Die mit dem Bescheid des Beklagten vom 07. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2013 verlautbarte Aufhebungsentscheidung des Beklagten wird aufgehoben.
Der Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des sozialgerichtlichen Klageverfahrens dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten.
Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte zu Recht zuvor gegenüber der Klägerin nach Maßgabe der Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) ergangene bewilligende Leistungsverfügungen für den Zeitraum vom 01. September 2013 bis zum 28. Februar 2014 aufgehoben hat.
Auf ihren entsprechenden Fortzahlungsantrag gewährte der Beklagte der Klägerin und ihrem Sohn mit bestandskräftig gewordenen Bewilligungsverfügungen vom 17. Mai 2013 in der Fassung der Änderungsverfügungen vom 06. August 2013 passive Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach den Bestimmungen des SGB II für den Zeitraum vom 01. Juni 2013 bis zum 28. Februar 2014 und berücksichtigte hierbei auch einen Mehrbedarf für Alleinerziehende.
Aufgrund eines am 02. Juli 2013 bei dem Beklagten eingegangenen anonymen Hinweises führte er am 23. Juli 2013 bei der Klägerin einen Hausbesuch durch. Daneben erreichte den Beklagten am 25. Juli 2013 eine schriftliche Erklärung des Herrn A. vom 16. Juli 2013 zu dem Bestehen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft mit der Klägerin. Hierin führte er ua aus, er lebe nicht mit der Klägerin zusammen, würde sich aber um ihren Sohn kümmern, mit ihm spielen und viel gemeinsam unternehmen.
Ohne die Klägerin zuvor anzuhören, hob der Beklagte mit Verfügung vom 07. August 2013 seine bewilligenden Verfügungen vom 17. Mai 2013 in Gestalt der Änderungsverfügungen vom 06. August 2013 – gestützt auf die Regelung des § 48 Abs 1 S 1 SGB X – mit Wirkung ab dem 01. September 2013 im Umfang des bisher der Klägerin gewährten Mehrbedarfs für Alleinerziehende auf. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Klägerin habe bei dem Hausbesuch zum Ausdruck gebracht, mit Herrn A. in eine gemeinsame Wohnung ziehen zu wollen, Herr A. würde viel Zeit in der Wohnung der Klägerin verbringen und beschäftige sich auch mit dem Sohn der Klägerin.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 07. August 2013 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. November 2013 als unbegründet zurückwies. Zur Begründung seiner Entscheidung führt er im Wesentlichen aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfes für Alleinerziehung, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21 Abs 3 SGB II nicht vorlägen. Herr A. habe angegeben, er lebe zwar nicht mit der Klägerin zusammen, kümmere sich aber um deren Sohn, spiele und unternehme viel gemeinsam mit ihm. Daraus sei zu schlussfolgern, dass die Klägerin bei Fragen der Erziehung und Pflege nicht allein sei. Es widerspreche der Lebenserfahrung, wollte man annehmen, dass bei derartigen Wohnverhältnissen, bei denen die Klägerin und Herr A. nebeneinander wohnten, keine Absprachen und Abstimmungen hinsichtlich der Kindeserziehung stattfänden.
Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2013 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Neuruppin Klage erhoben. Zur Begründung ihres auf Aufhebung der sie belastenden Verfügung gerichteten Begehrens führt Sie im Wesentlichen aus, der Beklagte habe es unterlassen, zu den Voraussetzungen des § 21 Abs 3 SGB II hinreichende tatsächliche Feststellungen zu treffen. Bei Würdigung der gesamten Umstände und der insoweit eindeutigen und übereinstimmenden Angaben der Betroffenen könne von einer nachhaltigen Entlastung der Klägerin bei Pflege und Erziehung nicht ausgegangen werden. Die Klägerin habe zu keinem Zeitpunkt eine wesentliche Mitwirkung des Herrn A. bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes angegeben. Auch dessen Angaben in seinem Schreiben vom 16. Juli 2013 trügen eine derartige Annahme in keinster Weise. Von einer nachhaltigen Entlastung könne jedenfalls nicht schon dann ausgegangen werden, wenn ein Partner mit dem Kind seiner Partnerin spielt und man gemeinsam – also mit der Klägerin und ihrem Sohn – etwas unternehme; zeitliche Freiräume entstünden dadurch für die Klägerin gerade nicht.
Die Klägerin beantragt (nach einem gerichtlichen Hinweis und nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß),
die mit dem Bescheid des Beklagten vom 07. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2013 verlautbarte Aufhebungsentscheidung aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung seines Antrages vertieft er im Wesentlichen seine Ausführungen in seinem – auch – angegriffenen Widerspruchsbescheid vom 19. November 2013.
