Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15. September 2003 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "G" (erhebliche Gehbehinderung) nach dem Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) erfüllt.
Mit Bescheid vom 19.03.2001 stellte der Beklagte bei der 1949 geborenen Klägerin wegen der Gesundheitsstörungen
1. Teilverlust des Dickdarms bei perforierter Divertikulitis, Zustand nach passagerem Anus praeter und Ureterschienungen, Adhäsiolyse, Bauchdeckenplastik (30)
2. Allergisches Asthma bronchiale, Schlaf-Apnoe-Syndrom (30)
3. Neigung zu Harnwegsinfekten (10)
4. Kopfschmerzsyndrom, Wirbelsäulensyndrom (10) einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest.
Im September 2001 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB und die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G" und "aG" (außergewöhnlich gehbehindert). Der Beklagte wertete einen Bericht der Kliniken I über einen stationären Aufenthalt der Klägerin im August/September 2001 und einen Befundbericht ihres Hausarztes Dr. I vom 06.11.2001 aus. Anschließend holte er ein ärztliches Gutachten von Dr. F vom 28.02.2002 ein. In diesem Gutachten wurde der Gesamt-GdB mit 70 bewertet, dies unter Berücksichtigung von vegetativen Regulationsstörungen und einer Adipositas permagna (jeweils Einzel-GdB 30). Die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche lägen nicht vor.
Mit Bescheid vom 27.03.2002 stellte der Beklagte einen GdB von 70 fest. Die Anerkennung der beantragten Nachteilsausgleiche lehnte er ab. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch der Klägerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2002 zurück.
Mit der am 11.11.2002 erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 80 sowie die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" begehrt.
Das Sozialgericht (SG) hat über das Ausmaß der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen Beweis erhoben und zunächst die bei dem Sozialgericht Duisburg unter dem Aktenzeichen S 3 RJ 147/01 geführte Rentenstreitakte beigezogen. Im dortigen Verfahren ist die Klägerin von dem Internisten Dr. H (Gutachten vom 26.07.2002) und dem Orthopäden Dr. T (Gutachten vom 21.05.2002) untersucht und begutachtet worden. Anschließend hat das SG diese Sachverständigen um ergänzende Stellungnahme zur Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung sowie zum Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" gebeten. Dr. T hat mit Schreiben vom 08.03.2003 mitgeteilt, dass der GdB auf orthopädischem Gebiet, insbesondere unter Berücksichtigung eines Lumbalsyndroms (30) und eines Knieleidens (20) mit 40 zu bewerten sei. Eine erhebliche Gehbehinderung entsprechend Nr.30 (3) der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte) läge nicht vor. Dr. H hat in einem Schreiben vom 01.04.2003 unter Berücksichtigung der Stellungnahme von Dr. T ausgeführt, dass der Gesamt-GdB mit 50 zu bewerten sei, wobei er neben den orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen im Wesentlichen insbesondere eine Schlaf-Apnoe (20), einen Bluthochdruck (20) und ausgedehnte Bauchnarben (20) festgestellt hat. Eine erhebliche Gehbehinderung im Sinne der Anhaltspunkte hat auch er verneint. Wegen der Befunderhebungen im Einzelnen und der gutachtlichen Darlegungen wird auf die Gutachten und ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen Bezug genommen.
Das SG hat den Beklagten durch Urteil vom 15.09.2003 verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" ab 12.09.2001 anzuerkennen. In der Begründung hat es dargelegt, dass die Klägerin zwar die in den Anhaltspunkten genannten Fallgruppen nicht erfülle. Hierbei handele es sich jedoch lediglich um Beispielsfälle. Die bei der Klägerin vorliegenden orthopädischen Störungen würden durch die Übergewichtigkeit, die als solche keine eigenständige berücksichtigungsfähige Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts sei, verstärkt. Daher komme es bei körperlicher Belastung zu erheblicher Luftnot. Auch die Narben würden Schwierigkeiten beim Gehen verursachen. Das Gericht habe insbesondere nach Augenscheinnahme der Klägerin die Überzeugung gewonnen, dass "G" vorliege. Im Hinblick auf den begehrten höheren GdB hat das SG die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat gegen das am 30.09.2003 zugestellte Urteil am 17.10.2003 Berufung eingelegt und ausgeführt, dass die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nicht vorlägen. Die Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin sei in erster Linie der Adipositas permagna und dem Trainingsmangel zuzuschreiben. Die Übergewichtigkeit stelle aber keine Behinderung im Sinne der Anhaltspunkte dar. Schwere Funktionsstörungen im Sinne von Nr. 30 (3) der Anhaltspunkte, die den Nachteilsausgleich "G" begründen könnten, lägen nicht vor.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 15. September 2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass das SG die bei ihr bestehende und sich bereits bei Inaugenscheinnahme ergebende erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit richtig gewürdigt habe. Diese Einschränkung sei auch behinderungsbedingt, da sich ihre Adipositas ohne die Behinderungen nicht im Sinne des Nachteilsausgleichs "G" auswirken würde.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der vom Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten und der Akten S 3 RJ 147/31 verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Dieser hat es mit den angefochtenen Bescheiden vom 27.03.2002 und 05.11.2002 zu Recht abgelehnt, bei der Klägerin das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" gemäß § 69 Abs. 4 des mit Wirkung vom 01.07.2001 geltenden SGB IX (vormals inhaltsgleich § 4 Abs. 4 Schwerbehindertengesetz – SchwbG -) anzuerkennen. Entsprechend ist das Urteil des SG zu ändern und die Klage abzuweisen.
