Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger ist der Auffassung, dass seine Conterganschädigung den Tatbestand des § 1 Absatz 1 bzw. Absatz 2 des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) erfüllt und begehrt eine entsprechende Feststellung.
Nach Angaben des Klägers wohnten seine Eltern zunächst in xxx und sind noch vor seiner Geburt am xxx nach xxx verzogen. Während der Schwangerschaft nahm seine Mutter etwa im xxx das Präparat "Contergan" der Firma Chemie Gründenthal GmBH ein. Seit Geburt leidet er unter einer Mehrfachbehinderung. Er erhält eine monatliche Opferrente durch die Conterganstiftung und ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannt.
Am 26.05.xx stellte der Kläger einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG. Mit Bescheid vom 08.06.xx lehnte der Beklagte ein solchen Anspruch ab, da es sich bei dem schädigenden Ereignis nicht um eine Gewalttat im Sinne des § 1 Absatz 1 Satz 1 OEG gehandelt habe.
Der Kläger erhob Widerspruch und trug vor, der angelegte Vorsatzbegriff sei zu eng und berücksichtige nicht die Form des dolus eventualis. Spätestens seit Sommer xx seien von der Chemie Grünenthal GmbH die Schäden an ungeborenen Leben billigend in Kauf genommen worden, was mehrfach dokumentiert sei. Die Bundesrepublik habe den Tatbestand der vorsätzlichen Schädigung durch Unterlassen ebenfalls erfüllt, da sie ihren Schutzpflichten gegenüber dem Volk durch fehlende Überwachung nicht nachgekommen sei. Ferner sei gemäß § 2 Absatz 2 Nr. 2 OEG die fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen einem vorsätzlichen Angriff nach § 1 Absatz 1 OEG gleichzusetzen.
Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.xx als sachlich unbegründet zurück. So könne Vorsatz auch nicht in Form des dolus eventualis als nachgewiesen angesehen werden. Der Fall eines mit gemeingefährlichen Mitteln begangenen Verbrechens liege ebenfalls nicht vor, da es bereits an einem Verbrechen fehle.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 14.08.xx erhobenen Klage, mit der er zunächst neben der Feststellung einer Anerkennung als Opfer im Sinne des OEG auch entsprechende Versorgungsleistungen begehrt. Im Anschluss an die übersandten Fragebögen für eine Bedürftigkeitsprüfung im Sinne des § 10 a OEG hält der als kaufmännischer Angestellter tätige Kläger die Klage allein hinsichtlich des Feststellungsantrages aufrecht.
Zur Begründung seiner Klage wiederholt der Kläger sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren und macht geltend, der Begriff des tätlichen Angriffs sei nicht dem Strafrecht zu entlehnen, sondern dem Entschädigungsrecht. Ferner sei der Zusatz "feindliche" Aktion ein superfluum, welches der lateinischen Regel "superfluum nocet" unterfalle. Eine unmittelbar auf die körperliche Integrität eines anderen abzielende Aktion sei denklogisch immer feindlich. Es liege Vorsatz in Form des dolus eventualis vor. Es sei davon auszugehen, dass zumindest der damalige Wissenschaftliche Direktor und Chefchemiker Dr. Mückter, um die Gefährlichkeit seines Tuns wusste und die letztlich entstandenen Schäden billigend in Kauf genommen habe. Mit Experimenten habe sich Mückter bereits während des Zweiten Weltkrieges ausgekannt. Dem Einstellungsbeschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Aachen im Contergan-Verfahren sei insbesondere auf den Seiten 74 ff. zu nehmen, dass von einem Verschulden in Form des dolus eventualis ausgegangen werde. Im Übrigen sei das OEG verfassungswidrig und dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Durch das OEG werde für Unrecht Dritter die Haftung übernommen und es liege ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz vor, da es sich durch Zufall ergebe, ob der Geschädigte durch einen Dritten oder den Staat geschädigt werde. Die Bundesrepublik Deutschland wäre verpflichtet gewesen, den international gesuchten Kriegsverbrecher Mückter zumindest nicht in der Position tätig werden zu lassen, in der er tatsächlich tätig war. Bezogen auf den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) vom 22.02.2010 – L 10 (6) B 8/09 VG – führt der Kläger weiter aus, der Amtsermittlungsgrundsatz sei verkannt worden. Hätte das LSG die Abhandlung von Beate Kirk (Kirk, Beate, Der Contergan-Fall, eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe, 1999) hinzugezogen, wäre deutlich geworden, dass die Chemie Grünenthal GmbH spätestens seit Ende 1959 Hinweise gehabt habe, die mindestens eine Überprüfung der thalidomidhaltigen Präparate erforderlich gemacht hätten. Trotz Kenntnis der Möglichkeit von Schäden seien die Produkte weiterhin vertrieben worden und dies sei die klassische Form des dolus eventualis. Im Übrigen ergäbe sich allein durch das Belassen der Präparate am Markt nach Erkenntnis der Schädigung eine fahrlässige Handlung im Sinne des § 1 Absatz 2 OEG.