Nach entsprechendem Hinweis des Gerichts hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 07. April 2020 zu dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs 2 S 3 SGB X iVm § 330 Abs 2 SGB III gesondert an und führte hierzu im Klageverfahren ergänzend aus, sofern die gewählte Ermächtigungsgrundlage aus § 48 SGB X nicht einschlägig sei, komme eine Umdeutung in eine Aufhebung nach § 45 Abs 2 SGB X in Betracht. Dies sei mit Blick auf das identische Aufhebungsziel zulässig. Es werde davon ausgegangen, dass der Klägerin die fehlende Anspruchsberechtigung bewusst gewesen sei bzw sie erkennen habe können, dass ihr ein Mehrbedarf für Alleinerziehende nicht zustehe, weil sie mit Herrn A. seit dem 25. Juni 2012 verlobt gewesen sei und dieser sich regelmäßig und häufig in der Wohnung der Klägerin aufgehalten und sich auch um ihren Sohn gekümmert habe.
Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 12. März 2020 sowie mit Verfügung vom 28. Mai 2020 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Die Prozessakte und die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird ergänzend auf den Inhalt der Prozess- und der Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage, über die die Kammer gemäß § 105 Abs 1 S 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden konnte, weil die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, der Sachverhalt geklärt ist, die Beteiligten gemäß § 105 Abs 1 S 2 SGG zuvor mit der gerichtlichen Verfügung vom 12. März 2020 sowie mit gerichtlicher Verfügung vom 28. Mai 2020 zu dieser beabsichtigten Entscheidungsform ordnungsgemäß angehört worden sind, eine ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten hierzu entgegen der Auffassung des Beklagten nicht erforderlich ist und weil das Gericht – ebenso wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung – weder zur vorherigen Darstellung seiner Rechtsansicht (vgl Bundessozialgericht, Beschluss vom 03. April 2014 – B 2 U 308/13 B, RdNr 8 mwN) noch zu einem vorherigen umfassenden Rechtsgespräch verpflichtet ist (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R, RdNr 23), hat Erfolg.
1. Gegenstand des Klageverfahrens ist die in der Antragstellung genannte Verfügung des Beklagten, mit der dieser seine mit dem Bewilligungsbescheid vom 17. Mai 2013 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 06. August 2013 zuvor gewährten bewilligenden Rechtspositionen für den Zeitraum vom 01. September 2013 bis zum 28. Februar 2014 im Umfang des Mehrbedarfes für Alleinerziehende im Sinne des § 21 Abs 3 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) aufgehoben hat.
2. a) Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zu Recht mit einer (isolierten) Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG, weil der Beklagte in die bislang der Klägerin gewährten Rechtspositionen – nämlich in die bestandskräftig gewordenen bewilligenden Verfügungen – zu ihren Lasten eingegriffen hat und sie allein durch die Aufhebung dieser Verfügungen ihr Klageziel erreichen kann. Bereits durch die Aufhebung der mit der Aufhebungsentscheidung leben die ursprünglichen bewilligenden Verfügungen, mit denen der Beklagte der Klägerin passive Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Mehrbedarfes für Alleinerziehende gewährt hatte, wieder auf.
b) Die so verstandene statthafte Klage ist auch im Übrigen zulässig.
3. Die danach insgesamt zulässige Klage ist auch begründet. Die angegriffene Aufhebungsentscheidung des Beklagten vom 07. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2013 ist materiell rechtswidrig und beschwert die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG), weil die Feststellungen des Beklagten die zugrunde zu legenden Aufhebungsvoraussetzungen nicht tragen.
Weder die Voraussetzungen der ursprünglich von dem Beklagten zur Rechtfertigung seiner Aufhebungsentscheidung zugrunde gelegten Regelungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 S 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – ((SGB X; vgl dazu sogleich unter a)) noch der zuletzt von dem Beklagten zur Rechtfertigung seiner Entscheidung bemühten Regelungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II, des § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II, des § 330 Abs 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 bis Nr 3 SGB X (vgl dazu unter b)) – jeweils in der Fassung, die die genannten Vorschriften vor dem Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums hatten, weil in Rechtsstreitigkeiten über bereits abgeschlossene Bewilligungszeiträume das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden ist (sog Geltungszeitraumprinzip, vgl dazu nur Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2020 – B 4 AS 1/20 R, RdNr 13 mwN) – liegen hier vor.
