Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.09.2004 wird zurückgewiesen. Kosten der Klägerin werden auch im zweitinstanzlichen Verfahren nicht erstattet. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Altersruhegeld (ARG) unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten" wegen einer Beschäftigung im Ghetto Wilna in der Zeit von September 1941 bis August 1943.
Die am 00.00.1931 in Wilna (Litauen) geborene Klägerin ist Jüdin und anerkannte Verfolgte nach dem BEG. Die Klägerin gehörte nach eigenen Angaben nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an. Sie hielt sich im Ghetto Wilna auf. Im August 1943 wurde die Klägerin in das Zwangsarbeitslager Waiwara (Estland) deportiert. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Neustadt/Holstein am 02.05.1945 wurde sie in der Zeit vom 16.05.1945 bis zum 21.02.1946 stationär wegen der Folgen einer Schussverletzung und einer Lungentuberkulose behandelt. Im April 1946 wanderte die Klägerin nach Israel aus und erwarb die israelische Staatsangehörigkeit.
Das Bezirksamt für Wiedergutmachung in Koblenz bewilligte der Klägerin eine Entschädigung für "Schaden an Freiheit" für die Zeit vom 31.07.1941 – 05.05.1945 (Bescheid vom 17.09.1957). Im Entschädigungsverfahren gab die Klägerin an, dass sie bei Kriegsausbruch in Wilna, E Straße 00, gewohnt habe, im Herbst 1941 mit ihren Eltern in das Ghetto Wilna gekommen sei und dort in der T 00 gewohnt habe.
Im Dezember 2002 beantragte die Klägerin die Gewährung von ARG unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Sie erklärte, sie habe im Ghetto Wilna von 1941 bis 1943 als Hilfsschneiderin innerhalb des Ghettos in einer Nähwerkstatt, S Str., gearbeitet. Sie habe Näharbeiten je nach Bedarf ausgeführt. Auf dem Weg von und zur Arbeit und während der Arbeit sei sie nicht bewacht worden. Ihre Mutter habe den Arbeitseinsatz zustande gebracht. Die Arbeitszeit habe 8 -10 Stunden betragen. Sie habe Sachbezüge in Form von "Lebensmittelcoupons zusätzlich, Logis, Bonifikationen" erhalten. Der Erhalt von Barlohn sei nicht erinnerlich. Durch Bescheid vom 26.11.2003 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Aufgrund des Lebensalters der Klägerin sei es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin im Ghetto Wilna ein freiwillig aufgenommenes Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt ausgeübt habe. Die Klägerin sei zum Ende der behaupteten Beschäftigung erst 12 Jahre alt gewesen.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung ein, es sei allgemein bekannt, dass im Ghetto Wilna nur arbeitende Juden mit Arbeitsscheinen eine Chance zum Überleben gehabt hätten. Kinder, ältere Menschen und Kranke seien umgebracht worden. "Massenaktionen" hätten schon Anfang September 1941 begonnen, noch bevor das Ghetto abgeschlossen worden sei. Ihrer Mutter sei es gelungen, durch Vermittlung des Judenrats eine Beschäftigung in einer Nähwerkstatt in der S Straße zu bekommen. Ihre Mutter habe den Judenrat gebeten, auch sie in derselben Werkstatt als Hilfsarbeiterin aufzunehmen. Dabei habe sie gegenüber dem Judenrat als Lebensalter ihrer Tochter 14 Jahre angegeben. Ihre Mutter habe die Genehmigung erhalten, obgleich sie damals in Wirklichkeit 10,5 Jahre alt gewesen sei. Ihre Mutter und sie hätten Arbeitsscheine besessen, vom Judenrat Lebensmittelkarten sowie als Zuschuss verschiedene Sachbezüge erhalten. Sie habe im Ghetto Wilna von Ende September 1941 bis Ende September 1943 aus eigenem Willensentschluss eine Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt. Nur Kinder mit Arbeitsbescheinigungen hätten in Wilna die Ghettozeit überlebt. Im Entschädigungsverfahren habe keine Notwendigkeit bestanden, die Arbeit im Ghetto Wilna zu erwähnen. Am 09.03.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Mit der am 29.03.2004 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat die Klägerin die Gewährung von ARG begehrt. Sie hat ihr Vorbringen im Widerspruchsverfahren wiederholt. Es habe sich bei der Tätigkeit in der Nähwerkstatt nicht um eine Zwangsarbeit, sondern um eine Arbeit aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt gehandelt. Sie habe die Tätigkeit freiwillig, unterstützt von ihrer Mutter, ihrer gesetzlichen Vertreterin, aufgenommen. Die Nähwerkstatt sei vom Judenrat errichtet und geleitet worden, die Beschäftigten seien vom Judenrat entlohnt worden.
Die Klägerin hat eine eidesstattliche Erklärung vom 22.09.2004 zu den Akten gereicht, die u.a. wie folgt lautet:
" … im Jahre 1941, als das Ghetto in Wilna geschaffen wurde, mussten wir einen "gelben Schein" (Arbeitsausweis) haben, der bestätigte, dass wir für das Reich unentbehrliche Arbeiter waren. Meine Mutter T (C) T war eine ausgezeichnete Naeherin mit Berufsabschluss bis vor dem Krieg. Ich half ihr seit früher Kindheit und erlernte so das Naehehandwerk. Während des Krieges naehte sie auch für deutsche Familien, insbesondere auf Grund der Tatsache, dass sie ihr Handwerk gut beherrschte und die deutsche Sprache kannte. Daher hatte sie die Erlaubnis, das Ghetto zu verlassen zu dürfen. Sie naehte für die Familien der Gestapo-Angehörigen und für die deutschen Ghetto-Kommandanten, die außerhalb des Ghettos wohnten. Von Zeit zu Zeit wurden die Arbeitskarten ausgetauscht, und auf Grund ihrer Beziehungen gelang es meiner Mutter, mir alle erforderlichen Bescheinigungen zu beschaffen. Meine Mutter und ich arbeiteten in der Naeherei des Ghettos in der S, und wird naehten vor allem Uniformen fuer die deutsche Armee. Wir wohnten in der T Str. und gingen im Dunkeln zur Arbeit – noch vor Sonnenaufgang – und kehrten nach Sonnenuntergang zurück. An meinem Arbeitsplatz wusste niemand, das wir Mutter und Tochter waren, aber sie passte die ganze Zeit über mich auf, beschuetzte mich und organisierte die Arbeit für mich. Meine Mutter kleidete mich so, dass ich aelter aussah, als ich tatsaechlich war, ich trug Kleider alter Frauen ebenso wie Kopftuecher. Meine Arbeit bestand im Annaehen von Knoepfen und Schlaufennaehen, ich naehte Aermel an Hemden an und machte alle sonstigen Annaehearbeiten. Ich arbeitete neben meiner Mutter, ich war sehr fleißig und still, denn ich hatte Angst, dass man herausfinden konnte, dass ich noch zu jung war. Ich bemuehte mich sehr, nicht aufzufallen, und meine Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen, denn wir wussten, dass unser Leben davon abhing. Für die Arbeit bekam ich Nahrungsmittelcoupone und Geld fuer Einkaeufe im Ghetto, Nahrungsmittelkarten für Brot, Kartoffeln, Mehl etc. Die Hauptsache war, nicht hungern zu muessen. Es war klar, dass ich die Lebensmittelcoupone meiner Mutter gab, die sich um alles kuemmerte. Zudem bekamen wir einen Teller Suppe während der Arbeit. Ich arbeitete in der Naeherei bis 1943, als ich zusammen mit meiner Mutter nach Estland in Arbeitslager geschickt wurde …"
Die Beklagte hat dargelegt, aus der Eintragung eines Kindes in den gelben Arbeitsausweis der Eltern könne nicht auf ein Beschäftigungsverhältnis aus eigenem Willen geschlossen werden. Eine nach § 1 ZRBG relevante Beschäftigung könne nur dann vorliegen, wenn zumindest Grundelemente eines aus beidseitigem Willensentschluss begründeten Arbeitsverhältnisses erkennbar seien. Dies könne bei Kindereinsätzen nicht generell vermutet werden, weil für das Zustandekommen einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ein gewisses Lebensalter unerlässlich sei. Von einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss könne in Hinblick auf das Lebensalter der Klägerin zu Beginn der behaupteten Beschäftigung nicht ausgegangen werden.
Durch Urteil vom 30.09.2004 hat das SG Düsseldorf die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 12.10.2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11.11.2004 Berufung eingelegt.
Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Bei der Beurteilung der Frage, ob von einem Kind eine Beschäftigung freiwillig aufgenommen worden sei, sei auf den Willen des gesetzlichen Vertreters abzustellen. Ihre Mutter habe die entscheidende Rolle bei der Arbeitswahl und -aufnahme gehabt. Aus den vom Senat beigezogenen Unterlagen ergebe sich, dass jüdische Arbeitskräfte an Arbeitsstätten innerhalb und außerhalb des Ghettos eingesetzt gewesen seien und sie je nach ihrem Arbeitsstatus außer gewöhnlicher Verpflegung auch kleine Löhne für ihre Arbeit erhalten hätten. Damit seien die Voraussetzungen für eine entgeltliche Beschäftigung im Sinne der Entscheidung des Bundssozialgerichts (BSG) vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, erfüllt. Beitragszeiten nach dem ZRBG setzten die Zugehörigkeit zum dSK nicht voraus.
Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.09.2004 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.11.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2004 zu verurteilen, ihr ARG unter Berücksichtigung von Beitragszeiten für eine Tätigkeit im Ghetto Wilna im Zeitraum von September 1941 bis August 1943 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Zur Abklärung der Verhältnisse im Ghetto Wilna hat der Senat Auszüge aus Arad,"Ghetto in Flames", Jerusalem 1980, Hilberg , "Die Vernichtung der europäischen Juden" Band 2, 9. Aufl. 1999, Benz/Kwiet/Matthäus , "Einsatz im "Reichskomissiariat Ostland", Berlin 1998, Jäckel/Longerich/Schoeps, "Enzyklopädie des Holocaust", Schur, "Die Juden von Wilna", München 1999, Kruk, "Diary of the Vilna Ghetto", New York 1961,The Jewish Museum, "Vilnius Ghetto: List of Prisoners",Vilnius 1996 und zum Sichtwort Wilna aus www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/ghetto.htm beigezogen und den Beteiligten jeweils in Fotokopie übersandt. Der Senat hat ferner eine Auskunft der Conference on Jewish Material Claims Against Germany eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der beigezogenen Entschädigungsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen. Die Klägerin ist nicht beschwert nach § 54 Abs. 2 SGG. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ARG gegenüber der Beklagten nach §§ 35 , 300 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) inne. Die für den Rentenanspruch erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 35 Nr. 2, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) ist nicht erfüllt, weil auf die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten nicht vorliegen. Die von der Klägerin geltend gemachte Beschäftigungszeit im Ghetto Wilna von September 1941 bis August 1943 ist nicht als Beitragszeit zu berücksichtigen. Anrechenbare Ersatzzeiten liegen nicht vor.
Nach § 35 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die Klägerin vollendete im Februar 1996 das 65. Lebensjahr. Auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren sind nach §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitrags- und Ersatzzeiten anzurechnen. Beitragszeiten sind nach §§ 55 Abs. 1, 247 Abs. 3 S. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsrecht Pflichtbeiträge oder freiwilliger Beiträge gezahlt worden sind oder nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Ersatzzeiten werden nach § 250 Abs. 1 SGB VI nur bei Versicherten als rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt. Die Versicherteneigenschaft liegt vor, wenn vor Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet worden ist oder als wirksam entrichtet gilt.
Die Klägerin legte in der Zeit von September 1941 bis August 1943 keine Versicherungszeiten nach deutschem Reichsversicherungsrecht (§ 247 Abs. 3 S. 1 SGB VI) zurück. Die Stadt Wilna lag seit 1920 auf polnischem und seit Oktober 1939 auf litauischem Staatsgebiet. Im August 1940 wurde Litauen als sozialistische Sowjetrepublik in die UdSSR aufgenommen und war sowjetisches Staatsgebiet. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen im Juni 1941 wurde Litauen dem Deutschen Reich nicht ein- oder angegliedert, sondern war als besetztes Gebiet während des streitbefangenen Zeitraums dem Deutschem Reich gegenüber Ausland. Als ehemalige polnische bzw. litauische und später sowjetische Staatsangehörige gehörte die Klägerin nicht zu dem von der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfassten Personenkreis. Zuständig war nach dem damaligen Rechtszustand zunächst allein der sowjetische Sozialversicherungsträger bzw. ab August 1943 der vom Generalkommissar in Kauen errichtete Sozialversicherungsträger. Denn nach der Verordnung über die Sozialversicherung in den besetzten Gebieten vom 04.08.1941 (RGBl. I, 486) unterlagen nur die in Litauen beschäftigten deutschen Staatangehörigen und deutschen Volkszugehörigen den Vorschriften der RVO. Auch durch die Verordnung des Generalkommissars in Kauen über den Aufbau einer Sozialversicherung vom 01.05.1943 (abgedruckt in Plön, Die gesetzliche Rentenversicherung im Ausland, S. 256) wurde die "einheimische" Bevölkerung, zu der alle nichtdeutschen Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge mit Ausnahme der Ostarbeiter und nicht im Reichskommissariat beheimateteten Ausländer gehörten (§ 1 Abs. 3 der Verordnung), nicht in die RVO miteinbezogen. Vielmehr war die Ersetzung des bisherigen sozialen Sicherungssystems für die "einheimische" Bevölkerung in Litauen, eingeführt durch die Sowjetunion, durch den Aufbau einer eigenständigen Sozialversicherung beabsichtigt, die nicht der Reichsversicherung an- oder eingegliedert wurde (BSG, Urteil vom 01.12.1966, – 4 RJ 401/64 – ; Urteil vom 17.05.1963, – 4 RJ 305/63 -).
Die Beschäftigungszeit im Ghetto Wilna ist nicht als Zeit nach dem Fremdrentengesetz (FRG) Bundesgebietsbeitragszeiten gleichgestellt. Die Klägerin erfüllt weder die persönlichen noch die sachlichen Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 FRG. Sie ist weder als Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt noch gehört sie zu dem nach § 1 FRG begünstigten Personenkreis. Die Vorschriften des FRG sind auch nicht nach §§ 17a FRG, 20 WGSVG auf die geltend gemachte Beschäftigung der Klägerin im Ghetto anwendbar, da die Klägerin nach eigenen Angaben nicht dem dSK angehörte.
Des weiteren sind die übrigen Voraussetzungen für die Anerkennung der geltend gemachten Beschäftigungszeit im Ghetto Wilna als Beschäftigungs- oder Beitragszeiten nach dem FRG nicht erfüllt.
Eine Anerkennung als Beschäftigungszeit nach § 16 FRG scheidet aus, da die Klägerin in der Zeit von September 1941 bis August 1943 das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.
Die Beschäftigungszeit im Ghetto Wilna stellt keine Beitragszeit bei einem nichtdeutschen Rentenversicherungsträger im Sinne von § 15 Abs. 1 FRG dar. Die Entrichtung von Beiträgen zum Rentenversicherungsträger, der für die "einheimische" Bevölkerung in Litauen zuständig war, ist weder erwiesen noch glaubhaft gemacht worden. Die Klägerin hat die Entrichtung von Beiträgen für ihre im Ghetto Wilna geleistete Arbeit an einen Sozialversicherungsträger nicht vorgetragen. Auch aus den vom Senat beigezogenen Dokumenten und der Literatur ist eine Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen für von jüdischen Arbeitskräften geleistete Arbeit nicht zu entnehmen. In den Anordnungen der deutschen Besatzungsbehörden über die Entlohnung von jüdischen Arbeitskräften ist zwar die Höhe des Entgeltes, das an jüdische Arbeitskräfte ausgezahlt werden soll, sowie die Höhe des Betrages, der für die Inanspruchnahme von jüdischen Arbeitskräften von den Betriebsinhabern an den Gebietskommissar als Vertreter der deutsche Besatzungsmacht zu zahlen ist, festgelegt. Eine Verpflichtung zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen ist diesen Anordnungen nicht zu entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus der Verordnung über den Aufbau einer Sozialversicherung vom 01.05.1943 des Generalkommissars in Kauen, dass die jüdische Bevölkerung nicht in die Sozialversicherung einbezogen werden sollte. § 2 Abs. 1 der Verordnung sah vor, dass alle gegen Entgelt in einem Dienstverhältnis stehenden Beschäftigten, die zu der in § 1 definierten einheimischen Bevölkerung gehörten, grundsätzlich der Sozialversicherung unterlagen. Juden und Zigeuner standen in keinem Dienstverhältnis im Sinne dieser Vorschriften (§ 2 Abs. 3).
Eine Gleichstellung der im Ghetto Wilna zurückgelegten Beschäftigungszeit mit nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten nach § 15 Abs. 3 S. 1 FRG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Voraussetzung für eine Gleichstellung mit deutschen Beitragszeiten ist u. a., dass die ausländische Beschäftigung, für die eine Beitragsgleichstellung erfolgen soll, einer nach deutschen Recht dem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigung entsprechen muss (BSG, Urteil vom 07.10.2004, B 13 RJ 59/03 R). Nach § 1226 Abs. 1 RVO a.F. wurden in der Arbeiterrentenversicherung insbesondere Arbeiter versichert. Unter einem Arbeiter war nach damaligen Recht eine Person zu verstehen, die als solche beschäftigt und aufgrund dieser Beschäftigung pflichtversichert war wie eine Person im Sinne der Nachfolgevorschrift des § 1227 Abs. 1 RVO (in der bis Ende 1991 geltenden Fassung), die als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt war, d. h. nicht selbständige Arbeit verrichtete (§ 7 Abs. 1 SGB VI). Diese Beschäftigung musste nach § 1226 Abs. 1 RVO in der bis zum 23.05.1945 geltenden Fassung gegen Entgelt erfolgen.
Unter Zugrundelegung dieser Vorschriften ist die Ausübung einer nach deutschem Recht versicherungspflichtigen Beschäftigung durch die Klägerin im Ghetto Wilna weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht wurden. Eine Tatsache ist nach § 4 Abs. 1 FRG glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Gleichzeitig muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unbeachtlich. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen neben der eidesstattlichen Versicherung alle Mittel in Betracht, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit der Tatsache in ausreichendem Maße darzutun. Dabei sind ausgesprochen naheliegende, der Lebenserfahrung entsprechende Umstände zu berücksichtigen. Bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten muss das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sein, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht (LSG NRW, Urteil vom 28.10.2005, – L 13 R 47/05 -). Die Glaubhaftmachung setzt somit voraus, dass hinsichtlich seines Inhaltes und zeitlichen Verlaufs sowie auch der tatsächlichen Entlohnung ein hinreichend konturiertes und konkretisiertes Beschäftigungsverhältnis die überwiegende Sachverhaltsvariante darstellt (LSG NW, Urteil vom 08.11.2004, – L 3 (18) RJ 82/02 – ).
