Die Klagen werden abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit dem Fertigarzneimittel Sativex®.
Die im Juli 1959 geborene Klägerin, die seit Jahrzehnten ua unter einem Morbus Little – also einer infantilen Zerebralparese mit einer bei der Klägerin erheblich ausgeprägten Paraspastik der Beine, die mit einer schweren Gangstörung einhergeht – leidet, beantragte bei der Beklagten – befundgestützt – die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Sativex®. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07. Juni 2016 ab. Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 15. Juni 2016 Widerspruch. Während des Widerspruchsverfahrens wandte sich die Beklagte mit Schreiben vom 20. Juni 2016 an die Klägerin und führte unter Verweis auf § 45 SGB X aus, die aufgrund des Ablaufs der Bearbeitungsfristen nach § 13 Abs 3a SGB V eingetretene fiktive Genehmigung des Antrages werde aufgehoben. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. November 2016 wies der Beklagte zudem den Widerspruch der Klägerin gegen die ablehnende sozialverwaltungsbehördliche Entscheidung vom 07. Juni 2016 als unbegründet zurück. Zur Begründung ihrer Entscheidung führte die Beklagte unter Berufung auf die von ihr eingeholten sozialmedizinischen Stellungnahmen des MDK im Wesentlichen aus, die zur Verfügung stehenden medikamentösen und nicht medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten seien nach den vorliegenden Unterlagen nicht ausgeschöpft. Darüber hinaus fehle es für die Behandlung der Erkrankungen der Klägerin an einer qualifizierten Studienlage zur Wirksamkeit und Sicherheit einer Behandlung mit Sativex®. Auch aus § 13 Abs 3a S 6 SGB V könne kein Anspruch folgen, weil die Genehmigungsfiktion nur eingreife, wenn der Antrag eine grundsätzlich von der Kasse innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung geschuldete Leistung betreffe und sie erforderlich sei. Diese Voraussetzungen seien aber aus den dargelegten Gründen nicht erfüllt.
Mit Schriftsatz vom 02. Dezember 2016 – bei dem Sozialgericht Neuruppin eingegangen am gleichen Tage – hat die Klägerin bei dem erkennenden Gericht Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Versorgung mit dem Arzneimittel Sativex® weiter verfolgt. Sie bringt – befundgestützt – im Wesentlichen vor, entgegen der Auffassung der Beklagten seien die Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft, was die die Klägerin behandelnden Ärzte auch bezeugen könnten. Darüber hinaus folge ein Anspruch der Klägerin auch bereits daraus, dass die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs 3a S 6 SGB V eingetreten sei. Hierbei sei es auch unbeachtlich, ob die begehrte Leistung auch zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre. Schließlich folge mit Blick auf die von Dr. med. Pagel, von DM Hübel sowie von Dr. med. Andrich vorgenommenen gewissenhaften Abwägungen ein Anspruch jedenfalls nunmehr auch aus der Regelung des § 31 Abs 6 S 1 b) SGB V, weil in der hier vorliegenden Anfechtungs- und Verpflichtungssituation Änderungen der Rechtslage im Laufe des gerichtlichen Verfahrens wegen des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes des Tages der mündlichen Verhandlung zu Lasten der Beklagten gingen. Soweit sich die Beklagte auf eine vermeintliche Aufhebung der Genehmigungsfiktion mit Bescheid vom 27. Juni 2016 berufe, handele es sich hierbei lediglich um ein Informationsschreiben ohne Regelungsgehalt. Für den Fall, dass es sich doch um einen Verwaltungsakt handele, sei dieser Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden und dessen Rechtswidrigkeit auch im Klageverfahren zu berücksichtigen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2017, mit dem sie den von der Klägerin hilfsweise gestellten Antrag nach § 44 SGB X hinsichtlich des Bescheides vom 27. Juni 2016 abgelehnt habe, sei ebenfalls Gegenstand des Klageverfahrens geworden.