a) Nach den von dem Beklagten zunächst herangezogenen Regelungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die zur Begründung seiner Entscheidung dargelegten Umstände, wonach die Klägerin bei dem Hausbesuch zum Ausdruck gebracht habe, mit Herrn A. in eine gemeinsame Wohnung ziehen zu wollen, Herr A. würde – auch nach seinen eigenen Angaben – viel Zeit in der Wohnung der Klägerin verbringen und beschäftige sich auch mit dem Sohn der Klägerin, woraus zu schlussfolgern sei, dass die Klägerin bei Fragen der Erziehung und Pflege nicht allein sei und es der Lebenserfahrung widerspreche, wollte man annehmen, dass bei derartigen Wohnverhältnissen, bei denen die Klägerin und Herr A. nebeneinander wohnten, keine Absprachen und Abstimmungen hinsichtlich der Kindeserziehung stattfänden, tragen indes nicht die Aufhebung der Leistungsbewilligungen auf der Grundlage der zunächst herangezogenen Rechtsgrundlagen, weil es an einer entscheidenden Voraussetzung für eine solche Aufhebung fehlt. Notwendig für die Aufhebung der Leistungsbewilligungsverfügungen ist nicht nur das Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfes für Alleinerziehende, sondern insbesondere auch, dass sich die rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse in Bezug auf die Gewährung des Mehrbedarfes für Alleinerziehende wesentlich verändert haben, die bei dem Erlass der bewilligenden Verfügungen vorgelegen haben und nunmehr nachträglich – also nach Bekanntgabe der bewilligenden Verfügungen – entfallen sind. Hierfür ist schon im Ausgangspunkt unter Berücksichtigung der zur Begründung seiner belastenden Entscheidung vorgebrachten Umstände nichts ersichtlich. Vielmehr geht der Beklagte offenbar selbst davon aus, dass sich Herr A. schon zeitlich weit vor Bekanntgabe der hier aufgehobenen bewilligenden Verfügungen in maßgeblichem Umfang an der Pflege und Erziehung des Sohnes der Klägerin beteiligt hat, weshalb der Beklagte seine Entscheidung auch nicht auf § 40 Abs 1 S 1 SGB II iVm § 48 Abs 1 S 1 SGB X stützen kann.
b) Soweit sich der Beklagte im Laufe des Klageverfahrens nach entsprechendem gerichtlichen Hinweis zur Rechtfertigung seiner aufhebenden Entscheidung auf die Regelungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II, des § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II, des § 330 Abs 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 bis Nr 3 SGB X gestützt hat, kann er allerdings auch hiermit nicht durchdringen. Nach den genannten Regelungen darf eine begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II, soweit sie rechtswidrig ist, auch nachdem sie unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 des § 45 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB X kann sich der Begünstigte dabei nicht auf sein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, ferner nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, und schließlich nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X nicht, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nach der genannten Vorschrift setzt nach deren systematischer Stellung im Gefüge der §§ 44 ff SGB X voraus, dass eine ursprüngliche Rechtswidrigkeit vorlag, der Verwaltungsakt also bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 15 mwN).
Diese Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsverfügungen sind dem hier maßgeblichen Bescheid vom 07. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2013 überhaupt nicht zu entnehmen; der Beklagte hat insoweit erst auf entsprechenden gerichtlichen Hinweis dargelegt, aus welchen Gründen er meint, dass die Voraussetzungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II, des § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II, des § 330 Abs 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 bis Nr 3 SGB X vorliegen.
Zwar hat der Beklagte unter zutreffendem Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl nur Urteil vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 21/10 R, RdNr 34), der auch die Kammer insoweit folgt, weil sie sie für überzeugend hält, zu Recht darauf hingewiesen, dass in Konstellationen wie der vorliegenden eine Auswechselung der Rechtsgrundlage zulässig ist, soweit der Verwaltungsakt dadurch nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird.