Der Senat sieht als glaubhaft an, dass die Klägerin im Ghetto Wilna eine Beschäftigung ausübte. Im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren hat sie durchgehend eine Beschäftigung in einer Werkstatt innerhalb des Ghettos Wilna als Hilfsschneiderin geschildert, wobei sie den Ort der Werkstatt – Rudnickastr. -, den Betriebszweck der Werkstatt – Herstellung von Uniformen für deutsche Armee – und ihre Tätigkeit – Annähen von Knöpfen, Schlaufennähen, Annähen von Ärmel, Annäharbeiten – detailliert schildert. Diese Angaben der Klägerin sind vereinbar mit den vom Senat aus der beigezogenen Literatur gewonnen Erkenntnissen, wonach zumindest seit 1942 im Ghetto Wilna Werkstätten, u. a. Schneidermanufakturen, existierten, die Aufträge von Auftraggebern außerhalb des Ghettos ausführten. Des weiteren sind die Angaben der Klägerin in der Erklärung vom 22.09.2004 über das erhaltene Entgelt – Nahrungsmittelcoupons, Geld für Einkäufe im Ghetto, Nahrungsmittelkarten, Ausgabe einer Suppe während der Arbeit – mit den Erkenntnissen des Senats über die Entlohnung von jüdischen Arbeitskräften im Ghetto vereinbar. Nach den ab 1941 erlassenen Anordnungen des Gebietskommissars für die Stadt Wilna erhielten jüdische Arbeitskräfte einen geringe Barlohn und gfls. eine Mittagssuppe. Die größeren Werkstätten innerhalb des Ghettos organisierten zusätzliche Lebensmittel für ihre Arbeiter neben den auf Lebensmittelkarten erhältlichen Rationen, da für ihre Arbeiter nicht die Möglichkeit bestand, sich durch Schmuggel auf dem Arbeitsweg zusätzliche Lebensmittel zu beschaffen. Dabei hat der Senat in seine Würdigung miteinbezogen, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren den Bezug eines Barlohns nicht erwähnte, vielmehr angab, dass der Bezug von Barlohn nicht erinnerlich sei. Des weiteren hat die Klägerin nachvollziehbar dargelegt, wie sie trotz ihres Lebensalters unter 14 Jahren – Angabe eines falschen Lebensalters bei Registrierung als Arbeitskraft, Initiative ihrer Mutter – eine Arbeitsstelle erhielt. Das in der Erklärung vom 22.09.2004 angebene Ende der Beschäftigung – Abtransport in ein estnisches Zwangsarbeiterlager im August 1943 – stimmt mit den Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren über die Dauer des Aufenthalts im Ghetto Wilna überein.
Dahinstehen kann, ob die Klägerin die Beschäftigung im Ghetto Wilna im September 1941 oder März 1943 aufnahm. Denn diese Beschäftigung stellte keine freie und entgeltliche Beschäftigung und damit versicherungspflichtige Arbeit dar, sondern es handelte sich um ein "unfreies" und damit nichtversichertes Beschäftigungsverhältnis. Die Ausübung irgendeiner Beschäftigung reicht zur Glaubhaftmachung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht aus. Es existiert kein Grundsatz, dass die Beschäftigung einer jüdischen Arbeitskraft in einem Ghetto, vorliegend in Wilna, grundsätzlich als freies und entgeltliches und damit versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu werten ist. Vielmehr sind die konkreten Umstände eines jeden Einzelfalles zu berücksichtigen.
Zwischen den jüdischen Bewohnern des Reichskomissiariat "Ostland", das u. a. das Gebiet von Litauen umfasste, und den deutschen Besatzungsbehörden bestand zumindest seit August 1941 ein öffentlich-rechtliches Gewaltverhältnis, dass unter anderem durch Einschränkung der Freizügigkeit und der wirtschaftlichen Betätigung, Kennzeichnungspflicht, Beschlagnahme und Enteignung des Vermögens, Ortsgebundenheit, Arbeitszwang, Isolierung und Ausgrenzung von der übrigen Bevölkerung, gekennzeichnet war. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen der Verordnung des Reichsministers für die besetzten Gebiete vom 16.08.1941 über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung (abgedruckt in: Benz/Kwiet/Matthäus, S. 36 f) und den Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden des Reichskommissars Lohse vom 18.08.1941 (abgedruckt in: Benz/Kwiet/Matthäus, S. 38 ff). Damit handelte es sich bei den jüdischen Bewohnern der Stadt Wilna um sogenannte "unfreie" Personen.
Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG ist bei "unfreien " Personen" für die Frage, ob sie im Einzelfall eine Beschäftigung im Rahmen eines freien oder eines unfreien Arbeitsverhältnisses ausgeübt haben, nicht auf die sonstigen Lebensumstände, unter denen der Beschäftigte leben musste, abzustellen. Vielmehr ist das Beschäftigungsverhältnis als solches und für sich zu untersuchen, ob es "frei" war ( BSG, Urteil vom 06.04.1960, – 2 RU 40/58 -, Urteil vom 17.03.1993, – 8 RknU 1/91 -; Urteil vom 14.07.1999, – B 13 RJ 61/98 -). Ein freies Arbeitsverhältnis liegt vor, wenn die Beschäftigten aus dem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis insoweit entlassen sind, als sie in einem Betrieb nach den Regeln des Arbeitsrechts tätig sind und ein Einfluss dritter Stellen auf die Gestaltung des Verhältnisses nicht stattfindet (BSG, Urteil vom 06.04.1960, – 2 RU 40/58 -; Urteil vom 17.03.1993, – 8 RknU 1/91 -). Die Beschäftigten müssen aus eigenem Willen ein konkretes Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnis eingegangen sein, tatsächlich die von ihnen auf der Grundlage des mit dem Arbeitgeber geschlossenen Vertrags geforderte Arbeit geleistet haben und ihnen dafür im Austausch eine den Umständen nach angemessene Gegenleistung als Bar- oder Sachlohn gewährt worden sein (LSG NW, Urteil vom 23.10.2000, – L 3 RJ 60/99 – ). Dies gilt auch, soweit die Arbeit unter den allgemeinen Bedingungen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft verrichtet wurde (BSG, Urteil vom 23.08.2001, – B 13 RJ 59/00 R -). Zur Abgrenzung zwischen einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis und einem unfreien Arbeitsverhältnis, zu dem auch die Zwangsarbeit zählt, sind solche Kriterien untauglich, die für beide Tätigkeitsformen charakteristisch sind, wie z. B. Ausübung eines Direktionsrechts. Auch das bloße Abstellen auf Arbeit im Sinne einer Erwerbsarbeit oder wirtschaftlich nützlichen Tätigkeit kann diese beiden Typen nicht voneinander abgrenzen. Das Merkmal Arbeit ist beiden Tätigkeitstypen eigen, was eine nähere Abgrenzung überhaupt erst erfordert. Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichen (hoheitlichen) bzw. gesetzlichen Zwang. Typisch für Zwangsarbeit ist die obrigkeitliche Zuweisung an bestimmte Unternehmen ohne dass der Betroffene dies beeinflussen kann. Indizien gegen ein freiwillig eingegangenes Beschäftigungsverhältnis können die Arbeitsbedingungen, wie z. B. Bewachung von Arbeitskräften während der Arbeit, um zu verhindern, dass sie sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können, die Bewachung von Arbeitskräften auf dem Weg zur Arbeitsstätte, eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf den Ort der Arbeitsstätte und Innehabung eines anderen Status als die übrigen Arbeitnehmer sein. Diese beispielhaft aufgeführten Kriterien zeigen, dass sich eine verrichtete Arbeit um so mehr vom Typus des freien Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses entfernt und dem Typus der Zwangsarbeit annähert, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann. Maßgebend für die Beurteilung ist das Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit (BSG, Urteil vom 14.7.1999, – B 13 RJ 61/98 R -; Urteil vom 14.7.1999, – B 13 RJ 75/98 R – ; Urteil vom 14.7.1999, – B 13 RJ 71/98 R -; Urteil vom 7.10.2004, – B 13 RJ 59/03 R -). Auch erfordert das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses, dass ein wirtschaftliches Austauschverhältnis zwischen geleisteter Arbeit und gezahltem Entgelt vorliegt. Zwar ist die Höhe des Entgelts grundsätzlich kein wesentliches Merkmal für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses. Art und Umfang der gewährten Leistungen können aber Anhaltspunkte geben, ob das Entgelt als Bezahlung im Sinne einer Entlohnung der geleisteten Arbeit oder zu anderen Zwecken, wie z. B. nur als "Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft" der zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten gedacht ist. Allzu geringfügige Leistungen außerhalb eines jeden Verhältnisses zur erbrachten Leistung haben keinen Entgeltcharakter mehr. (BSG, Urteil vom 19.04.1990, – 1 RA 91/88 -; Urteil vom 22.09.1988, – 7 RAr 13/87 -; Urteil vom 07.10.2004 – B 13 RJ 59/03 R -; Seewald in Kasseler Kommentar, § 4 Rdnr.17).
Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des SG zutreffend ist, dass das Lebensalter der Klägerin die Annahme einer freiwilligen Beschäftigung ausschließt, oder ob auf den Willen der Eltern – vorliegend der Mutter – als gesetzliche Vertreter für die Frage des Abschlusses eines Arbeitsvertrages abzustellen ist. Allein die Angaben der Klägerin, dass sich ihre Mutter aus eigener Initiative beim Judenrat um eine Arbeit für sie bemüht und sie vom Judenrat eine Arbeit in einer Werkstätte im Ghetto erhalten habe, genügt unter Berücksichtigung der Organisation und Ausgestaltung des Arbeitseinsatzes von jüdischen Arbeitskräften in Wilna nicht zur Glaubhaftmachung der Freiwilligkeit der Arbeit. Der Umstand allein, dass die Arbeit vom Judenrat zugewiesen oder vermittelt wurde, nachdem sich eine Verfolgte bei ihm um Arbeit beworben hat, reicht nicht aus, um die Freiwilligkeit der verrichteten Arbeit bereits zu bejahen (BSG, Urteil vom 7.10.2004, – B 13 RJ 59/03 R-). Vielmehr ist die Organisation und Durchführung des Arbeitseinsatzes entscheidend, insbesondere ob das Verhältnis der Verfolgten zum "Arbeitgeber" in erheblichem Umfang von Regeln geprägt war, die nicht durch einen zweiseitigen Vertrag mit dem "Arbeitgeber" vereinbart waren, sondern durch Regeln, die von Dritten aufgestellt waren.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat der Auffassung, dass aufgrund der Organisation und der Durchführung des Arbeitseinsatzes von jüdischen Arbeitskräften in Wilna das Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrem "Arbeitgeber" fremdbestimmt war, da die deutschen Besatzungsbehörden, vorliegend der Gebietskommissar für die Stadt Wilna, überragenden Einfluss auf die Gestaltung dieses Verhältnisses hatten. Seit Mitte August 1941 ist der Einsatz von jüdischen Arbeitskräften im Reichskomissiariat "Ostland" als nichtversicherte Zwangsarbeit zu charakterisieren. Denn die jüdischen Arbeitskräfte wurden zum Zwecke der Arbeitsaufnahme nicht aus dem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis entlassen, sondern die Organisation und die Ausgestaltung der Arbeit war von hoheitlichen Eingriffen überlagert, denen sich weder die jüdischen Arbeitskräfte noch ihre "Arbeitgeber" entziehen konnten. Dabei geht der Senat nach Auswertung der beigezogenen Dokumente und Sekundärliteratur von folgenden Verhältnissen in Litauen aus:
Nach dem Einmarsch der deutschen Armee im Juni 1941 wurde Litauen Teil des Reichskomissiariat "Ostland", in dem ab August 1941 eine Zivilverwaltung errichtet wurde. Dem Reichskommissariat "Ostland" stand Reichskommissar Lohse vor, der dem Reichsminister für die besetzten Gebiete Rosenberg in Berlin unterstand. Das Reichskommissariat war in Generalbezirke, diese wiederum in Kreisgebiete unterteilt. Der Leiter eines Kreisgebietes war ein Gebietskommissar. Durch Verordnung vom 16.08.1941 über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung ordnete der Reichsminister für die besetzten Gebiete Rosenberg an, dass die in den neu besetzten Ostgebieten ansässigen Juden männlichen und weiblichen Geschlechts vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr dem Arbeitzwang unterlagen und die Juden zu diesem Zweck in Zwangsarbeitsabteilungen zusammengefasst werden sollten (§ 1). Die Entziehung des Arbeitszwangs war strafbewehrt. Die zur Durchführung der Verordnung erforderlichen Vorschriften sollten die Reichskommissare erlassen (§ 3) (abgedruckt in: Benz/Kwiet/Matthäus, S. 36 f). Reichskommissar Lohse übersandte mit Schreiben vom 18.08.1941 jedem Generalkommissar eine Fassung der "Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden" (abgedruckt in: Benz/Kwiet/Matthäus, S. 38 ff). Diese Richtlinien galten für die Generalkommissariate nach der Übernahme der Zivilverwaltung und sahen u.a. vor:
" … 5 … d) Die Juden sind tunlichst in Städten oder in Stadtteilen größerer Städte zu konzentrieren, die bereits eine überwiegende jüdische Bevölkerung besitzen. Dort sind Ghettos zu errichten. Den Juden ist das Verlassen der Ghettos zu verbieten. In den Ghettos sind ihnen so viel an Nahrungsmittel zu überlassen, wie die übrige Bevölkerung entbehren kann, jedoch nicht mehr, als zur notdürftigen Ernährung der Insassen der Ghettos ausreicht. Das gleiche gilt für die Versorgung mit anderen lebenswichtigen Gütern. Die Insassen des Ghettos regeln ihre inneren Verhältnisse in Selbstverwaltung, die vom Gebiets-/Stadtkommissar oder seinem Beauftragten beaufsichtigt wird …
e) Die arbeitsfähigen Juden sind nach Maßgabe des Arbeitsbedarfs zur Zwangsarbeit heranzuziehen. Die wirtschaftlichen Interessen förderungswerter Landeseinwohner dürfen durch die jüdische Zwangsarbeit nicht geschädigt werden. Die Zwangsarbeit kann im Arbeitskommando außerhalb der Ghettos, im Ghetto oder, wo Ghettos "noch nicht errichtet sind, auch einzeln außerhalb der Ghettos" (z.B. in Werkstatt des Juden) geleistet werden. Die Vergütung hat nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur der Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhaltes für die Zwangsarbeiter und seine nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder unter Berücksichtigung seiner anderen Barmittel zu dienen … Diejenigen privaten Einrichtungen und Personen, zu deren Gunsten die Zwangsarbeit erfolgt, zahlen ein angemessenes Entgelt an die Kasse des Gebietskommissars, die wiederum die Vergütung an die Zwangsarbeiter auszahlt. Über die Verrechnung der eingegangenen Geldbeträge ergeht besondere Anordnung. 6. Es bleibt den Generalkommissaren überlassen, die unter Ziffer V genannten Maßnahmen einheitlich für ihr Gebiet anzuordnen oder ihre Anordnung den einzelnen Gebietskommissaren zu überlassen. Ebenso sind die Generalkommissare berechtigt, im Rahmen dieser Richtlinien nähere Anordnungen zu treffen, oder ihre Gebietskommissare dazu zu ermächtigen …"
In einem weiteren Erlass des Reichskommissars, Abteilung Finanzen (Vialon), an die Generalkommissare vom 27.08.1942 über die "Verwaltung der jüdischen Ghettos" ist zum Arbeitseinsatz jüdischer Arbeitskräfte ausgeführt:
" … III. 2. Gegenstand der Vermögensverwaltung ist hiernach in erster Linie das vorhandene Mobiliarvermögen. Hierzu tritt die Ausnutzung der Arbeitskraft der Juden, die insoweit als angefallenes Vermögen gilt. Die Vermögensverwaltung ist durch den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete den Finanzabteilungen übertragen, die diese Aufgaben unmittelbar oder über die Stadt- und Gebietskommissare erfüllen … 4. Die Nutzung der Arbeitskraft der Juden geht in zweierlei Form vor sich: a) durch Vermietung an öffentliche oder private Arbeitgeber, b) durch Betrieb von Werkstätten (Regiebetrieb)
(abgedruckt in: Benz/Kwiet/Matthäus, S. 153 ff).
Seit dem Einmarsch der deutschen Truppen operierten die mobilen Einsatzkommandos der SS in Litauen und ermordeten systematisch Juden. Die jüdische Bevölkerung wurde im Sommer/Herbst 1941 in Ghettos konzentriert. Die Ghettos sollten eine Streuung der jüdischen Bevölkerung verhindern und die spätere Ermordung erleichtern (siehe Hilberg, S. 366 f). Ende Dezember 1941 wurden die "Aktionen" eingestellt. Am 21.06.1943 wurden auf Befehl Himmlers alle Ghettos im Reichskommissariat "Ostland", auch in Litauen, mit Wirkung zum 01.08.1943 unter SS-Verwaltung gestellt. Er befahl die Auflösung der Ghettos, die Deportierung der arbeitsfähigen Ghettobewohner in Konzentrationslager und die Ermordung der übrigen Bewohner.
Demnach setzte der für das Reichskomissiariat "Ostland" zuständige Reichskommissar Lohse den durch die Verordnung vom 16.08.1941 eingeführten, strafbewehrten Arbeitszwang für alle in den neu besetzten Ostgebieten ansässigen Juden männlichen und weiblichen Geschlechts vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr in den Vorläufigen Richtlinien vom 18.08.1941 dahingehend um, dass alle arbeitsfähigen Juden im Alter von 14 – 60 Jahren nach Maßgabe des Arbeitsbedarfs zur Zwangsarbeit heranziehen waren. In der Richtlinie wird weder nach Geschlecht (Männer/Frauen), Aufenthaltsort (innerhalb oder außerhalb eines Ghettos), Lage der Arbeitsstätte (innerhalb oder außerhalb des Ghettos) oder Arbeitgeber (privater oder öffentlicher) unterschieden, sondern sämtliche Beschäftigungen von Juden werden von den Vorläufigen Richtlinien vom 16.08.1941 erfasst. Aus der Verwendung des Begriffs "Zwangsarbeiter" ist zu schließen, dass der Reichskommissar die Verwendung von jüdischen Arbeitskräften in freiwilligen Beschäftigungsverhältnissen ausschloss, also die jüdischen Arbeitskräfte zwecks Arbeitsaufnahme nicht aus dem bestehenden öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis entlies. Dies wird insbesondere aus den Bestimmungen des Erlasses vom 27.08.1942 deutlich, in denen die Arbeitskraft der Juden als "Vermögen" angesehen wird, dessen Verwaltung der Reichskommissar wahrnimmt, und die Form dieser "Vermögensverwaltung" – Vermietung der Arbeitskraft oder Betrieb von Werkstätten (Regiebetrieb) – festgelegt wird. Ein Wille des Reichskommissars, den jüdischen Arbeitskräften im Reichskommissariat "Ostland" einen Freiraum der wirtschaftlichen Betätigung durch Aufnahme eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses einzuräumen, ist nicht erkennbar. Die Tatsache, dass die jüdischen Arbeitskräfte nach den Vorläufigen Richtlinien vom 19.08.1941 eine Vergütung, deren Form nicht festgelegt war, erhalten sollten, begründet kein wirtschaftliches Austauschverhältnis zwischen der geleisteten Arbeit und dem gezahltem Entgelt, was unabdingbarer Bestandteil eines "freien" Beschäftigungsverhältnisses ist. Denn nach dem Willen des Reichskommissars sollte die Vergütung keine Entlohnung für die geleistete Arbeit darstellen, sondern nur geeignet sein, den notdürftigen Lebensunterhalt des Zwangsarbeiters und seiner nicht arbeitsfähigen Familienangehörigen zu sichern, und damit als Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft des zur Arbeit gezwungenen Beschäftigten gedacht sein. Leistungen, die nicht der Entlohnung einer geleisteten Arbeit, sondern anderen Zwecken dienen, stellen kein Entgelt im Sinne des Rentenversicherungsrechts dar (siehe BSG, Urteil vom 19.04.1990, – 1 RA 91/88 -). Auch stellen die zu erbringenden Zahlungen von privaten Dritten, die die Leistungen von jüdischen Arbeitskräften in Anspruch nahmen, an die Kasse des Gebietskommissars kein Entgelt dar, da das Arbeitsentgelt dem Beschäftigten selbst zufließen muss. Die Abführung von Beträgen des Arbeitgebers für geleistete Arbeit an Dienststellen des Staates stellt keine Entlohnung dar (BSG, Urteil vom 10.12.1974, – 4 RJ 379/73 -). Die in den Vorläufigen Richtlinien vom 18.08.1941 festgelegte Dreiecksbeziehung zwischen den jüdischen Arbeitskräften, den privaten Dritten und dem jeweiligen Gebietskommissar lässt sich zusammenfassend als öffentlich-rechtlich organisierte Dienstverschaffung zugunsten privater Unternehmen charakterisieren. Dafür spricht auch, dass der Generalkommissar in Kauen in der Verordnung über den Aufbau einer Sozialversicherung vom 01.05.1943 die Dienstverhältnisse von Juden als nicht sozialversicherungspflichtig ansah.
