Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22.03.2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die (Wieder-)Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1976.
Der 1940 geborene marokkanische Kläger wurde im November 1964 im deutschen Steinkohlenbergbau angelegt. Er war ab September 1969 als Lehrhauer und ab Juni 1971 als Hauer tätig, zuletzt als Hauer vor Ort in der Hydrogrube der Werksdirektion I in E. Nach einem Arbeitsunfall 1972 wurde das Endglied des rechten Mittelfingers amputiert, bei einem Arbeitsunfall im Oktober 1975 kam es zu einer Fraktur der 5. Rippe links. Bei einem Arbeits-unfall 1982 erlitt er eine Nagelkranzfraktur des 2. Fingers links. Am 05.05.1984 kehrte er ab. Mittlerweile lebt er wieder in Marokko.
Am 05.05.1976 kam es während der Frühschicht in der Hydrogrube der Werksdirektion I zu einem Unfall, als der Kläger beim Aushängen einer Umlenkrolle von einer Fahrte abrutschte und auf den rechten Arm fiel. Dabei zog er sich einen Trümmerbruch der Speiche rechts mit Gelenkbeteiligung zu. Bei der anschließenden Behandlung in der Unfallklinik E stellte Dr. L eine Schwellung im Bereich des Handgelenkes mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung und starker Druckschmerzhaftigkeit fest. Der Röntgenbefund zeigte im rechten Handgelenk einen Trümmerbruch im körperfernen Ende der Speiche mit Gelenkbeteiligung. Noch im Mai 1976 ging die Unfallanzeige bei der Beklagten ein.
Dr. L berichtete am 22.07.1976 von einer weitestgehenden Durchbauung des Frakturspalts. Der Griffelfortsatz sei knöchern wieder eingefangen. Funktionell bestehe noch eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung aller Bewegungen des rechten Handgelenks. Die grobe Kraft sei herabgesetzt. Auf der Grundlage des ersten Gutachtens von Chirurg Dr. N, Unfallchirurgische Klinik der Städt. Kliniken E, stellte die Beklagte als Unfallfolgen "Eine Muskelminderung des rechten Ober- und Unterarmes, Einschränkung der Unterarmdrehbewegung, Schwellungszustand des rechten Handgelenks, Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Handgelenks, Einschränkung der groben Kraft des rechten Handgelenks sowie der Finger und damit verbunden eine mangelnde Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand, röntgenologische Veränderungen sowie noch glaubhafte Beschwerden" fest und gewährte vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (Bescheid vom 09.11.1976).
In einem zweiten Gutachten fand Dr. N im Januar 1977 als Unfallfolgen "Noch leichte Muskelminderung des Oberarms, Schwellungszustand des rechten Handgelenks, Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Handgelenks, mäßige Einschränkung der groben Kraft des rechten Handgelenks sowie der Finger, mangelnde Gebrauchsfähigkeit der Hand, röntgenologische Veränderungen sowie noch glaubhafte Beschwerden". Gegenüber dem Vorgutachten sei insoweit eine wesentliche Änderung eingetreten, als die Muskelminderung nur noch am Oberarm feststellbar sei, die Unterarmdrehbeweglichkeit nicht mehr eingeschränkt sei und die Beweglichkeit des Handgelenkes ebenfalls besser geworden sei. Die MdE betrage nur noch 10 vom Hundert (Gutachten vom 13.01.1977). Daraufhin entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Februar 1977 (Bescheid vom 27.01.1977).
Im Juli 2000 beantragte der Kläger die Wiedergewährung der Verletztenrente. Zur Begründung bezog er sich auf zwei Atteste des Rheumatologen Dr. I aus P/Marokko, der eine Hals- und Bronchialneuralgie rechts bescheinigte, die für Schmerzen entlang der rechten oberen Extremität verantwortlich sei und in Verbindung mit einer abgestuften Halsarthrose stehe. (Atteste vom 01.12.2000 und 14.01.2001). Chirurg Dr. H aus C meinte dazu, eine MdE infolge von Unfallfolgen sei nicht festzustellen. Der Speichenbruch sei in guter Stellung knöchern ausgeheilt. Aus der ärztlichen Bescheinigung gehe nichts für das Handgelenk hervor. Der Verlust eines Fingerendgliedes bedinge keine messbare MdE. (Stellungnahme vom 23.06.2001). Daraufhin lehnte die Beklagte die Wiedergewährung einer Verletztenrente ab (Bescheid vom 05.07.2001; Widerspruchsbescheid vom 24.10.2001).
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben und eine Untersuchung für erforderlich gehalten.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist für den Kläger niemand erschienen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten.
Der vom SG als Sachverständiger eingeschaltete Chirurg Dr. I1 aus E hat gemeint, die Beschwerden des Klägers beruhten auf unfallunabhängigen degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule (HWS). Die MdE wegen der Unfallfolgen betrage weniger als 10 vom Hundert (Gutachten nach Lage der Akten vom 07.01.2002).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22.03.2002).
