Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11. Februar 2003 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse die Erstattung der Kosten eines Arzneimittels, das der Klägerin außerhalb seines Zulassungsbereichs verordnet worden ist.
Die Klägerin leidet an multipler Sklerose (MS) in der Form des schubförmigen Verlaufs. Als Folge dieser Erkrankung besteht des Weiteren nach cortisonrefraktärer Retrobulbärneuritis eine hochgradige Sehminderung des linken Auges. Im April 2001 beantragte der Leiter der MS-Ambulanz der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Universitätsklinikums C, Dr. T, bei der Beklagten die Kostenzusage für eine Behandlung der MS mittels "Copaxone" sowie für einen Therapieversuch zum Erhalt der Sehfähigkeit des linken Auges mittels intravenösen Immunglobulinen, zu deren Wirksamkeit er sich insbesondere auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung aus dem Jahr 1992 (van Engelen u. a.) berief. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) befürwortete die Anwendung von "Copaxone" bei der Klägerin. Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 07.06.2001 eine entsprechende Behandlung, lehnte aber den Einsatz der Immunglobuline ab, weil es insoweit nach einem Gutachten des MDK an einem Wirksamkeitsnachweis fehle.
Die Klägerin legte am 26.06.2001 unter Vorlage eines weiteren Arztbriefes des Dr. T vom 07.06.2001 Widerspruch ein, worin erneut im Rahmen eines Heilversuchs eine Therapie unter intravenöser Verabreichung von Immunglobulinen befürwortet wurde. Die Beklagte übermittelte der Klägerin eine weitere Stellungnahme des MDK aus einem anderen Versicherungsfall, in dem die Behandlung der MS mittels intravenösen Immunglobulinen nicht befürwortet worden war, sowie eine Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts vom 23.07.2001, erstattet in einem sozialgerichtlichen Verfahren (SG Koblenz, Az.: S 11 KR 38/99), wonach festzustellen bleibe, dass die derzeitig vorliegenden Studien und Fallberichte noch nicht die Anforderungen erfüllten, die an Studien zum Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit der Immunglobulin-Anwendung bei MS gestellt würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, weil die therapeutische Wirkung der begehrten Behandlung nicht hinreichend gesichert sei.
Die Klägerin hat am 26.09.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben. Sie hat geltend gemacht, die Beklagte verkenne, dass nicht eine Basisbehandlung der MS im Streit stehe, sondern ein zeitlich begrenzter individueller Heilversuch bei der Diagnose "Neuritis nervi optici" (= Sehnervenentzündung) mittels intravenöser Immunglobuline begehrt werde. Die Wirksamkeit einer solchen Behandlung sei wissenschaftlich hinreichend belegt, wie verschiedene Veröffentlichungen zu dem Thema, insbesondere diejenige von van Engelen und andere (u.a.) aus dem Jahr 1992 belege. Soweit sich die Beklagte auf gegenteilige Rechtsprechung berufe, betreffe diese ausschließlich Patienten mit chronisch-progredientem Verlauf der MS und sei daher auf ihren Fall nicht übertragbar.
Das SG hat Auskünfte des Paul-Ehrlich-Instituts sowie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (jetzt Gemeinsamer Bundesausschuss) eingeholt. Letzterer hat darauf hingewiesen, dass das der Klägerin zwischenzeitlich verordnete Medikament "Venimmun N" zur Behandlung angeborener Immundefektsyndrome, erworbener Immundefektsyndrome durch Grunderkrankungen wie chronisch lymphozytische Leukämie und idiopathische thrombozytische Purpura zugelassen sei.
Die Klägerin, die aufgrund der Verordnungen des Dr. T vom 15.10.2001 und 22.02.2002 für den Erwerb von "Venimmun N" insgesamt 16.946,73 Euro aufgewendet hatte, hat auf eine weitere wissenschaftliche Veröffentlichung von Curro Dossi u.a. aus dem Jahre 1997 hingewiesen, wonach die Ergebnisse einer Untersuchung an vier Patienten den Bedarf einer großen kontrollierten Studie der intravenösen Immunglobulin-Therapie der Retrobulbärneuritis nahelege.
