Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 27.05.2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG -) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) – Verwaltungsverfahren.
Die 1985 geborene Klägerin wurde 1992 in die Gemeinschaftsgrundschule T, W, eingeschult. Ihre Klassenlehrerin im 1. und 2. Schuljahr war Frau X. Das 2. Schuljahr (1994/95) wiederholte die Klägerin. Ihre Klassenlehrerin war nunmehr Frau O, die sie bis zum Ende des 4. Schuljahres unterrichtete. Während der Orientierungsstufe (5./6. Klasse) wechselte die Klägerin in die Realschule und von dort in die Hauptschule, die sie nicht abschloss.
Am 31. März 2000 beantragte sie die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG und trug unter Übersendung von Berichten und Gutachten ihrer behandelnden Ärzte, Psychologen sowie Heilpädagogen, von Schriftverkehr ihrer Eltern mit der Schulbehörde, Stellungnahmen der Lehrerinnen X, Gutachten der Sonderschullehrerin G, Strafanzeigen ihres Vaters gegen die genannten Lehrerinnen und Schulamtsdirektor I und von Auszügen aus Kommentaren zum Schulpflichtgesetz und Gerichtsurteilen vor, die Grundschullehrerin X habe eigenmächtig die Sonderschullehrerin G, K-Schule, beauftragt, bei ihr eine Verhaltensauffälligkeit zu erforschen und aufzuklären. Frau G habe diesen Test am 23.04.1993 ohne Wissen und Einwilligung der Eltern durchgeführt. Damit habe sie sich einer Amtspflicht- und Persönlichkeitsrechtsverletzung schuldig gemacht. Frau G habe vorsätzlich gegen die Allgemeine Schulordnung verstoßen und eine unerlaubte Handlung an ihr, der Klägerin, begangen. Sie habe sich damit nach § 170 d Strafgesetzbuch (StGB) strafbar gemacht. Infolge des Tests sei es bei ihr, der Klägerin, zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen, die zur seelischen Behinderung und Schädigung ihrer psychischen Entwicklung geführt habe. Ihr Leiden sei jetzt höchstwahrscheinlich chronisch. Durch die Überweisung zur Hauptschule seien die Ängste und psychischen Störungen erneut aufgeflackert und hätten zur Isolation geführt.
Mit Bescheid vom 06.04.2000 lehnte der Beklagte die Gewährung von Versorgung nach dem OEG mit der Begründung ab, ein schädigender Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liege nicht vor, weil ein tätlicher Angriff nicht erfolgt sei. Es sei nicht zu erkennen, dass mit dem Durchführen eines Test zur Feststellung des schulischen Werdeganges ein feindseliges, aggressives Handeln vorgelegen habe; auch habe eine unmittelbare Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit nicht stattgefunden.
Am 30.05.2003 beantragte die Klägerin über die Opferambulanz des St. W-Hospitals E wegen der infolge der unerlaubten Handlung vom 23.04.1993 eingetretenen Gesundheitsschäden erneut Leistungen nach dem OEG.
Der Beklagte holte vom St. W-Hospital E einen Befundbericht ein und lehnte mit Bescheid vom 11.09.2003 die Zurücknahme des Bescheides vom 06.04.2000 gemäß § 44 SGB X ab; die nochmalig Überprüfung hätte keine neuen Gesichtspunkte ergeben. Ein Fall nach dem OEG liege nicht vor.
Den Widerspruch der Klägerin, mit dem sie auf ein bei der Staatsanwaltschaft E geführtes Ermittlungsverfahren (000) hinwies und vortrug, die in feindseliger Gesinnung durchgeführte Testung stelle eine Einwirkung in die körperliche Unversehrtheit dar und verstoße u.a. gegen das Datenschutzgesetz, weil rechtswidrig Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert worden seien, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2003 zurück. Es fehle an einer feindseligen Willensrichtung. Es sei nicht erforderlich, das Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen abzuwarten, weil die Versorgungsbehörde den Tatbestand des § 1 OEG in eigener Zuständigkeit und unabhängig von den Strafverfolgungsbehörden prüfe.