Der Kläger beantragt in der nichtöffentlichen Sitzung am 04.08.2010,
festzustellen, dass er Opfer im Sinne des § 1 OEG geworden ist – unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 08.06.xx in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.07.xx -.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Unter Vorlage der Verwaltungakten hält der Beklagte die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen weiterhin für rechtmäßig.
Das Gericht hat den Einstellungsbeschluss der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom 18.12.1970 – 4 KMf 1 aus 68 – beigezogen.
In der nichtöffentlichen Sitzung am 04.08.xx haben sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Dieses Einverständnis wurde im Anschluss an den nachfolgenden Schriftverkehr von beiden Beteiligten sinngemäß wiederholt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Akteninhalt bzw. auf den den Beteiligten erteilten Ablichtungen und Abschriften.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht hat die Streitsache bei Anwendung von § 124 Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, denn die Beteiligten haben insoweit ihr Einverständnis gegeben.
Die erhobene Feststellungsklage ist zulässig jedoch unbegründet.
Die Klage ist mit dem gestellten Feststellungsantrag gemäß § 55 Absatz 1 Nr. 1 SGG zulässig (vgl. zur Zulässigkeit einer vergleichbaren Feststellungsklage: LSG Niedersachsen-Bremen im Urteil vom 12.12.2007 – L 5 VG 15/05 – mit weiteren Nachweisen, veröffentlicht in der Internetdatenbank "juris"). Ergänzend wird auf die Ausführungen der Kammervorsitzenden im Terminsprotokoll vom 04.08.xx verwiesen.
Der Feststellungsantrag ist jedoch unbegründet, da die Conterganschädigung des Klägers keinen Tatbestand im Sinne des § 1 OEG erfüllt. Auch wenn die Kammer für das dem Feststellungsantrag zugrunde liegende Begehren des Klägers nach ergänzender Entschädigung großes Verständnis hat, sieht sie gleichwohl keine Möglichkeit dem Antrag zu entsprechen. So werden die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 OEG durch die erlittene Conterganschädigung nicht erfüllt. Dies hat das LSG NRW in dem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 22.02.2010 – L 10 (6) B 8/06 VG – (veröffentlich in "juris") überzeugend und zutreffend dargelegt.
Der Tatbestand des § 1 Absatz 1 OEG ist nicht erfüllt, denn es fehlt jedenfalls ein Nachweis der Vorsätzlichkeit eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs. Der von Klägerseite angenommene dolus eventualis ist gerade nicht nachweislich. Wie das LSG NRW macht sich auch die Kammer die Ausführungen der großen Strafkammer des Landgerichts Aachen im Beschluss vom 18.12.1970 (a.a.O.) urkundsbeweislich zu eigen. Entgegen der Auffassung des Klägers geht das Landgericht gerade nicht von dolus eventualis aus, sondern von Fahrlässigkeit. Insoweit wird auf Blatt 45 des Beschlusses verwiesen, auf dem ausgeführt wird: "Was das Verschulden im Bereich der Nervenschäden angeht, so ist nach bisherigen Sachverstand der Nachweis vorsätzlichen Handelns, sowohl was den Tatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung als auch die insoweit in Frage kommenden Tatbestände des Arzneimittelgesetzes betrifft, nicht erbracht und nicht wahrscheinlich. Die Bejahung des Vorsatzes – auch in der Form des dolus eventualis – würde voraussetzen, dass die Angeklagten mit der Möglichkeit, nach Contergan-Einnahme könnten trotz der von ihnen getroffenen Maßnahmen weiterhin Polyneuritiden entstehen, positiv gerechnet haben. Demgegenüber ist fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 230 StGB – für das Arzneimittelgesetz gilt unbeschadet der besonderen Voraussetzungen der insoweit angeklagten Tatbestände Entsprechendes – insofern zu bejahen, als das Gesamtverhalten, wie es aus der Firma Chemie-Grünenthal nach außen in Erscheinung getreten ist, nicht den Anforderungen entspricht, wie sie an einen ordentlichen und gewissenhaften Arzneimittelhersteller zu stellen sind."
Weitere Ermittlungen der Kammer im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes werden nicht für erforderlich gehalten. Insoweit wird durchaus als richtig unterstellt, dass nach der Abhandlung von Beate Kirk die Chemie-Grünenthal GmbH spätestens seit Ende 1969 Hinweise hatte, die mindestens eine Überprüfung der thalidomidhaltigen Präparate erforderlich gemacht hätte. Daraus lässt sich allerdings gerade nicht unmittelbar auf einen dolus eventualis schließen, denn erforderlich wäre nicht nur die Kenntnis von Hinweisen auf die Möglichkeit einer Schädigung sondern erforderlich wäre der Nachweis einer subjektiven Gewissheit der damals Verantwortlichen in dem Sinne, dass diese die durch Contergan verursachten Schäden zumindest billigend in Kauf genommen haben. Dies konnte in den umfangreichen Verfahren beim Landgericht Aachen gerade nicht nachgewiesen werden, obwohl die Kammer von der Möglichkeit besonderer Verdachtsmomente, die auf eine fruchtschädigende Eigenschaft von Thalidomid hindeuteten ausging (vgl. Beschluss des Landgerichts Aachen a.a.O. Seite 78).