Nach § 145 Abs.1 SGB IX (vormals § 59 Abs. 1 SchwbG) sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. Ob ein Schwerbehinderter infolge seiner Behinderung im Straßenverkehr bewegungsbehindert ist, bestimmt sich nach der ergänzenden Definitionsnorm des § 146 Abs.1 SGB IX (vormals § 60 Abs. 1 SchwbG). Der Schwerbehinderte muss infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, u.a. auch durch innere Leiden, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich und andere Personen Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen können, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Gemäß Nr. 30 (2) der Anhaltspunkte gilt unter Hinweis auf die Rechtsprechung eine Wegstrecke von etwa zwei Kilometern als ortsüblich, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Darüber hinaus geben die Anhaltspunkte als antizipierte Sachverständigengutachten aber auch an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die Anhaltspunkte dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte all jene heraus, die nach § 146 Abs.1 S.1 SGB IX außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des Schwerbehinderten im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dazu in Nr. 30 (3) bis (5) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 1/96 = SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Wenn auch bei der Klägerin – wie vom SG durch Inaugenscheinnahme festgestellt – eine Einschränkung der Gehfähigkeit besteht, so beruht diese nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zur Überzeugung des Senats nicht auf den bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen. Vielmehr ist die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit im Wesentlichen auf die erhebliche Übergewichtigkeit der Klägerin (Adipositas permagna) sowie ihren dadurch bedingten mangelhaften Trainingszustand zurückzuführen. Der Sachverständige Dr. H hat in seinem im Rentenverfahren erstellten Gutachten darauf hingewiesen, dass die erhebliche Übergewichtigkeit der Klägerin direkt zu einer erheblichen mechanischen Behinderung bei körperlicher Arbeit – und damit auch bei der Gehfähigkeit – führt. Eine Adipositas allein bedingt keinen GdB (Nr. 26.15 der Anhaltspunkte) und ist damit in der Regel nicht als Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts anzusehen. Vielmehr handelt es sich bei der Übergewichtigkeit und dem mangelnden Trainingszustand gerade um solche Faktoren, die für die Beurteilung einer behinderungsbedingten Einschränkung der Gehfähigkeit im Sinne der Anhaltspunkte außer Betracht zu bleiben haben (BSG, a.a.O.).
Zwar liegen bei der Klägerin über die Adipositas hinaus auch Behinderungen vor, die ihr Gehvermögen einschränken. Diese allein sind jedoch nicht in einer solchen Ausprägung vorhanden, dass einer der in Nr. 30 (3) bis (5) genannten Regelfälle erfüllt wäre. Die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen sind darüber hinaus – auch in ihrer Zusammenschau – nicht so gravierend, dass die in den Anhaltspunkten niedergelegten medizinischen Kriterien unter Gleichstellung mit dem dort beispielhaft aufgeführten Personenkreis erfüllt wären.