Mit Urteil vom 11.02.2003 hat das SG nach Einholung einer Stellungnahme von Prof. Dr. L, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Universitätsklinikums C die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das ihr am 31.03.2003 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.04.2003 Berufung eingelegt. Unter Vorlage einer weiteren Stellungnahme des MDK (Dr. N) vom 23.05.2003, macht sie geltend, es fehlten zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über den Behandlungserfolg des eingesetzten Medikaments. Die den Veröffentlichungen von van Engelen u.a. und Curro Dossi u.a. zugrundeliegenden Fallzahlen von fünf bzw. vier Patienten würden diesen wissenschaftlichen Anforderungen nicht hinreichend gerecht. Des Weiteren fehle es an dem erforderlich wissenschaftlichen Konsens über die Anwendung von Immunglobulinen im Rahmen der MS-Behandlung, weil die Retrobulbärneuritis ein Symptom dieser Erkrankung sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Köln vom 11.02.2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Voraussetzungen für einen sogenannten Off-label-use, die das Bundessozialgericht (BSG) aufgestellt habe, seien vorliegend erfüllt. Es handele sich unstreitig um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung, die keiner anderen Therapie zugänglich sei. Da der Patientenkreis, bei dem die Gabe des Präparates in Betracht komme, zahlenmäßig sehr gering sei und auch niedrig bleiben werde, müssten die vorliegenden Studien zum Nachweis der Wirksamkeit ausreichend sein.
Der Senat hat Auskünfte des Paul-Ehrlich-Instituts sowie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) eingeholt. Für Letztere hat Prof. Dr. S von der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg als federführender Autor der Therapieleitlinien für die MS darauf verwiesen, dass nach dem derzeitigen Erkenntnisstand keine ausreichende Evidenz und auch kein wissenschaftlicher Konsens vorliege, eine Behandlung mit "Venimmun N" bei cortisonrefraktären Schüben durchzuführen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme vom 17.05.2004 verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, denn der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.
Der Anspruch lässt sich allein aus § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) herleiten. Danach sind, sofern die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt, denn die Beklagte hat die begehrte Versorgung mit dem Arzneimittel "Venimmun N" zu Recht abgelehnt. Der sich aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V ergebende Anspruch der Versicherten auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Hieran fehlt es, wenn das verordnete Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist (BSG SozR 3-2200, § 182, Nr. 17; BSG SozR 3-2500, § 31, Nrn. 3, 5). Das gleiche gilt grundsätzlich für die Verordnungsfähigkeit eines zum Verkehr zugelassenen Arzneimittels, wenn es in einem Anwendungsgebiet zum Einsatz kommen soll, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (BSG SozR 3-2500, § 31, Nr. 8, S. 30; in diese Richtung schon, aber im Ergebnis noch offen gelassen vom 8. Senat des BSG im Urteil vom 30.09.1999 = SozR 3-2500, § 27, Nr. 11, S. 51 ff.). Diese Beschränkung findet ihre Berechtigung darin, dass die arzneimittelrechtliche Zulassung Rückschlüsse auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des geprüften Medikaments nur im Bereich der vom Hersteller im Zulassungsantrag genannten Anwendungsgebiete zulässt, aber keinen Hinweis darauf gibt, ob das betreffende Arzneimittel auch bei anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 Arzneimittelgesetz – AMG). Daher lässt sich nicht ausschließen, dass das Mittel bei einem Einsatz außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs schädliche Wirkungen zeigt, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinaus gehen (vgl. BSG SozR 3-2500, § 27, Nr. 11, S. 54). Die zulassungsüberschreitende Anwendung (sogenannte Off-label-use) ist jedoch dann eröffnet, "wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann" (BSG SozR 3-2500, § 31, Nr. 