Das Feststellungsbegehren des Klägers kann nicht unter den Voraussetzungen des § 1 Absatz 2 OEG Erfolg haben, denn die Voraussetzungen dieser Norm sind durch die Conterganschädigung ebenfalls nicht erfüllt. Der Tatbestand des § 1 Absatz 2 Nr. 1 OEG, der die vorsätzliche Beibringung von Gift betrifft, liegt mangels Nachweis eines vorsätzlichen Verhaltens schon deshalb nicht vor. Zudem sind auch die Voraussetzungen von § 1 Absatz 2 Nr. 2 OEG nicht erfüllt. Wie auf Beklagtenseite zutreffend ausgeführt, fehlt es insoweit jedenfalls an dem Nachweis eines Verbrechens. Bezogen auf den Begriff des Verbrechens gibt es keinen eigenen entschädigungsrechtlichen, sondern dieser ist im Sinne der Legaldefinition in § 12 Absatz 1 Strafgesetzbuch (StGB) zu verstehen (vgl. Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 10.12.2003 – 9 B VG 3/02 R -, veröffentlicht in "juris"). Unter einem Verbrechen sind nach dieser Definition rechtswidrige Taten zu verstehen, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Diese Voraussetzungen werden im Hinblick auf die vorliegend in Betracht kommenden fahrlässigen Straftaten, nicht erfüllt. Insbesondere handelt es sich bei dem vom Landgericht Aachen geprüften Tatbeständen einer fahrlässigen Körperverletzung und fahrlässigen Tötung nicht um Verbrechen (vgl. damals § 230 bzw. inzwischen § 229 StGB und 222 StGB).
Weitere Ansätze aufgrund derer sich eine Verwirklichung eines Tatbestandes im Sinne des § 1 OEG ergeben könnte, sind der Kammer nicht erkennbar, insbesondere auch nicht ein staatliches Unterlassen. Wenn im Hinblick auf die nicht eindeutige widersprüchliche Gesamtsituation (vgl. auch Beschluss des Landgerichts Aachen Seite 89) bereits den unmittelbar verantwortlich Tätigen bei der Firma Chemie-Grünenthal GmbH kein vorsätzliches Verhalten nachweislich ist, kann bezogen auf das staatliche Verhalten der Behörden nicht anderes angenommen werden.
Letztlich hat die Kammer bezogen auf die Regelungen im OEG wie auch das LSG NRW im Beschluss vom 22.02.2010 (a.a.O.) keine verfassungsrechtlichen Bedenken und betrachtet diese ebenfalls als fernliegend. Bezogen auf die Argumente des Klägers ist auch keine verfassungskonforme Auslegung des OEG geboten. Insoweit sei zunächst darauf hingewiesen, dass das Opferentschädigungsgesetz keine Staatshaftung mit Schadenersatz regeln will, sondern vielmehr eine Entschädigung für Opfer von grundsätzlich vorsätzlichen Gewalttaten. Beweisschwierigkeiten bezogen auf ein vorsätzliches Täterverhaltens betreffen nicht nur den Kläger im hier zu entscheidenden Fall, sondern in gleicher Weise andere unschuldige Opfer bei nicht nachweislicher Vorsätzlichkeit eines Übergriffs. Diese und andere Beweisschwierigkeiten eines Antragstellers sind im Opferentschädigungsrecht bekannt, rechtfertigen aber weder verfassungsrechtliche Bedenken noch Beweiserleichterungen. Es gibt im im Rahmen der Opferentschädigung keinen Grundsatz, wonach im Zweifel für die Anspruchsvoraussetzungen zu Gunsten des Antragstellers zu entscheiden ist (vgl. BSG Urteil vom 22-06.1988 – 9/9a Bvg 4/87 – und LSG NRW Urteil vom 04.02.1999 – L7 VG 7/98 -, veröffentlicht in "juris"). Der Gesetzgeber hat Beweisprobleme im Entschädigungsrecht durchaus erkannt und diesen durch den auch im Geltungsbereich des OEG anwendbaren § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung Rechnung teilweise getragen, wobei diese Norm allerdings dem Kläger vorliegende schon deshalb nicht weiter helfen kann, weil er bezogen auf die hier fraglichen Tatbestandsmerkmale keine Angaben aus eigenem Wissen machen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 19.07.2011
Zuletzt verändert am: 23.12.2024