Zur Begründung seiner Berufung beruft sich der Kläger auf die Bescheinigung des Arztes für Dr. F aus P (vom 11.06.2002). Danach bestehen eine Amyotrophie (Muskelschwund) am rechten Unterarm mit Schmerzen und Einschränkung der Bewegungsfähigkeit des rechten Handgelenks sowie Beschwerden bei kalter Witterung. Er leide weiter unter erheblichen Schmerzen im Bereich der rechten Hand, weshalb eine MdE um 20 vom Hundert (v.H.) anzunehmen sei. Der Sachverhalt sei weiter aufzuklären.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22.03.2002 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 05.07. und 24.10.2001 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 05.05.1976 Verletztenrente nach einem Grad der MdE von wenigstens 20 v.H. zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung unter Bezugnahme auf zwei Stellungnahmen von Dr. H (vom 02. und 30.11.2003) weiter für zutreffend: Es handele sich bei den Beschwerden des Klägers um diffuse, offenbar von der HWS ausgehende Beschwerden. Diese beruhten auf degenerativen Veränderungen, die nicht in Zusammenhang mit der ehemaligen Verletzung stehen. Eine Speichenfraktur führe zwar gelegentlich zu einer posttraumatischen Arthrose, insbesondere, wenn sie in Fehlstellung ausgeheilt sei. Dies sei jedoch hier nicht der Fall. Die außerdem vorliegende Daumensattelgelenkarthrose sei sicher keine Folge einer Speichenfraktur, mache jedoch teilweise ebenfalls erhebliche Beschwerden.
Der vom Senat als Sachverständiger befragte Dr. I hat gemeint, das, was degenerativ sei, beruhe nicht auf der ehemaligen Verletzung. Was jedoch im Zusammenhang mit dem Handwurzelkanal stehe, könne mit der ehemaligen Verletzung zusammenhängen. Es sei erforderlich, einen Röntgenologen und einen Neurologen zu befragen, um zu entscheiden, ob der rechte Handwurzelkanal als Ursache verantwortlich ist oder nicht und ob der Zusammenhang mit der ehemaligen Verletzung bestehe oder nicht (Gutachten vom 18.08.2003). Der Senat hat ein Gutachten nach Lage der Akten vom Sachverständigen Dr. T, Leitender Arzt der Klinik für Handchirurgie der Katholischen Klinken S in F, eingeholt. Dieser ist zum Ergebnis gelangt, Folge des Unfalls vom Mai 1976 sei – nur – der in guter Stellung fest verheilte Bruch des körperfernen Speichenendes rechts. Der jetzige Befund entspreche den im 2. Rentengutachten von Dr. N geschilderten Veränderungen im körperfernen Speichenende. Zu einem "posttraumatischen Karpaltunnel-Syndrom" sei es nicht gekommen. Die Verwerfung im Bereich der Radiusgelenkfläche sei gering. Somit sei eine Einengung des Nervus medianus im Karpalkanal nicht wahrscheinlich. Die degenerativen Veränderungen im Bereich des Daumensattelgelenks, der kleinen Fingergelenke, am Ellenbogengelenk sowie im Bereich der Halswirbelsäule seien fraglos nicht Folge des Arbeitsunfalls. (Gutachten vom 02.03.2004).
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug; sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG die Klage für unbegründet gehalten, weil der Kläger durch den Bescheid vom 05.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2001 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) nicht beschwert ist, § 54 Abs 2 SGG. Diese Entscheidung ist rechtmäßig, weil ein Anspruch des Klägers auf (Wieder-)Gewährung einer Verletztenrente nicht besteht, §§ 548 Abs 1 Satz 1, 551 Abs 1, 580 Abs 1, 581 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Dies steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest.
Der streitige Anspruch richtet sich noch nach dem alten, durch das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) zum 01.01.1997 abgelösten Recht der RVO, da der Versicherungsfall im Jahre 1976 eingetreten ist, und es sich nicht um die erstmalige Feststellung einer Verletztenrente (§ 214 Abs 3 SGB VII) handelt, § 212 SGB VII, Art 36 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs- Einordnungsgesetz – UVEG).
Nach §§ 580 Abs 1, 581 Abs 1 RVO erhält der Verletzte eine Rente, wenn die zu entschädigende Minderung der Erwerbsfähigkeit über die dreizehnte Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert, solange infolge des Arbeitsunfalls seine Erwerbsfähigkeit um mindestens ein Fünftel gemindert ist. Als Folgen eines Arbeitsunfalls sind dabei alle Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen und in die Bewertung einzubeziehen, die mit Wahrscheinlichkeit unmittelbar oder mittelbar im Sinne wesentlicher Teilursächlichkeit auf die bei dem Unfall erlittenen gesundheitlichen Schäden zurückzuführen sind (zur im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung maßgeblichen Ursachentheorie von der wesentlichen Bedingung vgl Hauck in: Weiss/Gagel(Hrsg). Handbuch des Arbeits- und Sozialrechts. Systematische Darstellung. Stand Januar 2003. § 22 A. Die Unfallrenten. Rdnrn 67ff, zum Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden insbesondere Rdnrn 71f). Wahrscheinlich ist ein solcher Zusammenhang, wenn unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Tatsachen mehr dafür als dagegen spricht. Die als Unfallfolgen in Betracht kommenden Gesundheitsstörungen müssen dagegen nachgewiesen sein; sie müssen mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit vorliegen.