Die bei der Klägerin festgestellten orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen, unterfallen nicht dem in Nr. 30 (3) der Anhaltspunkte genannten Regelfall eines GdB von wenigstens 50 für die unteren Extremitäten und/oder die Lendenwirbelsäule. Der Sachverständige Dr. T hat für die orthopädischen Leiden einen GdB von insgesamt 40 bei einem Einzel-GdB von 30 für ein Lumbalsyndrom und 20 für ein Knieleiden angenommen. Unter Berücksichtigung der aktenkundigen Befunde ist dieser Wert als wohlwollend anzusehen. Die Bewegungsprüfung der Wirbelsäule bei der Untersuchung durch Dr. T hat lediglich eine mäßig eingeschränkte Inklination im Brust- und Lumbalbereich ergeben. Weitere nennenswerten Bewegungseinschränkungen oder neurologische Ausfälle haben nicht vorgelegen. Der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. F hat lediglich eine um 1/3 der Norm schmerzhaft eingeschränkte Reklination und Seitwärtsneigung der Lendenwirbelsäule festgestellt. Auch bei dieser Untersuchung ist der neurologische Befund unauffällig gewesen. Nach Nr. 26.18 der Anhaltspunkte ist ein Wirbelsäulenleiden bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB von 20, bei schweren funktionellen Auswirkungen mit einem GdB von 30 zu bewerten. Hier kommt die Bewertung mit einem GdB von 30 – wie vom Sachverständigen dargelegt – nur gerade eben und unter Berücksichtigung der von der Klägerin angegebenen häufigen Wirbelsäulenschmerzen in Betracht.
Die Kniegelenke der Klägerin waren bei der Untersuchung durch Dr. F rechts bis 90 Grad zu beugen, links bis 100 Grad. Eine Einschränkung der Streckfähigkeit ist nicht beschrieben. Bei Dr. T war bei normaler Streckfähigkeit eine Beugung rechts bis 100 Grad, links bis 110 Grad möglich. Nach Nr. 26.18 der Anhaltspunkte sind einseitige Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk geringen Grades (Streckung/Beugung bis 0-0-90) mit einem GdB von 0-10 zu bewerten, beidseitige entsprechende Bewegungseinschränkungen mit einem GdB von 10-20. Unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen bei der Klägerin ist der GdB somit allenfalls gerade eben mit einem GdB von 20 zu bewerten.
Bei einem GdB der sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden orthopädischen Leiden, der wie hier unter 50 liegt, sind die Voraussetzungen für "G" nach Nr. 30 (3) der Anhaltspunkte nur dann gegeben, wenn die Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen vorliegen und sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Dies ist hier nicht der Fall. Wie oben ausgeführt, ist bei der Klägerin im orthopädischen Bereich wesentlich die Lendenwirbelsäule betroffen, erst zweitrangig der Bereich der unteren Extremitäten. Auch der orthopädische Sachverständige Dr. T hat das Vorliegen der Voraussetzungen der Anhaltspunkte für "G" in orthopädischer Sicht verneint.
Die bei der Klägerin festgestellten Leiden auf internistischen Fachgebiet entsprechen auch nicht annähernd den in Nr. 30 (3) 2. Absatz der Anhaltspunkte genannten inneren Leiden, die die Einschränkung der Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Zum einen sind die vom Sachverständigen Dr. H genannten Beeinträchtigungen, insbesondere auch in den sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Bereichen des Herzens und der Lunge, nur als geringfügig anzusehen. Zum anderen stellt der Sachverständige ausdrücklich fest, dass die bei körperlicher Belastung der Klägerin auftretende Luftnot allein durch das überhöhte Körpergewicht zu erklären sei. Eine Herzschwäche oder eine Lungenschwäche, die ebenfalls zu Luftnot führen könnten, seien nicht vorhanden.
Auch die Kombination der gesamten behinderungsbedingten Leiden der Klägerin führt nicht zu einer Gleichstellung mit dem in den Anhaltspunkten genannten Personenkreis. Wie bereits ausgeführt besteht eine relevante, sich auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirkende Behinderung auf internistischem Fachgebiet nicht. Die durch das Übergewicht bedingte Luftnot der Klägerin hat damit auch bei der Gesamtschau der Behinderungen der Klägerin, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit im Sinne des Schwerbehindertenrechts bedingen könnten, außer Betracht zu bleiben. Die Narben im Bauchbereich mögen zu einer geringfügigen Beeinträchtigung des Gehvermögens führen, sind jedoch auch in Kombination mit den orthopädischen Leiden nicht geeignet, eine Gleichstellung mit den erheblichen in den Anhaltspunkten genannten Regelbeispielen zu begründen. Weitere Behinderungen, die sich auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirken, sind nicht ersichtlich. Entsprechend hat auch der Sachverständige Dr. H in der Gesamtschau aller bei der Klägerin bestehenden Leiden die Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit entsprechend Nr. 30 der Anhaltspunkte verneint.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
Erstellt am: 06.07.2004
Zuletzt verändert am: 06.07.2004