Entsprechend den Vorgaben der Vorläufigen Richtlinien vom 19.08.1941 konkretisierte der Gebietskommissar für die Stadt Wilna bzw. dessen Dienststellen in mehreren Anordnungen aus 1941/1942 die Durchführung der Zwangsarbeit und setzte den Arbeitszwang auch tatsächlich um. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass neben der Ausführung von Zwangsarbeit in Wilna für die Ghettobewohner die Möglichkeit bestand, eine Beschäftigung in Form eines freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses auszuüben. Nach Auswertung der beigezogenen Dokumente und Literatur stellen sich dem Senat die Verhältnisse in Wilna wie folgt dar:
Am 24.06.1941 marschierten deutsche Truppen in Wilna ein. Zu dieser Zeit lebten ca. 57.000 Juden in Wilna. In der Zeit vom 24.06. – 04.07.1941 ermordeten litauische Einheiten jüdische Bewohner (ca. 50 Opfer pro Tag). Im Juli 1941 (04.07 – 20.07.1941) trieb das Einsatzkommando 9 ca. 5.000 jüdische Männer zusammen, transportierte sie nach Ponar (ca.12 km von Wilna entfernt) und ermordete sie. In der Zeit vom 20.07 – 08.08.1941 operierte eine kleine Einheit des Einsatzkommandos 9 in Wilna (ca. 50 Opfer pro Tag).
Ab August 1941 war der Gebietskommissar Hingst für die Stadt Wilna, sein Adjutant SS-Standartenführer Murer für jüdische Angelegenheiten zuständig. In der Zeit vom dem 31.08 bis zum 03.09.1941 wurden ca.3.700 Juden nach Ponar verschleppt und ermordet, am 02.09.1941 wurde der Judenrat auf deutschen Befehl aufgelöst. Es wurden zwei Ghettos errichtet und die jüdische Bevölkerung aus dem gesamten Stadtgebiet am 06.09.1941 in die Ghettos zwangsumgesiedelt, ca. 29. – 30.000 Personen in das große Ghetto und ca. 9. – 11.000 Personen in das kleine Ghetto. Etwa 6.000 Personen wurden während der Zwangsumsiedlung nach Ponar transportiert und ermordet. Die deutschen Besatzungsbehörden verfügten die Errichtung von Judenräten in beiden Ghettos. Die Judenräte hatten Abteilungen für Lebensmittel, Gesundheit, Wohnen, Arbeit und eine allgemeine Abteilung für organisatorische und andere Angelegenheiten. Es wurde eine jüdische Polizei gebildet, deren Führer Jakob Gens war. Am Montag, den 08.09.1941, dem ersten Werktag nach der Ghettobildung, gingen die Ghettobewohner zur Arbeit an ihren bisherigen Arbeitsplätzen. Die Betriebsinhaber stellten ihren Arbeitskräften Arbeitsausweise aus, deren Anzahl nicht beschränkt war. Des weiteren stellte die Abteilung für Arbeit des Judenrats gemäß den Anforderungen des deutschen Arbeitsamts Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Betriebsinhaber fragten direkt beim Judenrat nach Arbeitskräften nach.
In der Zeit vom 15.09. bis zum 21.10.1941 wurden Familien, in denen keiner der Elternteile eine Arbeitstelle mit Arbeitsausweis hatte, in das "kleine" Ghetto überführt. Andere Familien, in denen ein Elternteil im Besitz einer Arbeitserlaubnis war, wurden vom "kleinen" in das "große" Ghetto umgesiedelt. In der Zeit vom 15.09. – 17.09.1941 wurden aus dem "großen" Ghetto ca. 1.200 – 2.950 Bewohner nach Ponar transportiert und dort erschossen. Am 01.10.1941 wurden ca. 2.300 – 3.900 Bewohner der beiden Ghettos in Ponar erschossen. Im Oktober 1941 wurde das "kleine" Ghetto durch drei "Liquidierungsaktionen" aufgelöst und die Bewohner (5.496 – 7.500 Personen) wurden ermordet.
Mitte Oktober 1941 wurde die Genehmigung der Beschäftigung jüdischer Arbeitskräfte, die Festlegung des Umfangs der Arbeiterkontingente und die Ausstellungen von Arbeitsausweisen beim deutschen Arbeitsamt zentralisiert. Der Gebietskommissar der Stadt Wilna regelte mit Rundschreiben Nr.1 vom 15.10.1941, adressiert an alle Betriebe und Ämter des Gebietes Wilna Stadt, den Einsatz von jüdischen Arbeitskräften. Das Rundschreiben lautete wie folgt:
" …betr.: Lohnzahlung an jüdische Arbeitskräfte.
1 Ab 10.10.1941 sind die jüdischen Arbeitskräfte zu bezahlen. Der Arbeitslohn beträgt
a) für männliche Arbeiter vom 16. – 60. Lebensjahr pro Stunde RM 0,20.
b) für weibliche Arbeitskräfte vom 16. – 60. Lebensjahr pro Stunde RM 0,15.
c) für jugendliche Arbeiter unter 16. Jahren pro Stunde RM 0,10.
Diese Lohnsätze gelten nur für private Arbeitgeber. Zivile deutsche Dienststellen, Wehrmachtsdienststellen und die Stadtverwaltung Wilna bezahlen die Hälfte der oben angebenen Sätze. Die privaten Arbeitgeber sind verpflichtet, die Hälfte der oben angeführten Lohnsätze an die Juden zur Auszahlung zu bringen, während die andere Hälfte an das Gebietskommissariat abzuführen ist. Um die jüdische Facharbeiterkraft zu erhalten, ist es wünschenswert, dass die Arbeitgeber den arbeitenden Juden eine warme Mittagssuppe verabreichen. Für diese kann von dem an die Juden auszuzahlenden Tageslohn ein Betrag von RM 0,30 in Abzug gebracht werden.
2 Vor Auszahlung der Löhne an die Juden sind die Lohnlisten beim Gebietskommissariat vorzulegen und die Hälfte der Lohnsumme ist dort selbst einzuzahlen. Sämtliche Betriebe und Aemter die Juden beschäftigen, haben sofort schriftlich zu melden, wieviel Juden beschäftigt werden. Werden die Lohngelder bei der litauischen Staatsbank abgehoben, so kann dort die Einzahlung der Hälfte der Löhne auf das Konto des Gebietskommissars erfolgen. Die Höhe der eingezahlten Summe ist dem Gebietskommissar schriftlich zu melden. Für Juden müssen besondere Lohnlisten geführt und als solche gekennzeichnet werden.
3 Jüdische Arbeitskräfte können nur vom Arbeitsamt Wilna angefordert werden. Das Arbeitsamt bewilligt jüdische Arbeitskräfte nur in Stärke von 10 Mann aufwärts. Nur in Ausnahmefällen können einzelne Juden vermittelt werden. Diese Juden haben sich mit einem besonderen Ausweis ausgestellt vom Arbeitsamt auszuweisen.
4 Diese Juden haben geschlossen und auf dem kürzesten Weg die Arbeitsstätte aufzusuchen und zuverlassen.Das unbefugte Verlassen der Arbeitsstätte ist verboten.Einzeln in der Stadt herumlaufende Juden werden verhaftet. Der Arbeitgeber hat die Juden so zu beaufsichtigen, dass sie den Arbeitsplatz nicht verlassen können. Ist er dazu nicht in der Lage, so wird eine weitere Zuteilung von jüdischen Arbeitskräften an ihn eingestellt. Bei Einbruch der Dunkelheit haben die Juden in das Ghetto geschlossen zurückzukehren."
(abgedruckt in: Kruk, S. 90).
Das deutsche Arbeitsamt bestimmte die Gesamtzahl der jüdischen Arbeitskräfte für jede Arbeitsstätte und stellte einen neuen einheitlichen Arbeitsausweis für jeden Beschäftigten, den sog. "gelben" Schein, aus. Die Festlegung der Anzahl der Arbeitskräfte erfolgte, unabhängig von dem jeweiligen Bedarf an Arbeitskräften des jeweiligen Betriebs. Die Betriebsinhaber legten fest, welche ihrer Arbeitskräfte einen Ausweis erhalten sollten, die Namenslisten wurden dem deutschen Arbeitsamt übermittelt, das die Ausweise ausstellte. Die jüdischen Arbeitskräfte versuchten teilweise durch die Zahlung vom "Schutzgeld" an die Arbeitgeber auf die Zusammenstellung der Namensliste Einfluss zu nehmen. Die Arbeitsausweise wurden als Facharbeiter-Ausweis bezeichnet. Der "gelbe" Arbeitsschein hatte u.a. folgenden Aufdruck
"\tArbeitsamt Wilna\t\t …
Facharbeiter Ausweis Nr.