Indes wäre – unabhängig von der Zulässigkeit des Auswechselns der Rechtsgrundlage auch noch im sozialgerichtlichen Klageverfahren – weitere Aufhebungsvoraussetzung, dass schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der bewilligenden Verfügungen die Voraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfes für Alleinerziehende im Sinne des § 21 Abs 3 SGB II nicht (mehr) vorgelegen haben. Der Beklagte hat zwar – wie bereits dargelegt – zur Begründung seiner Aufhebungsentscheidung ausgeführt, Herr A. kümmere sich um den Sohn der Klägerin, spiele und unternehme viel gemeinsam mit ihm, woraus zu schlussfolgern sei, dass die Klägerin bei Fragen der Erziehung und Pflege nicht allein sei, dass es der Lebenserfahrung widerspreche, wollte man annehmen, dass bei derartigen Wohnverhältnissen, bei denen die Klägerin und Herr A. nebeneinander wohnten, keine Absprachen und Abstimmungen hinsichtlich der Kindeserziehung stattfänden und schließlich zuletzt, dass ihr ein Mehrbedarf für Alleinerziehende nicht zustehe, weil sie mit Herrn A. seit dem 25. Juni 2012 verlobt gewesen sei und dieser sich regelmäßig und häufig in der Wohnung der Klägerin aufgehalten und sich auch um ihren Sohn gekümmert habe. Indes trägt weder die Begründung des Beklagten in seinen Bescheiden noch die Begründung im sozialgerichtlichen Klageverfahren die erforderliche Aufhebungsvoraussetzung des Nichtvorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21 Abs 3 SGB II, wonach bei Personen, die mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern zusammenleben und allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, ein Mehrbedarf anzuerkennen ist. Zu dem konkreten Umfang der von dem Beklagten behaupteten Unterstützung der Klägerin bei der Pflege und Erziehung ihres Sohnes durch Herrn A., die das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals "allein" in Frage stellen könnte, hat der Beklagte keine konkreten Ermittlungen angestellt. Die Annahme des Beklagten, Herr A. trage einen erheblichen Anteil an der Pflege und Erziehung des Sohnes der Klägerin, was es rechtfertigen würde, die Leistungsbewilligungen im Umfang der Mehrbedarfsbewilligungen aufzuheben, war jedenfalls keine Feststellung aufgrund von konkreten Ermittlungen, sondern eine bloße Vermutung, auf die jedoch die Aufhebungsverfügung nicht gestützt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 17).
c) Dass es Aufgabe des Beklagten ist, alle Tatsachen zu ermitteln, die zum Erlass eines Verwaltungsakts notwendig sind, folgt aus dem in § 20 SGB X festgeschriebenen Untersuchungsgrundsatz, dessen Reichweite sich nach dem jeweiligen Gegenstand des Verwaltungsverfahrens richtet vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, § 20, RdNr 5). Es müssen somit alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Verwaltungsentscheidung wesentlich im Sinne von entscheidungserheblich sind. Ein Absehen von Ermittlungen ist nur zulässig, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, sie offenkundig ist oder als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar ist vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert, aaO, § 20, RdNr 15 sowie Luthe in jurisPK-SGB X, 2013, § 20, RdNr 13).
Dementsprechend durfte sich der Beklagte bei seiner Prüfung, ob die Aufhebungsvoraussetzungen der von ihm zugrunde gelegten Ermächtigungsgrundlagen für eine Aufhebung der Leistungsverfügungen im Umfang der Mehrbedarfsbewilligungen vorlagen, nicht allein auf Vermutungen nach der Durchführung eines Hausbesuches und der Zugrundelegung einer schriftlichen Erklärung des Herrn A. stützen. Es kam insoweit bei der Prüfung auch nicht darauf an, ob die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfes darlegen konnte, sondern in der Aufhebungssituation war der Beklagte gehalten, die erforderlichen Ermittlungen zum konkreten Umfang der Beteiligung des Herrn A. unter Berücksichtigung der hierfür von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der Regelung des § 21 Abs 3 SGB II entwickelten Maßstäbe (vgl hierzu zuletzt etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 11. Juli 2019 – B 14 AS 23/18 R, RdNr 15 mwN) anzustellen.
d) Nach den allgemeinen Regeln für die Darlegungs- und Beweislast gilt, dass derjenige die objektiven Tatsachen darlegen muss, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies betrifft sowohl das Vorhandensein von positiven, als auch das Fehlen von negativen Tatbestandsvoraussetzungen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Oktober 1957 – 10 RV 945/55). Damit trägt der Beklagte nicht nur die objektive Beweislast für die belastende Aufhebungsentscheidung (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 13. September 2006 – B 11a AL 13/06 R, RdNr 18; Bundessozialgericht, Urteil vom 20. Oktober 2005 – B 7a/7 AL 102/04 R, RdNr 13 ff sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 02. April 2009 – B 2 U 25/07 R), sondern er ist bereits im vorherigen Verfahrensstadium verpflichtet, die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Norm, auf die er seine Verwaltungsentscheidung stützt, zu ermitteln und entsprechend festzustellen, damit sich der Leistungsberechtigte im Verfahren mit seiner Argumentation auf die die Entscheidung tragenden Gründe einrichten kann.