Die Klägerin beantragt (nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß),
die Beklagte unter Aufhebung der mit ihrem Bescheid vom 07. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2016 verlautbarten ablehnenden Verfügung zu verurteilen, sie mit dem ärztlich verordneten Fertigarzneimittel Sativex® zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrages ergänzt und vertieft sie ihre Ausführungen ihres – auch angegriffenen – Widerspruchsbescheides vom 16. November 2016. Daneben führt sie unter Verweis auf eine weitere sozialmedizinische Stellungnahme des MDK aus, es sei weiterhin nicht nachvollziehbar, dass alle Antispatika zum Einsatz gekommen seien. Im Übrigen sei die eingetretene Genehmigungsfiktion mit Bescheid vom 27. Juni 2016 aufgehoben worden. Den hilfsweise von der Klägerin gestellten Antrag auf Überprüfung dieser Entscheidung gemäß § 44 SGB X habe die Beklagte mit Bescheid vom 28. Dezember 2017 rechtmäßig abgelehnt. Der Klägerin stehe auch aus § 31 Abs 6 SGB V kein Anspruch zu, weil für die schwerwiegende Erkrankung der Klägerin den medizinischen Standards entsprechende Leistungen zur Verfügung stünden. Den vorliegenden Unterlagen sei auch keine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärzte im Sinne von § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b) SGB V zu entnehmen, dass eine entsprechende Therapie bei der Klägerin nicht zur Anwendung kommen könne. Im Übrigen könne eine solche begründete Einschätzung rechtlich wirksam nur im Sozialverwaltungsverfahren vorgelegt werden, im sozialgerichtlichen Verfahren sei allein entscheidungserheblich, ob der behandelnde Vertragsarzt eine "begründete Einschätzung" abgegeben habe. Fehle es daran, sei die in § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b) SGB V genannte Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt (Verweis ua auf Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Februar 2019 – L 11 KR 240/18 B ER, RdNr 40 ff und RdNr 69 ff sowie RdNr 74).
Das Gericht hat den medizinischen Sachverhalt durch die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Sachverständigengutachtens des Dr. med. K. vom 28. Februar 2019, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 21. Februar 2019 erstattet hat, weiter aufgeklärt.
Das Gericht hat die Beteiligten zuletzt mit Verfügung vom 17. März 2020 zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Prozessakte sowie auf die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Klagen, über die die Kammer gemäß § 105 Abs 1 S 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden konnte, weil die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, der Sachverhalt geklärt ist, die Beteiligten gemäß § 105 Abs 1 S 2 SGG zuvor mit gerichtlicher Verfügung vom 17. März 2020 zu dieser beabsichtigten Entscheidungsform ordnungsgemäß angehört worden sind, eine ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten hierzu nicht erforderlich ist und weil das Gericht – ebenso wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung – weder zur vorherigen Darstellung seiner Rechtsansicht (vgl Bundessozialgericht, Beschluss vom 03. April 2014 – B 2 U 308/13 B, RdNr 8 mwN) noch zu einem vorherigen umfassenden Rechtsgespräch verpflichtet ist (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R, RdNr 23), haben keinen Erfolg.
1. Das – auf Aufhebung der mit dem Bescheid der Beklagten vom 07. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2016 verlautbarten ablehnenden Verfügung und auf Verurteilung der Beklagten zur Versorgung der Klägerin mit dem ärztlich verordneten Fertigarzneimittel Sativex® gerichtete – Begehren ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (vgl § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG, § 54 Abs 4 SGG sowie § 56 SGG) und auch im Übrigen zulässig, wobei allerdings – entgegen der Auffassung der Klägerin – die Verlautbarung der Beklagten vom 20. Juni 2016, die als Verwaltungsakt im Sinne des § 31 S 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zu klassifizieren ist, weil die Beklagte eine Regelung mit Außenwirkung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts getroffen hat, mit der sie die fiktive Genehmigung des Antrages der Klägerin aufgehoben hat, nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens und damit auch nicht Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist. Denn die Beklagte hat die streitige Ablehnungsentscheidung vom 07. Juni 2016 ersichtlich nicht im Sinne des § 86 SGG abgeändert. Gleiches gilt erst recht für die im Rahmen des Überprüfungsverfahrens hinsichtlich der Aufhebungsverfügung vom 20. Juni 2016 ergangene sozialverwaltungsbehördliche Entscheidung der Beklagten vom 28. Dezember 2017. Diese Entscheidung hat die hier angegriffene Ablehnungsverfügung vom 07. Juni 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2016 weder abgeändert noch ersetzt (vgl § 96 Abs 1 SGG).