…
ist bei\t\t\tals
beschäftigt und darf ohne Einwilligung des Arbeitsamts nicht anderweitig verwendet werden.
Dieser Ausweis hat nur Gültigkeit in Verbindung mit dem Personalausweis und ist befristet bis zum …"
(abgedruckt in: www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/ghetto.htm).
Das deutsche Arbeitsamt stellte 3.000 Arbeitsausweise aus, 400 Ausweise wurden dem Judenrat für die eigenen Mitarbeiter, einschließlich der Polizei ausgehändigt. Der Inhaber eines "gelben" Scheins konnte auf der Rückseite des Scheins drei Familienmitglieder (den Ehepartner und zwei Kinder unter 16 Jahren) eintragen, denen später sog. blaue Scheine ausgehändigt wurden. Es war untersagt, eine andere Person als den Ehepartner oder zwei Kinder unter 16 Jahren einzutragen. Falls ein Ausweisinhaber keine Familienangehörige hatte, welche die Anforderungen erfüllten, wurde eine fiktive Familie zusammengestellt und in die Ausweise eingetragen. Mit der Ausgabe des gelben Scheins, die am 23.10.1941 beendet war, wurden die früheren Arbeitsausweise ungültig.
Am 24.10.1941 wurden die Inhaber der gelben Arbeitsausweise aufgefordert, mit ihren im Ausweis aufgeführten Familienangehörigen zu ihren Arbeitsstätten zu gehen. Nach einer Kontrolle durch die SS verließen die Arbeitkräfte mit ihren Familienangehörigen das "große" Ghetto. Mitarbeiter des Judenrats wurde befohlen, sich mit ihren Familienangehörigen im Hof des Gebäudes des Judenrats einzufinden. Anschließend durchsuchte die SS mit litauischen Hilfskräften das Ghetto, nahmen ca. 3.781 bis 5.000 Bewohner gefangen, die später in Ponar ermordet wurden. In einer weiteren "Aktion" Ende Oktober 1940 wurden ca. 1.533 Personen, die keinen gelben Arbeitsausweis besaßen, nach Ponar abtransportiert.
Am 03.11.1941 gaben die deutschen Besatzungsbehörden bekannt, dass alle Inhaber eines gelben Ausweises mit ihren Familienangehörigen für drei Tage in das geräumte "kleine" Ghetto umziehen sollten. Nach einer Kontrolle verließen die Ausweisinhaber und deren Familienangehörigen das Ghetto. In der Zeit vom 03.11- 5.11.1941 fanden Hausdurchsuchungen im "großen" Ghetto nach sogenannten "illegalen" Bewohnern statt, es wurden ca. 1.341 Personen gefangen und in Ponar ermordet. Am Abend des 05.11.1941 kehrten die Ausweisinhaber mit ihren Familienangehörigen in das Ghetto zurück.
Da nach den "Aktionen" mehr Wohnraum zur Verfügung stand, wurden auf Initiative der Betriebsinhaber teilweise die Wohnungen im Ghetto nach dem Beschäftigungsort der Beschäftigten verteilt, die Beschäftigte eines Betriebes wohnten in benachbarten Häusern, den sogenannten "Blocks". Im Dezember 1941 wurden zwei weitere "Aktionen" im Ghetto durchgeführt. Im Dezember 1941 verteilten die deutschen Besatzungsbehörden an die Familienangehörigen der Inhaber eines gelben Ausweises einen Familien-Ausweis, den sogenannten rosafarbenen Schein, der von der jüdischen Polizei ausgestellt wurde und nur im Ghetto galt. Des weiteren wurde der rosafarbene Schein für Handwerker, die keinen gelben Ausweis hatten, deren Familienangehörige, ehemalige Personen des öffentlichen Lebens, Rabbis und Angehörige der freien Berufe verteilt. In der Zeit vom 20.12 – 23.12.1941 wurde das Ghetto nach Bewohnern ohne gelben oder rosafarbenen Ausweis durchsucht. Es wurden ca. 385 Personen abtransportiert.
In der Zeit von Juli bis Dezember 1941 ermordete die deutsche Besatzungsmacht ca. 33.000 – 33.500 Juden in Wilna. In der Zeit zwischen Anfang 1942 bis Frühjahr 1943 wurden keine weiteren Massenvernichtungsaktionen durchgeführt. Im Ghetto verblieben ca.12.000 "legale" und ca. 8.000 "illegale" Bewohner. Ende 1941/Anfang 1942 arbeiteten ca. 3.000 Bewohner außerhalb des Ghettos in circa 190 militärischen und zivilen Arbeitstätten, etwa 1.000 Personen waren im Judenrat und seinen Unterabteilungen innerhalb des Ghettos beschäftigt. Größtenteils waren es Männer.
Am 07.04.1942 gab SS-Standartenführer Murer "Richtlinien und Anweisungen zum Einsatz jüdischer Arbeitskräfte", heraus. In diesen Richtlinien wurde u.a. festgelegt:
-Das Ghetto unterliegt der alleinigen Kontrolle des Gebietskommissariats, der Einsatz jüdischer Arbeitskräfte erfolgt über das Sozialamt des Gebietskommissariats.
-Dem Befehl vom 20. September 1941 des Befehlshabers der Wehrmacht im Ostland zufolge ist es der Armee verboten, mit den Juden zu kooperieren, sie anzustellen oder Arbeitsgenehmigungen für Juden auszustellen, die für sie arbeiten …
-Juden sollen in Gruppen von mindestens 10 Personen, die von jüdischen Gruppenleitern angeführt werden, zur Arbeit gehen. Einzelpersonen ist es nicht gestattet, sich außerhalb des Ghettos zu bewegen, es sei denn, sie besitzen eine Sondergenehmigung.
Die Zeiten, in denen das Ghetto für den Weg zur Arbeit außerhalb verlassen werden darf, sind ab 6 Uhr morgens für die Rückkehr ab 15 Uhr bis zum Einbruch derDunkelheit, spätestens bis 20 Uhr.
-Die Arbeitgeber haben dafür Sorge zu tragen, dass die für sie arbeitenden Juden keinen Tauschhandel betreiben und bei Rückkehr ins Ghetto keine Lebensmittel oder Brennholz mitnehmen.
-Für die jüdischen Arbeiter gelten folgende Löhne: Männer über 16 – 0,15 Mark pro Stunde, Frauen über 16 – 0,12 Mark pro Stunde, Jugendliche unter 16 – 0,10 Mark pro Stunde.
-Alle Arbeitgeber außer der Armee und der Stadtverwaltung müssen dem Gebietskommissariat einen Betrag zahlen, die der Summe aller von ihm für Juden gezahlten Löhne entspricht. Die Arbeitgeber sind berechtigt, 0,30 Mark für jeden ausgegebenen Teller Suppe abzuziehen.
-Der Jude ist der Feind Deutschlands und verantwortlich für den Krieg. Er ist Zwangsarbeiter und der Kontakt mit seinen Arbeitgebern außer bezüglich Arbeitsangelegenheiten ist ihm untersagt. Jeder, der Kontakt zu Juden unterhält, wird wie ein Jude behandelt.
-Die Möglichkeit, jüdische Arbeiter zugeordnet zu bekommen, wird den Institutionen und Arbeitgebern verweigert, die sich nicht an diese Anweisungen halten.
(zitiert nach: Arad, S. 279 f).
Der monatliche Durchschnittslohn nichtjüdischer Arbeiter belief sich für Facharbeiter auf 100 Mark, für Hilfsarbeiter auf 63 Mark und für eine Frau auf 52 – 62 Mark. Der Monatslohn eines gelernten jüdischen Arbeiters belief sich, ausgehend von einer Arbeitszeit von 8 Stunden täglich, nach der Richtlinie auf 25 bis 38 Mark (siehe Arad, S. 280 Fußnote 12). Unter dem 15.04.1942 gab der Leiter des Amtes für Soziales des Gebietskommissariats Wilna folgendes bekannt:
" Bekanntmachung an Inhaber des gelben Ausweises.
Hiermit wird bekannt gegeben, dass die Gültigkeit der gelben Ausweise am 30. April 1942 endet und sie bis zu diesem Datum durch neue Scheine ersetzt werden.
Die neuen Scheine werden für unbegrenzte Dauer ausgestellt und vom Regierungsinspektor Wagner unterzeichnet.
…Die Inhaber der neuen Scheine:
1. müssen den Schein jederzeit mit sich tragen,
2.müssen ihnen angebotene Arbeit sofort annehmen,
3.dürften ihren Arbeitsort nicht ohne Genehmigung wechseln,
4.müssen die Anweisungen der Ämter für Soziales und der Arbeit des Ghettos, die im Auftrag des Direktors des Gebietskommissariats arbeiten, jederzeit befolgen,
5.müssen das Amt für Arbeit des Ghettos sofort informieren, falls ein Inhaber eines Ausweises seinen Arbeitsplatz verlässt,
6.müssen das Arbeitsamt über eine Adressänderung sofort informieren …"
(zitiert nach: Arad, S.281 f).