8, S. 36). Letzteres ist nur dann anzunehmen, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG a. a. O.). Letztere Voraussetzungen sind entgegen der Ansicht des SG nicht erfüllt. In der Studie von van Engelen und anderen, auf die sich die Klägerin und die behandelnden Ärzte vorrangig stützen, ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Studie nicht unter repräsentativen Bedingungen erfolgt ist, die Gabe von Immunglobulin bei multipler Sklerose seit Jahren kontrovers diskutiert werde und dass es lediglich nicht ausgeschlossen sei, dass in Einzelfällen hierdurch Therapieerfolge zu erzielen seien. Auch Curro Dossi u.a. haben darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse ihrer Untersuchung angesichts der geringen Anzahl der Probanden den Bedarf einer großen kontrollierten Studie zeigten, so dass aus diesen eingeschränkten Studien keine gesicherten Kenntnisse ableitbar sind. Dies deckt sich mit den Stellungnahmen von Prof. Dr. L und Prof. Dr. S. Ersterer hat gegenüber dem LSG erklärt, dass die intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen bei MS kontrovers diskutiert werde und nur in Einzelfällen bei dem hier zu beurteilenden Krankheitsbild Therapieerfolge möglich seien. Dies belegt aber gerade keinen Konsens in der medizinischen Wissenschaft bezüglich der hier streitigen Gabe von "Venimmun N" zur Behandlung der Retrobulbärneuritis bei bestehender MS in der Form des schubförmigen Verlaufs. Prof. Dr. S hat aufgezeigt, dass neuere Studien bezüglich der Gabe von Immunglobulinen zur Behandlung der Retrobulbärneuritis und der MS in der Form des schubförmigen Verlaufs keine gesicherten Erkenntnisse erbracht hätten und ein Konsens über den Nutzen entsprechender Behandlungen in der medizinischen Fachwelt daher nicht bestehe. Wenn Prof. Dr. S gleichwohl einen protokollierten therapeutischen Heilversuch empfiehlt, widerspricht dies nicht seiner Einschätzung, sondern belegt lediglich, dass auch er zum Zweck weiterer Forschung die Anwendung von "Venimmun N" zur Behandlung der Klägerin für sinnvoll erachtet. Dies entspricht jedoch nicht der Empfehlung aufgrund eines gesicherten Konsens hinsichtlich des möglichen Behandlungserfolgs. Die wissenschaftliche Erforschung von Arzneimitteln fällt aber grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. Begründung zum Fraktionsentwurf des Gesundheitsreformgesetzes – GRG – BT-Drucks 11/2237, S. 157; BSG SozR 3-2500, § 135, Nr. 4).
Ein anderes Ergebnis lässt sich auch nicht mit dem Einwand der Klägerin begründen, die geringe Anzahl entsprechender Erkrankungen und die darauf beruhende fehlende Bereitschaft der medizinischen Wissenschaft und Industrie zu umfangreichen Studien ließen die Feststellung eines entsprechenden Konsenses kaum zu. Dieser Einwand begegnet schon deshalb Bedenken, weil Curro Dossi u. a. selbst auf das Erfordernis größerer Studien verwiesen und deren Möglichkeit daher offensichtlich angenommen haben. Zum anderen hat das BSG bei der Beurteilung neuer Behandlungsmethoden bei seltenen Krankheitsbildern, die entsprechende Studien nicht zulassen, verlangt, dass der Nachweis des therapeutischen Nutzens durch die Verbreitung der Behandlungsmethode und den entsprechenden Konsens in der medizinischen Wissenschaft zu belegen sei (BSG a.a.O., S. 23 ff.). Lässt sich dieser Konsens nicht finden, kann die entsprechende Behandlung nicht mit dem Argument verlangt werden, ein solcher Konsens lasse sich nicht feststellen; denn außerhalb gesicherter medizinischer Erkenntnisse besteht keine Einstandspflicht der gesetzlichen Krankenkassen.
Hierdurch wird auch nicht das Grundrecht der Klägerin aus Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit verletzt, denn es besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (BVerfG NJW 1997, 3085).
Auf die Berufung der Beklagten musste das Urteil des SG daher geändert und die Klage mit der auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhenden Kostenentscheidung abgewiesen werden.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht erfüllt.
Erstellt am: 13.12.2004
Zuletzt verändert am: 13.12.2004