2. Die – so verstandenen und nach alledem im genannten Umfang – zulässigen Klagen sind jedoch unbegründet.
a) Die mit der Leistungsklage kombinierte Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG ist unbegründet, weil die Beklagte mit den angegriffenen Verfügungen zu Recht entschieden hat, dass der Klägerin kein Anspruch auf die begehrte Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Sativex® zusteht, was diese zudem auch nicht im Sinne des § 54 Abs 2 S 1 SGG in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten beschwert.
aa) Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung des ärztlich verordneten Fertigarzneimittels Sativex® weder nach allgemeinen Grundsätzen der Krankenbehandlung (dazu bb)) noch nach den Grundsätzen des Off-Label-Use (dazu cc)) oder des Seltenheitsfalls (dazu dd)). Ein Anspruch besteht auch nicht aus § 2 Abs 1a SGB V (dazu ee)) oder – mit Wirkung ab dem 10. März 2017 – aus § 31 Abs 6 S 1 SGB V (dazu ff)). Schließlich kann die Klägerin auch keinen Anspruch auf Grundlage einer wirksamen Genehmigungsfiktion herleiten (dazu gg)).
bb) Die Klägerin kann von der Beklagten die Behandlung ihrer infantilen Zerebralparese mit einer bei ihr erheblich ausgeprägten Paraspastik der Beine mit dem Fertigarzneimittel Sativex® als Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 Regelung 1 iVm § 31 Abs 1 S 1 SGB V) mangels indikationsbezogener Zulassung nicht beanspruchen. Nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 Regelung 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V und § 12 Abs 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB V und § 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB V, § 31 Abs 1 S 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 des Arzneimittelgesetzes) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 11 mwN). Das begehrte Fertigarzneimittel Sativex® ist zulassungspflichtig. Es handelt sich um ein Mundspray mit Cannabis sativ L- Blätter-/Blütenextrakt als Wirkstoff und flüssigem Kohlendioxid als Träger. Es ist ein (nur) zur Verbesserung von Symptomen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose zugelassenes Fertigarzneimittel (vgl dazu auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Dezember 2019 – L 1 KR 365/19 B ER, zitiert nach http://www.sozialgerichtsbarkeit.de, dort der fünftletzte Absatz). Es hat aber weder in Deutschland noch EU-weit die erforderliche Arzneimittelzulassung für eine Therapie der infantilen Zerebralparese, was auch die Klägerin nicht in Abrede stellt und worauf auch der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. med. Kalus in seinem Sachverständigengutachten vom 28. Februar 2019 hingewiesen hat und woran die Kammer im Übrigen auch keinen Zweifel hat.
cc) Die Klägerin kann eine Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Sativex® allerdings auch im Rahmen eines Off-Label-Use auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung weder nach der Regelung des § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) und im Falle von klinischen Studien regelt (dazu aaa)), noch nach allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung beanspruchen (dazu bbb)).
aaa) Der GBA hat eine Therapie zur Behandlung einer infantilen Zerebralparese nicht empfohlen. Nach § 92 Abs 1 S 1 SGB V und § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Gemäß § 91 Abs 6 SGB V sind die Beschlüsse des GBA mit Ausnahme der Beschlüsse zu Entscheidungen nach § 136d SGB V für die Träger im Sinne des § 91 Abs 1 S 1 SGB V, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich. Gestützt auf § 35c Abs 1 SGB V enthalten Abschnitt K und Anlage VI der Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) vom 18. Dezember 2008 / 22. Januar 2009, BAnz Nr. 49 (Beilage) vom 31. März 2009, zuletzt geändert am 20. Februar 2020, BAnz AT vom 09. April 2020 B4, mWv 10. April 2020) Einzelheiten über die "Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" und führen Wirkstoffe als verordnungsfähig (Anlage VI Teil A) bzw als nicht verordnungsfähig (Anlage VI Teil B) auf. Die AM-RL sieht bislang in Anlage VI Teil A eine entsprechende Therapie nicht vor. Auf die Frage einer verzögerten Bearbeitung kommt es insoweit nicht an (vgl § 35c Abs 1 SGB V gegenüber § 135 Abs 1 S 4 SGB V). Eine Verzögerung in der Bearbeitung könnte nur zur Anwendung der allgemeinen Regeln des Off-Label-Use führen (vgl dazu unten unter bbb)), nicht aber zu einer Zulassungsfiktion (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 13 mwN).