Hiergegen hat die Klägerin am 28.11.2003 Klage erhoben und unter Übersendung weiterer medizinischer Unterlagen sowie Auszügen von Kommentaren und Entscheidungen, die bis auf einen Aufsatz der Dr. G1 bereits im Erstanerkennungsverfahren übersandt worden waren, ihr bisheriges Vorbringen wiederholt. Sie hat ergänzend vorgetragen, bei der früheren Entscheidung sei das Recht unrichtig angewandt und von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich als unrichtig erwiesen habe. Sie sei falsch beschult worden. Der richtige Förderort wäre für sie die Sonderschule für Sprachbehinderte gewesen, da sie unter selektivem Autismus leide. Sie hat erneut darauf hingewiesen, ihre Eltern hätten weder in den Test eingewilligt noch seien sie über diesen aufgeklärt worden. Deswegen sei der Test ein vorsätzlicher, feindseliger und rechtswidriger Angriff gewesen. Des Weiteren stelle seine Durchführung eine unerlaubte Handlung sowie eine Amtspflichtverletzung dar und verstoße gegen das Datenschutzgesetz. Wegen ihrer schweren Erkrankung und weil sie die falsche Schullaufbahn durchlaufen und keinen Schulabschluss erhalten habe, habe sie einen Anspruch auf einen angemessen Schadensersatz.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2003 zu verurteilen, den Bescheid vom 06.04.2000 aufzuheben und ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren, wobei der am 23.04.1993 durchgeführte Schultest als Gewalttat anerkannt werden soll.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat mit Urteil vom 27.05.2004 die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Klägerin habe keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse, die Voraussetzung für eine erneute Überprüfung gemäß § 44 SGB X seien, vorgetragen. Anhaltspunkte für eine unvollständige Sachverhaltsermittlung oder eine unzutreffende Rechtsanwendung bestünden nicht. Insbesondere sei die vom Beklagten vorgenommen Subsumtion des Tatbestandsmerkmals "tätlicher Angriff" nicht zu beanstanden. Es entbehre jeglicher Grundlage hinsichtlich des durchgeführten Tests von einer feindseligen Willensrichtung auszugehen. Es lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei dem Test um eine unmittelbar auf den Körper oder die Psyche der Klägerin zielende Einwirkung gehandelt haben könnte.
Gegen das am 26.06.2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23.07.2004 Berufung einlegt und vorgetragen, die Tat sei nicht zu rechtfertigen. Die Testung sei durchgeführt worden, weil die Grundschullehrerin X das Ergebnis der Erziehungsberatung nicht habe abwarten wollen. Eine Einwilligung ihrer Erziehungsberechtigten in die Testung sei nicht erfolgt. Der Beklagte verkenne, dass aufgrund der Beschwerden ihrer Eltern der tatsächliche Sachverhalt, der zur Testung geführt habe, durch die Schule vorsätzlich verändert worden sei. Seit dem Test leide sie unter Schulangst. Sie sei durch das Organ Schule seelisch misshandelt und erheblich in ihrer Entwicklung geschädigt worden. Die Testung habe in ihre körperliche Integrität eingegriffen, deshalb sei diese als ein tätlicher Angriff zu werten.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 27.05.2004 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2003 zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheides vom 06.04.2000 ihr ab März 2000 unter Anerkennung des bei ihr bestehenden psychischen Leidens als Folge des am 23.04.1993 durchgeführten Schultests als Schädigungsfolge Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 27.05.2004 zurückzuweisen.
Es bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Akten der StA E (000 und 000), die Schwerbehindertenakten (Gz: 000) sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Duisburg vom 27.05.2004 ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil die Klägerin durch den Bescheid vom 11.09.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2003 nicht beschwert ist (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG -). Die Ablehnung der Rücknahme des Bescheides vom 06.04.2000 ist nicht rechtswidrig.
Nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist ein eine Sozialleistung ablehnender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist.
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung der beantragten Versorgung nach dem OEG.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält auf Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die genannten Tatbestandsvoraussetzungen müssen nachgewiesen sein, d.h. die den Anspruch begründenden Tatsachen müssen zur Überzeugung des Gerichts mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder einem so hohen Grad an Wahrscheinlichkeit feststehen, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (BSG, Urteil vom 05.05.1993 – Az.: 9/9a RV 1/92 -, SozR 3-3100 § 38 Nr. 2).
Wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig, allerdings in Anknüpfung an die Vorschriften des StGB geregelt. Es wird nicht jede Gewalttat entschädigt, wohl aber der wesentliche Bereich der sog. Gewaltkriminalität, die zur Körperverletzung oder Tod führen kann (hierzu BSG, Urteil vom 12.02.2003 – B 9 VG 2/02 R -). Dies hat § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch die Anspruchsvoraussetzungen eines vorsätzlich, rechtswidrigen und tatsächlichen Angriffs ausgedrückt (BSG, Urteil vom 23.10.1985 – 9a Rvg 5/84 -).
