiven Gesamtfertigkeiten im IQ-Bereich von 70 liegen noch – wenn auch im unteren – Normalbereich. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß die GdB-Beurteilung der Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung nicht allein vom Ausmaß der Intelligenzminderung und von diesbezüglichen Testergebnissen ausgehen darf. Daneben muß stets auch die Persönlichkeitsentwicklung auf affektivem und emotionalem Gebiet, wie auch im Bereich des Antriebs und der Prägung durch die Umwelt mit allen Auswirkungen auf die sozialen Einordnungsmöglichkeiten berücksichtigt werden (AP S. 57). Insoweit zeigten sich anläßlich der Untersuchung durch den Sachverständigen keine wesentlichen von der Norm abweichenden Besonderheiten. Vielmehr waren Antriebsverhalten, Grundstimmung und affektive Ansprechbarkeit unauffällig. Unter Berücksichtigung des schulischen und beruflichen Werdeganges sind auch soziale Einordnungsschwierigkeiten nicht erkennbar. Der Kläger hat die Schule ohne Wiederholungen durchlaufen und seinen Ausbildungsberuf als Gärtner auf normalem Wege erreicht. Angesichts dieser Gesamtumstände und der von Prof. Dr. D. festgestellten Befunde hält auch der Senat entsprechend der Auffassung des Sachverständigen eine psychiatrische Zusatzbegutachtung für nicht erforderlich. Anhaltspunkte dafür, daß sich der Gesundheitszustand des Klägers seit der Untersuchung durch den Sachverständigen verschlechtert hat, sind nicht vorhanden.
Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "H" sind aus den vom Sozialgericht angeführten Gründen – auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird – nicht erfüllt. Nach den AP (S. 38) kann Hilflosigkeit – anders als bei Kindern und Jugendlichen – bei einem Anfallsleiden in der Regel erst dann angenommen werden, wenn diese Behinderung allein einen GdB von 100 bedingt. Diesem Wertungsmaßstab der AP würde es widersprechen, wenn man bereits bei einem GdB von allenfalls 60 – wie hier – Hilflosigkeit bejahen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz.
Es besteht kein Anlaß, die Revision zuzulassen.
Erstellt am: 17.08.2003
Zuletzt verändert am: 17.08.2003