Auch die Voraussetzungen des § 35c Abs 2 SGB V sind nicht erfüllt. Danach haben Versicherte außerhalb des Anwendungsbereichs des § 35c Abs 1 SGB V unter weiteren Voraussetzungen Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln in klinischen Studien. Die Klägerin beansprucht die Versorgung indes nicht im Rahmen einer klinischen Studie.
bbb) Die Voraussetzungen der allgemeinen Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sind ebenfalls nicht erfüllt. Sie bleiben unberührt, wenn – wie hier – ein nicht in der AM-RL geregelter Off-Label-Use betroffen ist. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 15 mwN).
aaaa) Nach den nachvollziehbaren und in jeder Hinsicht überzeugenden Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. med. Kalus, denen die Kammer folgt und die sie ihrer Entscheidung zugrunde legt, liegt jedenfalls die zweite der genannten Voraussetzungen nicht vor. Insoweit hat der Sachverständige nach ausführlicher Anamneseerhebung, körperlicher Untersuchung der Klägerin und Befundauswertung überzeugend dargelegt, dass keineswegs festzustellen ist, dass die verfügbaren Therapieoptionen auch nur annähernd ausgeschöpft wurden. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sind bislang nicht einmal die beiden wichtigsten oral verfügbaren und in Deutschland zugelassenen antispastischen Medikamente (Baclofen und Tizanidin), die gegenüber dem begehrten Fertigarzneimittel ein deutlich unbedenklicheres Nebenwirkungsprofil aufweisen, in der empfohlenen Weise in hinreichender Dosierung und gegebenenfalls in Kombination eingesetzt worden. Neben diesen Therapiemöglichkeiten kommt nach den Erwägungen des Sachverständigen auch mit der Gabe von Botulinum-Neurotoxin A – ein den genannten oralen Antispastika in Wirksamkeit und mit Blick auf das Nebenwirkungsspektrum überlegenes – Muskelrelaxanspräparat in Betracht. Aus der nach der einmaligen Gabe im Jahre 2005 bei der Klägerin aufgetretenen Übelkeit kann nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen wegen der unterschiedlich am Markt erhältlichen Präparate eine bei der Klägerin vorliegende generelle Unverträglichkeit gegen Botulinumtoxin-Präparate bei weitem nicht abgeleitet werden. Diese können nach den Ausführungen des Sachverständigen auch erfolgversprechend mit weiteren nebenwirksamkeitsarmen Therapiestrategien wie aktivem Funktionstraining, redressierenden Behandlungen und funktioneller Elektrostimulation kombiniert werden. Darüber hinaus hat der Sachverständige ausführlich dargelegt, dass auch noch Pharmaka aus anderen Wirkstoffgruppen – auch miteinander kombinierbar – zur Verfügung stehen, die von der Klägerin bislang nicht oder in nicht hinreichender Dosierung eingenommen worden sind.
bbbb) Darüber hinaus fehlt es nach den Ausführungen des MDK in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 24. Mai 2016, an deren Richtigkeit die Kammer angesichts der gründlich vorgenommenen Auswertung des verfügbaren Studienmaterials insoweit keine Zweifel hat, auch an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht im Sinne der dritten tatbestandlichen Voraussetzung des Off-Label-Use. Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 16 mwN) und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht sein (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 16 mwN). Solche Erkenntnisse mit Relevanz für die Erkrankung der Klägerin bestehen nach den Erwägungen des MDK in der genannten sozialmedizinischen Stellungnahme bislang nicht.
dd) Anhaltspunkte dafür, dass ein Seltenheitsfall vorliegen könnte (vgl hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2018 – B 1 KR 4/17 R, RdNr 17 mwN), bestehen nicht, weil nicht erkennbar ist, dass das festgestellte Krankheitsbild der infantilen Zerebralparese aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar ist.