Das ist auch deshalb nicht ausnahmsweise unbeachtlich, weil von Ermittlungen abgesehen werden konnte, da die ungeklärte Tatsache des Umfanges der Beteiligung des Herrn A. an der Erziehung und Pflege des Sohnes der Klägerin nicht oder nur unter unzumutbar erschwerten Bedingungen zu erreichen war. Vielmehr stand dem Beklagten gerade für Sachverhalte wie dem vorliegenden, die Möglichkeit zur Verfügung, sich zur Ermittlung des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen des Mehrbedarfsanspruches jedenfalls auch unmittelbar an den Dritten zu wenden.
Der Beklagte hätte insoweit Herrn A. und ggf weitere Personen als Zeugen vernehmen (vgl § 20 Abs 1 S 1 SGB X, § 20 Abs 1 S 2 SGB X, § 20 Abs 1 S 3 SGB X, § 20 Abs 2 SGB X sowie § 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB X) und so den konkreten Umfang der Beteiligung an der Pflege und Erziehung des Sohnes der Klägerin feststellen müssen. Dies gilt nach Auffassung der Kammer schon deshalb, weil die schriftliche Erklärung des A. vom 16. Juli 2013, auf die der Beklagte seine Entscheidung ganz wesentlich gestützt hat, zu dessen konkreten Pflege- und Erziehungsbeiträgen keine belastbaren Tatsachen erhält und der Beklagte verpflichtet ist, alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen (vgl § 20 Abs 2 SGB X). Darüber hinaus ist dem Beklagten angesichts seines eigenen Vorbringens im sozialgerichtlichen Klageverfahren neben Herrn A. offenbar mindestens eine weitere Person namentlich und mit ladungsfähiger Anschrift bekannt, die aufgrund der ihm obliegenden Verpflichtung zur umfassenden Sachverhaltsermittlung insoweit bereits von ihm als Zeugin hätte vernommen werden müssen.
e) Die Kammer war aufgrund ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG auch nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung des konkreten Beteiligungsumfangs an der Pflege und Erziehung des Sohnes der Klägerin als Voraussetzung für seine Aufhebungsverfügung hinsichtlich der bewilligenden Verfügungen nachzuholen.
aa) Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG und § 103 SGG); die beklagte Behörde kann deshalb im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe "nachschieben" (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 21. September 2000 – B 11 AL 7/00 R, BSGE 87, 132, 139 = SozR 3-4100 § 128 Nr 10 S 87 f: nicht nur "Kassation", sondern auch "Reformation"). Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf BSGE 3, 209, 216; BSGE 9, 277, 279 f; BSGE 29, 129, 132; BSGE 38, 157, 159; BSGE 87, 8, 12; Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 189 ff).
Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht anderenfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art 20 Abs 2 S 2 des Grundgesetzes) selbst aktiv in das Verwaltungsgeschehen eingreifen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280). Eine solche Änderung des "Wesens" eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280 sowie Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl 2015, § 113 RdNr 69), ist ua angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird, zB bei einem Streit um die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Laufe des Gerichtsverfahrens ein weiteres Element der Rentenberechnung vom Rentenversicherungsträger in Abrede gestellt wird (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 38, 157, 159; BSG SozR 1500 § 77 Nr 56), oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R, RdNr 16).
bb) Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs 2 SGB X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Dolderer, DÖV 1999, 104 ff) und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs 5 SGG), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs 4 SGG). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Juni 2015 – 1 C 2/15, RdNr 14 f zur gesetzlich ausdrücklich angeordneten Pflicht der Gerichte zur Nachermittlung neuer Sachverhalte im Asylrecht), wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt – bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen – mit einer wesentlich anderen Begründung Bestand hätte (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 190 f).
cc) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte erst das Gericht durch die Ermittlung des konkreten Beteiligungsumfanges an der Pflege und Erziehung des Sohnes der Klägerin, damit des (vermeintlichen) Fehlens der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Mehrbedarfes und damit die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts legen können und hätte damit das Wesen des angegriffenen Aufhebungsverwaltungsaktes verändert. Es handelt sich dabei auch nicht nur um eine Ergänzung des Sachverhalts, auf den der Beklagte seine Entscheidung gestützt hat, sondern um die umfassende Prüfung einer maßgeblichen Voraussetzung für die angefochtene Aufhebungsverfügung, die der Beklagte bisher nicht ausreichend ermittelt hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Sozialverwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 25).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 193 Abs 1 S 1 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass der Beklagte der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten hat, weil sie mit ihrem Begehren vollumfänglich obsiegte.
5. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 105 Abs 1 S 3 SGG iVm § 183 S 1 SGG).
Rechtsmittelbelehrung:
( …)
( …)
Richter am Sozialgericht
Erstellt am: 09.09.2020
Zuletzt verändert am: 23.12.2024