Unfallfolgen, die die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. ("ein Fünftel") mindern, liegen beim Kläger – weiterhin – nicht vor. Dies steht zur Überzeugung des Senats als Ergebnis der Beweisaufnahme fest. Der Senat stützt sich dabei auf das überzeugende, alle für die Beurteilung wesentlichen Gesichtspunkte abhandelnde Gutachten von Dr. T. Dessen Beurteilung steht in Einklang mit derjenigen von Dr. I1, Dr. H und auch Dr. I. Insbesondere ist die von Dr. I angesprochene Möglichkeit eines Zusammenhangs durch die Beurteilung von Dr. T abschließend geklärt.
Unabhängig von der Frage, ob ein Karpaltunnelsyndrom besteht,ist dieses, sofern es vorliegt, nicht mit Wahrscheinlichkeit Folge des Arbeitsunfalls. Dr. T hat ein solches nur für möglich gehalten. Jedenfalls handelt es sich nicht mit der erforderlichen (einfachen) Wahrscheinlichkeit um ein posttraumatisches Karpaltunnelsyndrom. Denn es spricht mehr dagegen als dafür, dass es als Folge des Speichenbruchs zu einer entsprechenden Einengung des Mittelnervens gekommen ist. Dies setzte nämlich eine grobe Verwerfung der Gelenkfläche voraus, an der es nach dem Röntgenbefund ("geringe Verwerfung im Bereich der Radiusgelenkfläche") fehlt. Als Folge des Unfalls von 1976 liegt weiter – nur – der in guter Stellung fest verheilte Bruch des körperfernen Speichenendes rechts mit den schon 1977 von Dr. N geschilderten Veränderungen im körperfernen Speichenende vor. Die Beschwerden des Klägers im Bereich der rechten oberen Extremität sind jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeit wesentlich teilursächlich darauf, sondern eher auf unfallunabhängige degenerative Veränderungen (Oleakranonsporn im Ellenbogengelenk; Arthrose des Daumensattelgelenks; Herberden- und Bouchardarthrose der kleinen Fingergelenke rechts; Verschleißerkrankung der unteren Halswirbelsäulenabschnitte) zurückzuführen. Diese Gesundheitsstörungen können schon deshalb nicht mit Wahrscheinlichkeit auf dem Unfall von 1976 beruhen, weil sie sich in von dem Unfall nicht betroffenen Abschnitten der rechten oberen Extremität befinden. Darin stimmen alle gehörten Ärzte (also auch Dr. I) überein.
Es kann dahinstehen, ob die Unfallfolgen mit einer MdE um 10 v.H. (so Dr. T und Dr. N) oder unter 10 v.H. (so Dr. I1) zu bewerten sind. Denn Anhaltspunkte für eine Stützrentensituation (§ 581 Abs 3 RVO; vgl dazu Hauck. aaO, Rdnrn 95ff) bestehen nicht. Zu Recht haben Dr. T und Dr. H darauf hingewiesen, dass der Endgliedverlust des rechten Mittelfingers (Folge des Arbeitsunfalls von 1972) keinen wirtschaftlich messbaren Schaden (dh MdE = 0 v.H.) darstellt, also nicht mit einer MdE von mindestens 10 v.H. zu bewerten ist. Eine solche ist nach den allgemeinen Erfahrungssätzen in der gesetzlichen Unfallversicherung regelmäßig erst bei Verlust des gesamten Mittelfingers anzunehmen (Schönberger/Mehrtens/Valentin. Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 7. Auflage 2003, S 641ff; Mehrhoff/Muhr. Unfallbegutachtung. 10. Auflage 1999, Anhang 1, S 288). Folgen der Arbeitsunfälle aus den Jahren 1975 und 1982 sind weder behauptet noch sonst ersichtlich.
Weitere Ermittlungen sind nicht geboten. Dr. T hat überzeugend darauf hingewiesen, dass von den von Dr. I angeregten Untersuchungen ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn für die Beurteilung der streitigen Zusammenhangsfrage nicht zu erwarten ist, diese vielmehr bereits auf der Grundlage der vorliegenden Befunde beantwortet werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Maßgeblich für die Entscheidung sind vielmehr die zu würdigenden konkreten Umstände des Einzelfalls.
Erstellt am: 05.07.2004
Zuletzt verändert am: 05.07.2004