ee) Ein Anspruch der Klägerin folgt auch nicht aus der Regelung des § 2 Abs 1a S 1 SGB V, die die Vorgaben des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98 – (BVerfGE 115, 25 ff) normiert. Wenn und soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, muss die generelle Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs 1 SGB V) des Mittels ausnahmsweise bejaht werden, obwohl das Arzneimittel für die Behandlung der in Rede stehenden Erkrankung nicht zugelassen und deshalb von der Versorgung ausgeschlossen ist. Die Regelung setzt aber ua voraus, dass zu dieser Behandlung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht. Mit Blick auf die bereits dargelegten – nicht ausgeschöpften – Therapieoptionen fehlt es jedenfalls an dieser Voraussetzung, weshalb die Klägerin auch aus dieser Anspruchsgrundlage einen Anspruch nicht herleiten kann.
ff) aaa) Auch für den Zeitraum ab dem 10. März 2017 steht der Klägerin der geltend gemachte Sachleistungsanspruch nicht zu. Nach der aufgrund der mit Wirkung zum 10. März 2017 durch Art 4 Nr 2 des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 06. März 2017 (BGBl I S 403, 404f) – ohne Rückwirkung (vgl hierzu Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 14. Dezember 2017 – L 4 KR 349/15, RdNr 27 mwN) zum 10. März 2017 in Kraft getretenen Regelung des § 31 Abs. 6 S 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b SGB V, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Abs 3a S 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 31 Abs 6 S 2 SGB V und § 31 Abs 6 S 3 SGB V).
bbb) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Weder steht für die Behandlung der Krankheiten der Klägerin eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung (§ 31 Abs 6 S 1 Nr 1 a SGB V) noch liegt eine begründete vertragsärztliche Einschätzung darüber vor, dass eine solche – hier vorhandene – allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b SGB V).
aaaa) Wie bereits dargelegt, liegt nach den überzeugenden Erwägungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Sinne des § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 a SGB V zur Behandlung der Erkrankungen der Klägerin vor, die diese jedoch bei weitem noch nicht in hinreichender Art und Weise in Anspruch genommen hat.
bbbb) Auch liegt keine begründete vertragsärztliche Einschätzung im Sinne des § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b SGB V darüber vor, dass eine solche – hier vorhandene – allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b SGB V). Hierbei ist in Übereinstimmung mit der Auffassung des Beklagten zusätzlich zu beachten, dass eine solche begründete Einschätzung rechtlich wirksam nur im Sozialverwaltungsverfahren vorgelegt werden kann und dass im sozialgerichtlichen Verfahren allein entscheidungserheblich ist, ob der behandelnde Vertragsarzt eine "begründete Einschätzung" abgegeben hat. Fehlt es daran, ist die in § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b) SGB V genannte Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt.
Nachgängige Ermittlungen von Amts wegen können hieran nichts mehr ändern. Insbesondere etwaige Sachverständigengutachten sind schon begrifflich nicht in der Lage, die fehlende "begründete Einschätzung" des Vertragsarztes zu substituieren. Sie sollen dies auch nicht, denn auch die Gesetzesbegründung stellt auf den behandelnden Vertragsarzt und nicht auf etwaige Sachverständige oder Gutachter ab. Es geht nicht darum, uneingeschränkt die Voraussetzungen des Anspruches zu prüfen. Genau dies geschähe aber, wenn das Gericht die vom behandelnden Vertragsarzt im Sozialverwaltungsverfahren abzugebende "begründete Einschätzung" durch eigene Ermittlungen ersetzen würde. Das Gericht prüft nur, ob die in § 31 Abs 6 S 1 SGB V und § 31 Abs 6 S 2 SGB V normierten Voraussetzungen erfüllt sind. Bezogen auf § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b SGB V ist die Prüfkompetenz darauf reduziert, ob und inwieweit der behandelnde Vertragsarzt im Sozialverwaltungsverfahren eine begründete Einschätzung vorgelegt hat. Unerheblich ist, ob die Einschätzung medizinisch "richtig" oder "falsch" ist (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Februar 2019 – L 11 KR 240/18 B ER, RdNr 74).