In der Zeit vom 16.04 bis 30.04.1942 wurden die neuen Arbeitsausweise von der Abteilung für Arbeit des Judenrats ausgeben. Die Anzahl war nicht beschränkt. Die Ausweise wurden an Inhaber der gelben und rosafarbenen Ausweisen sowie jedem arbeitsfähigen "illegalen" Ghettobewohner, d.h. ohne Ausweispapiere, ausgehändigt. Die Arbeitsausweise waren nummeriert, mit dem Stempel des deutschen Sozialamtes versehen. Der Arbeitsausweis enthielt folgende Bestimmungen:
" …"Bestimmungen:
a.\t Der Inhaber dieses Ausweises ist verpflichtet, diesen stets bei sich zu tragen.
b.\t Die zugewiesene Arbeit ist sofort anzunehmen.
c.\t Eigenmächtiges Verlassen der Arbeitsstätte ist strafbar.
d.\t Den Anordnungen des Sozialamtes und der von ihm beauftragten Arbeitsabteilung im Ghetto ist folge zu leisten.
e.\tEntlassungen sowie Adressänderungen sind sofort zu melden.
f.\tNichtbefolgung vorstehender Bestimmungen wird bestraft.
Der Gebietskommissar in Wilna
-Sozialamt -"
(abgedruckt in: The Jewish Museum, "Vilnius Ghetto: List of Prisoners", S.120).
Das Amt für Arbeit im Judenrat war für die Kontrolle der jüdischen Arbeitskräfte zuständig. Es erhielt seine Aufträge vom deutschen Arbeitsamt und war verantwortlich für die Erfüllung der Anforderungen von Arbeitskräften. Teilweise musste unter Einsatz einer besonderen Polizeieinheit, der sog. Arbeitspolizei, Ghettobewohner gezwungen werden, bestimmte Arbeitsstellen, die wegen der ihrer schlechten Arbeitsbedingungen und Arbeitgeber bekannt waren, anzunehmen. Die jüdische Arbeiterkräfte, die einer bestimmte Arbeitsstätte zugeteilt waren, wurden jeweils von einem "Brigadier" oder Vorarbeiter geführt. Die Brigadiers hielten den Kontakt mit den jeweiligen Betriebsinhabern.
Unter dem 29.04.1942 legte SS-Standartenführer Murer die Aufgaben der jüdischen Polizei in den "Anweisungen für die Arbeitsweise der jüdischen Polizei" fest.
"Dem Grundsatz, dass die jüdische Bevölkerung ihre Angelegenheiten selbst verwaltet folgend, werden alle Befehle des Gebietskommissars der Stadt Wilna mit Unterstützung der jüdischen Polizei durchgesetzt. Litauische Wachen fungieren als Aufsichtsorgan. Die Anweisungen für die jüdische Polizei lauten:
…
3. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Befehle und Anweisungen des Gebietskommissars der Stadt Wilna vorbehaltlos auszuführen. Der von mir eingesetzte Chef der jüdischen Polizei und die Polizisten unter seinem Befehl sind mir unterstellt.
4.Die Folgenden Anweisungen sind genauestens zu befolgen:
(a) Nur Juden, die außerhalb des Ghettos arbeiten, ist es erlaubt, das Ghetto zu verlassen.
(b) Ohne Sondergenehmigung durch den Gebietskommissar können die Arbeiterkolonnen das Ghetto nur zwischen 6 Uhr und 9 Uhr morgens verlassen. Die Rückkehr von der Arbeitsstätte muss zwischen 15 und 20 Uhr erfolgen.
(c) Arbeitsaufträge für die Werkstätten im Ghetto, die von Einrichtungen oder Einzelpersonen erteilt werden, müssen von mir genehmigt werden. Rechnungen über im Ghetto verrichtete Arbeiten werden vor dem Versand an die Auftraggeber an mich weitergeleitet.
(d) Die Einstellung von Juden als Arbeitskräfte wird außer in Sonderfällen nur für Gruppen ab 10 Juden anerkannt … Jüdische Polizeipatrouillen überwachen und gewährleisten die Befolgung dieser Anweisung.
(e) Jüdische Arbeiter ordnen sich den Anordnungen des "Brigadiers" (Kolonnenführer) unter, dessen Aufgabe es ist, sie zur Arbeit und von der Arbeit zurück zu begleiten. Der "Brigadier" stellt sicher, dass die ihm unterstellten Männer keine Nahrungsmittel kaufen …
(f) Die Wachen am Ghettotor stellen sicher, das keine Nahrungsmittel oder sonstige Güter ohne Genehmigung des Gebietskommissars ins Ghetto gebracht werden.
(g) Das Recht, Nahrungsmittel zu liefern, ist den für diese Zwecke anerkannten Unternehmen vorbehalten. Die jüdische Polizei muss Nahrungsmittel oder andere Güter beschlagnahmen, auch wenn Juden von litauischen oder deutschen Einrichtungen einschließlich der Wehrmacht ermutigt wurden, diese ins Ghetto zu bringen. Mir ist über die Menge der beschlagnahmten Nahrungsmittel und Waren Bericht zu erstatten, ebenso über die Namen der Firmen, die sie geliefert haben …
…
5. In allen Fällen, in denen Juden, "Brigadiers" und die jüdische Polizei sich des Verstoßes gegen die vom Gebietskommissar der Stadt Wilna erlassene Befehle schuldig machen, wird die Todesstrafe verhängt."
(zitiert nach: Arad, S.287 ff).
Die Verteilung der Nahrung im Ghetto wurde offiziell über das Amt für Ernährung organisiert. Die von den deutschen Besatzungsbehörden zugeteilten Rationen betrugen weniger als die Hälfte der Rationen, die pro Kopf für die nichtjüdische Bevölkerung vorgesehen waren. Der Umfang der gelieferten Lebensmittelrationen entsprach der Anzahl der Personen mit Lebensmittelkarten, die der Anzahl der Personen mit Ausweisen entsprach. Mitte 1942 wurden die Rationen leicht angehoben. Um Überleben zu können, war der Schmuggel von Nahrungsmittel in das Ghetto bzw. der Ankauf weiterer Nahrungsmittel durch den Judenrat oder Genossenschaften im Ghetto unerlässlich. Größere Arbeitsstätten innerhalb des Ghettos bildeten Genossenschaften, die zusätzliche Lebensmittel für ihre Arbeiter organisierten.
Am 11.06.1942 wurde der Judenrat aufgelöst und der Polizeichef Jacob Gens zum alleinigen Ghetto-Beauftragten ernannt. Gens verfolgte im Ghetto eine Politik des "Überlebens durch Arbeit", jede körperlich arbeitsfähige Person im Ghetto musste arbeiten. Seine Idee war, die Arbeit der Juden im Ghetto für die Deutschen ökonomisch wichtig und damit die arbeitenden Juden unverzichtbar zu machen. Es entstanden im Ghetto Werkstätten und kleinere Industrien, wie etwa Textil- und Schneidermanufakturen, Holz- und Metallbetreibe. Die Gesamtzahl der jüdischen Beschäftigten in und außerhalb des Ghettos stieg von Juli 1942 bis Dezember 1942 von 8.064 auf 9.270, belief sich im April 1943 auf 10.115 Personen und stieg bis Sommer 1943 kontinuierlich auf 14.000 Personen an. Die Zahl der Beschäftigten innerhalb des Ghettos erhöhte sich von Juli bis Dezember 1942 von 1.393 auf 1.897 Personen und belief sich im Sommer 1943 auf ca. 3.000 Personen. Die Zahl der Arbeitsstätten, an denen jüdische Arbeitskräfte außerhalb des Ghettos eingesetzt waren, stieg von 234 im Juli 1942 bis Dezember 1942 auf 346. Die Stundenlöhne für jüdische Arbeitskräfte wurden Ende November 1942 auf 0,30 Mark für Hilfsarbeiter, 0,44 Mark für Facharbeiter und 0,50 Mark für Brigadiers angehoben. Die Arbeitszeit wurde von 8 Stunden täglich auf 10 Stunden erhöht (Arad, S. 335). Im März 1943 wurden die im April 1942 ausgegebenen Arbeitsausweise durch neue Identitätskarten, die auf gelbem Papier gedruckt waren, und durch Nummernschilder, die um den Nacken getragen werden mussten, ersetzt. Im Sommer 1943 waren mehr als 2/3 der Ghettobewohner an verschiedenen Arbeitsplätzen innerhalb und außerhalb des Ghettos beschäftigt. Im August und September 1943 wurde das Ghetto in Wilna aufgelöst und die Bewohner in estnische Konzentrationslager verschleppt.
Für den Senat ist schon fraglich, ob aufgrund der konkreten im Herbst 1941 herrschenden Verhältnisse im Ghetto Wilna von einem freien, selbstbestimmten Entschluss der Klägerin bzw. ihrer Mutter zur Aufnahme einer Arbeit ausgegangen werden kann. Zwar haben nach der Rechtsprechung für die Beurteilung der Frage, ob ein "freies" oder "unfreies" Beschäftigungsverhältnis vorliegt, die allgemeinen Lebensumstände der Verfolgten, die nicht die Arbeit und das Arbeitsentgelt als solches, sondern ihr häusliches, familiäres, wohn- und aufenthaltsmäßiges Umfeld betreffen, außer Betracht zu bleiben. Jedoch stellt sich die Frage, ob dies noch gelten kann, wenn eine Verfolgte der konkreten Bedrohung ihrer physischen Vernichtung durch aktives Handeln Dritter – Durchführung von "Aktionen" im Ghetto mit anschließender Ermordung der gefassten Personen in Ponar – ausgesetzt war und der Erhalt eines Arbeitsausweises als Beschäftigte bzw. geschütztes Familienmitglied neben dem Leben in der Illegalität im Ghetto die einzige zur Verfügung stehende Möglichkeit war, der Ermordung zu entgehen (ablehnend LSG Hamburg, Urteil vom 18.05.2005, – L 3 RJ 73/02 -). In der Zeit von Juli bis Dezember 1941 sind von der deutschen Besatzungsmacht ca. 2/3 der jüdischen Bevölkerung der Stadt Wilna getötet worden. Den Ghettobewohnern war die konkrete Gefahr der physischen Vernichtung bewusst. Aus der im Verfahren beigezogenen Literatur ergibt sich, dass die Ghettobewohner – auch unter Bildung von fiktiven Familien – versuchten, in den Schutzbereich des "gelben" Arbeitsausweises, teilweise unter Zahlung von Schutzgeld an ihre Arbeitgeber, einbezogen zu werden. Die übrigen Ghettobewohner versuchten durch den Bau von Verstecken, den sog. "Malinen", der Gefangennahme bei den Aktionen zu entgehen.