Ein Angriff i.S.d. § 1 OEG erfordert eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung. Vorsatz ist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung bei der Handlung (BSG, Urteil vom 24.07.2002 – B 9 VG 4/01 R -, SozR 3-3800 § 1 Nr. 22; Urteil vom 10.12.2003 – B 9 VG 3/02 -, SozR 4-3800 § 1 Nr. 5). Der Vorsatz muss sich auf die Angriffshandlung beziehen. Dabei genügt bedingter Vorsatz. Das bedeutet, dass der Täter bei seiner Handlung die Verletzung einer bestimmten oder beliebigen Personengruppe für möglich hält und in Kauf nimmt (BSG, Urteil vom 04.02.1998 – B 9 VG 5/96 R -, BSGE 81, 288 ff). Auf eine besondere Begehungsart der Tat oder das Vorliegen (subjektiver) Feindseligkeit des Täters kommt es allerdings nicht an. Maßgebend ist, ob sich das Verhalten des Täters als (objektiv) rechtsfeindlich darstellt. Mithin ist ein tätlicher Angriff zu bejahen, wenn der Täter entweder a) mit körperlicher Gewalt in feindseliger Absicht gegen das Opfer vorgeht oder b) in strafbarer Weise die körperliche Integrität eines anderen rechtswidrig verletzt (BSGE 77, 7, 11; BSG NJW 1999, 2207 f.).
Die solchermaßen für den von der Klägerin geltend gemachten Entschädigungsanspruch notwendigen Voraussetzungen liegen nicht vor. Der am 23.04.1993 von der Lehrerin G durchgeführte Test stellt keinen vorsätzlich, rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG dar.
Zu a) Ausreichend ist ein aktives Handelt, das unmittelbar gegen den Körper des Opfers gerichtet ist und zu einem körperlich wirkenden Zwang geführt hat. Es kommt nicht darauf an, ob der tätliche Angriff mit einer Körperberührung verbunden ist.
Die Klägerin bezieht sich in ihrem Vorbringen im Wesentlichen darauf, dass die Lehrerin G den Test am 23.04.1993 ohne Wissen und Einwilligung der Eltern durchgeführt habe. Weder hieraus noch aus dem weiteren Vortrag der Klägerin ist auch nur ansatzweise ersichtlich, dass Frau G mittels körperlich wirkenden Zwangs auf den Körper der Klägerin eingewirkt hätte.
Zu b) Frau G hat auch im Übrigen die körperliche Integrität der Klägerin nicht verletzt. Das BSG verlangt insoweit, dass das angeschuldigte Verhalten strafbar ist (BSGE 77, 7 ff.). Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Die Staatsanwaltschaft E hat das auf Strafanzeige des Vaters der Klägerin u.a. gegen Frau G eingeleitete (erste) Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 22.07.1997 (000) eingestellt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos (Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft E1 vom 23.09.1997). Auch in dem auf eine neuerliche Anzeige des Vaters der Klägerin eingeleitete Ermittlungsverfahren hat die Staatsanwaltschaft E mitgeteilt, dass der u.a. gegen die Beschuldigte G geäußerte Verdacht keine Bestätigung gefunden habe. Der Senat tritt dem bei. Weder stellt der von der sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrerin G vorgenommene Test – auch wenn er möglicherweise unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist – eine Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 223 b, jetzt § 225 StGB) noch eine gröbliche Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (§ 170 d, jetzt 171 StGB) dar. Das der Lehrerin G im Zusammenhang mit der Gutachtenerstellung vorgeworfene Urkundendelikt (§ 267 StGB) betrifft nicht die Testdurchführung am 23.04.1993. Gleichermaßen sind die Voraussetzungen des § 240 StGB bzw. § 241 Abs. 1 STGB nicht erfüllt. Das Vorbringen der Klägerin lässt bereits im Ansatz nicht erkennen, dass sie mittels Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zum Test (= Handlung) "gezwungen" worden ist. Die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 241 Abs. 1 StGB sind umso weniger gegeben. Hiernach müsste die Klägerin oder eine ihr nahestehende Person mit der Begehung eines gegen diese gerichteten Verbrechens von der Lehrerin bedroht worden sein. Ein dem zuzuordnender Sachverhalt liegt nach eigenem Vorbringen der Klägerin ersichtlich nicht vor.
Abschließend merkt der Senat an: Die Frage, ob und inwieweit die Schulverwaltung die für das Verfahren auf Aufnahme in eine Sonderschule maßgebenden Vorschriften eingehalten hat, ist nicht entscheidungserheblich. Wesentlich ist allein, ob der Test vom 23.04.1993 Grundlage für einen Entschädigungsanspruch nach dem OEG ist. Das ist – wie dargetan – nicht der Fall. Überdies lässt sich weder angesichts der ärztlich dokumentierten psychischen Erkrankung der Klägerin noch des Umstandes, dass sie keinen Schulabschluss erreicht hat, die Feststellung zu treffen, dass der Test als solcher geeignet war, die behauptete Schädigung zu verursachen. Dem Vorbringen der Klägerin ist nicht einmal zu entnehmen, dass der Test unsachgemäß oder nicht entsprechend pädagogischen Grundsätzen durchgeführt worden ist.
Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 29.12.2005
Zuletzt verändert am: 29.12.2005