Die aus Adjektiv und Substantiv bestehende Wortfolge in der Regelung des § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b) SGB V verdeutlicht insoweit zweierlei: Es muss eine Einschätzung sein und diese ist zu begründen. Weitere Anforderungen an die inhaltliche Qualität formuliert § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 b) SGB V wie folgt: Die Einschätzung muss die zu erwartenden Nebenwirkungen der allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung darstellen. Sodann ist der Krankheitszustand des Versicherten zu referieren. Schließlich muss die Einschätzung diese Parameter "abwägen", sich also dazu verhalten, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Ferner muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen und nicht nur Behauptungen aufstellen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Februar 2019 – L 11 KR 240/18 B ER, RdNr 71; vgl zu alledem auch Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16. Oktober 2017 – L 8 KR 366/17 B ER, RdNr 10 unter Hinweis auf Sozialgericht Wiesbaden, Beschluss vom 21. August 2017 – S 21 KR 225/17 ER).
cccc) Ausgehend hiervon genügen die im Sozialverwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Berichte, auf die es – wie aufgezeigt – allein ankommt, den Anforderungen des § 31 Abs 6 S 1 Nr 1b) SGB V nicht, worauf auch die Beklagte bereits zu Recht hingewiesen hat. Die im Sozialverwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Berichte stellen lediglich die Behauptung auf, dass alle Therapiemöglichkeiten bereits ausgeschöpft seien, ohne dies nachvollziehbar und schlüssig zu begründen. Insoweit fehlt es – auch hierauf hat der gerichtlich bestellte Sachverständige hingewiesen – schon an nachvollziehbaren Darlegungen dazu, in welchem Zeitraum und in welcher Dosierung die beiden wichtigsten oral verfügbaren und in Deutschland zugelassenen antispastischen Medikamente (Baclofen und Tizanidin), die gegenüber dem begehrten Fertigarzneimittel ein deutlich unbedenklicheres Nebenwirkungsprofil aufweisen, eingesetzt worden sind. Auch Nebenwirkungen der medikamentösen Therapieversuche werden in allen ärztlichen Unterlagen allenfalls behauptet, indessen nicht nachvollziehbar dargelegt und auch nicht zeitlich eingeordnet, so dass es auch an einer nachprüfbaren konkreten Abwägung fehlt, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann.
gg) Ein Anspruch der Klägerin folgt schließlich auch nicht aus der Fiktion einer Genehmigung im Sinne des § 13 Abs 3a S 6 SGB V, weil die Beklagte eine solche fiktiv erteilte Genehmigung mit ihrer sozialverwaltungsbehördlichen Entscheidung vom 20. Juni 2016 aufgehoben hat. Auf die Rechtmäßigkeit dieser – wie dargelegt – als Verwaltungsakt im Sinne des § 31 S 1 SGB X zu klassifizierenden sozialverwaltungsbehördlichen Entscheidung kommt es – entgegen der Auffassung der Klägerin – schon deshalb nicht an, weil der Verwaltungsakt bestandskräftig und damit für die Beteiligten und das Gericht bindend geworden ist (vgl § 77 SGG). Die insoweit fehlende Rechtsbehelfsbelehrung hat – worauf auch die Beklagte bereits zu Recht hingewiesen hat – lediglich die Rechtsbehelfsfrist auf ein Jahr verlängert (vgl § 84 Abs 2 S 3 SGG iVm § 66 Abs 2 S 1 SGG). Weil die Klägerin während der laufenden Rechtsbehelfsfrist keinen Widerspruch erhoben hat, muss sie sich nunmehr die Bindungswirkung der die fiktive Genehmigung aufhebenden sozialverwaltungsbehördlichen Entscheidung der Beklagten entgegen halten lassen und kann deshalb aus ihr auch keinen Anspruch herleiten.
b) Wenn nach alledem die Anfechtungsklage unbegründet ist, gilt Gleiches auch für die mit ihr kombinierte Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 4 SGG, weil in Verfahren der vorliegenden Art eine zulässige und begründete Leistungsklage wegen des der Kombination immanenten Stufenverhältnisses ihrerseits eine zulässige und begründete Anfechtungsklage voraussetzt und weil zugunsten der Klägerin – wie aufgezeigt – ein Anspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Sativex® nicht besteht.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 193 Abs 1 S 1 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass die Beteiligten insgesamt einander keine Kosten zu erstatten haben, weil die Klägerin mit ihrem Begehren im Klageverfahren vollumfänglich unterlag.
4. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 183 S 1 SGG).
Rechtsmittelbelehrung
( …)
( …)
Richter am Sozialgericht
Erstellt am: 15.07.2020
Zuletzt verändert am: 23.12.2024