Selbst wenn noch von einem gewissen Maß an eigener Entscheidungsfreiheit der Klägerin bzw. ihre Mutter zur Beschäftigungsaufnahme ausgegangen wird, hatte die Klägerin keinen Einfluss auf die Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses. Vielmehr war aufgrund der Organisation des Arbeitseinsatzes von jüdischen Arbeitskräften in Wilna das Verhältnis zwischen der Klägerin und ihrem "Arbeitgeber" im Ghetto fremdbestimmt, hatte der Gebietskommissar für die Stadt Wilna überragenden Einfluss auf die Gestaltung dieses Verhältnisses. Der durch die Anordnungen des Gebietskommissar für die Stadt Wilna bzw. dessen Dienststellen aus 1941/1942 konkretisierte und tatsächlich umgesetzte Arbeitseinsatz von Ghettobewohnern in Wilna war dadurch gekennzeichnet, dass die Ghettobewohner, die zur Arbeitsaufnahme bereit und vorgesehen waren, durch die Ausgabe von Arbeitsausweisen vom deutschen Arbeitsamt/Sozialamt ab dem 15.10.1941 vollständig erfasst waren, das deutsche Arbeitsamt/Sozialamt alleinzuständig für die Zuweisung von jüdischen Arbeitskräften war, die Arbeitsabteilung im Ghetto dem deutschen Arbeitsamt bzw. Sozialamt direkt unterstellt war bzw. nach der Bekanntmachung vom 15.04.1942 im Auftrag des Sozialamtes handelte, die Zuweisung von Arbeitskräften in der Regel nur in einer Arbeitskolonne mit einer Mindeststärke von 10 Personen erfolgte, jüdische Arbeitskräfte verpflichtet waren, die zugewiesene Arbeit aufzunehmen, die Arbeitsaufnahme teilweise durch die Ghettopolizei zwangsweise durchgesetzt wurde, ein Wechsel der Arbeitstätte der Genehmigung des deutschen Arbeitsamtes/Sozialamtes bedurfte, Beginn und Ende der Arbeitszeit außerhalb des Ghettos vorgeschrieben war und die Dauer der Arbeitszeit von den Dienststellen des Gebietskommissars festgelegt wurde. Ein Arbeitsmarkt, der sich über Angebot und Nachfrage regulierte, existierte neben dem deutschen Arbeitsamt/Sozialamt nicht. Dies gilt auch für die Beschäftigungen innerhalb des Ghettos, da die Zuweisung zu solchen Arbeitsplätzen über das deutsche Arbeitsamt/Sozialamt erfolgte. Soweit die Ghettobewohner durch persönliche Beziehungen zu Mitarbeitern der Arbeitsabteilung oder den Brigadiers bzw. durch Geldzahlungen den Einsatzort beeinflussen konnten, nutzten diese nur eine Möglichkeit, die ihnen das System bot, sie konnten aber den Arbeitsplatz ohne Einschaltung des deutschen Arbeitsamts/Sozialamts nicht frei wählen. Auch aus der Vielzahl der Arbeitstätten außerhalb und innerhalb des Ghettos, an denen Ghettobewohner eingesetzt waren, lässt sich nicht ableiten, dass ein sich selbstregulierender Arbeitsmarkt bestand. Vielmehr ist dies nur ein Indiz dafür, dass das von den deutschen Besatzungsbehörden angestrebte Konzept der Ausnutzung der Arbeitskraft der Juden im Form von Zwangsarbeit erfolgreich umgesetzt wurde.
Auch die Tatsache, dass die jüdischen Arbeitskräfte nicht nur Sachbezüge in Form von Verpflegung am Arbeitsplatz sondern auch ein Barentgelt erhielten, spricht nicht gegen die Annahme eines "unfreien" Beschäftigungsverhältnisses. Denn entsprechend den Vorgaben in den Vorläufigen Richtlinien aus August 1941 über die Entlohnung bestand kein wirtschaftliches Austauschverhältnis zwischen Leistung und Entgelt. Im Rundschreiben vom 15.10.1941 legte der zuständige Gebietskommissar die Vergütung der jüdischen Arbeitskräfte auf etwa ein Drittel des üblichen Ortslohns für nichtjüdische Arbeitskräfte fest, wobei die Hälfte der Vergütung nicht an die jüdischen Arbeitskräfte ausgezahlt wurde, so dass die jüdischen Arbeitskräfte nur ein Sechstel des üblichen Ortslohn erhielten. Private Dritte, die jüdische Arbeitskräfte beschäftigten, mussten des weiteren ein Sechstel des üblichen Ortslohns an die Kasse des Gebietskommissars abführen. In den Richtlinien und Anweisungen zum Einsatz jüdischer Arbeitskräfte vom 07.04.1942 wurde die an die jüdischen Arbeitskräfte auszuzahlende Vergütung auf etwa ein Drittel des üblichen Ortslohns für nichtjüdischer Arbeitskräfte erhöht, den gleichen Betrag mussten alle Arbeitgeber außer der Armee und der Stadtverwaltung an den Gebietskommissar zahlen. Die jüdischen Arbeitskräfte wurden in diesen Richtlinien als Zwangsarbeiter bezeichnet. Die Einhaltung der Vorgaben über die Entlohnung wurde seitens des Gebietskommissars durch die Pflicht der Arbeitgeber, die Lohnlisten vor der Auszahlung der Löhne vorzulegen, kontrolliert.
Die in den Anordnungen der Dienststellen des Gebietskommissars festgelegten Bedingungen für den Arbeitseinsatz von jüdischen Arbeitskräften galten auch für die Beschäftigung innerhalb des Ghettos, eine Differenzierung zwischen den Einsatzorten ist den Anordnungen nicht zu entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus den "Anweisungen für die Arbeitsweise der jüdischen Polizei" vom 29.04.1942, dass Arbeitsaufträge für Werkstätten im Ghetto vom Adjudanten des Gebietskommissars, SS-Standartenführer Murer, genehmigt werden mussten, Rechnungen über im Ghetto verrichtete Arbeit vor dem Versand an den Auftraggeber an den Adjutanten weitergeleitet werden mussten und die jüdische Ghettopolizei für die Kontrolle der Einhaltung dieser Vorgaben zuständig war. Die Dienststellen des Gebietskommissars beschränkten sich somit nicht allein auf Zuständigkeit für die Zuweisung von Arbeitskräften an Werkstätten im Ghetto, sondern kontrollierten auch den Kontakt der Werkstätten mit Auftraggebern außerhalb des Ghettos und damit die wirtschaftliche Tätigkeiten der Werkstätten. Dies entspricht dem Erlass des Reichskommissars vom 27.08.1942, wonach die Arbeitskraft der Juden neben der Vermietung an öffentliche und private Arbeitgeber durch den Betrieb von Werkstätten (Regiebetrieb) erfolgten sollte.
Zusammenfassend ist den Anordnungen des Gebietskommissars für die Stadt Wilna nicht zu entnehmen, dass abweichend von den Vorgaben des Reichskommissars über den Arbeitseinsatz jüdischer Arbeitskräfte der Einsatz von jüdischen Arbeitskräften im Ghetto Wilna in Form von freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigungsverhältnissen organisiert wurde. Aus der beigezogenen Literatur und den Angaben der Klägerin ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass bei der tatsächlichen Gestaltung des Arbeitseinsatzes von den Anordnungen des Gebietskommissars abgewichen wurde. Vielmehr oblag der jüdischen Ghettopolizei die Durchsetzungen der Anordnungen des deutschen Arbeitsamtes/Sozialamtes, wurde der Wohnraum teilweise den Ghettobewohnern entsprechend ihrem Einsatzort zugewiesen. Zwar waren die Arbeitsbedingungen in den Werkstätten im Ghetto im Hinblick auf den Schutz vor Misshandlungen durch die Betriebsinhaber, die fehlende Bewachung auf dem Weg und bei der Arbeit und die größere Bewegungsfreiheit besser als bei Einsatzorten außerhalb des Ghettos. Dies ändert jedoch nichts an dem Charakter dieser Beschäftigung als "unfreies" Beschäftigungsverhältnis, da die Arbeit vom deutschen Arbeitsamt/Sozialamt zugewiesen wurde, Arbeitszeit und Höhe des Entgelts von staatlichen Stellen bestimmt wurden, wobei die Werkstätten der Kontrolle der Dienststellen des Gebietskommissars unterstanden. Dies ergibt sich aus den Richtlinien und Anweisungen zum Einsatz jüdischer Arbeitskräfte vom 07.04.1942 sowie aus der Tatsache, dass der Judenrat am 11.06.1942 aufgelöst und dem Chef der jüdischen Ghettopolizei Gens die Leitung des Ghettos übertragen wurde. Die jüdische Ghettopolizei unterstand dem SS-Standartenführer Murer.
Die Bedingungen im Ghetto Wilna sind nicht vergleichbar mit den Verhältnissen im Ghetto Lodz, die u.a. durch das Bestehen eines "Ghetto-Arbeitsmarktes" gekennzeichnet waren, der durch die Nachfrage nach jeweiligen Arbeitskräften aufgrund branchenspezifischer Anforderungen entstanden war und auf dem durch den Judenrat, der einer eigenen Stadtverwaltung mit umfangreicher Verwaltungsbürokratie entsprach, Arbeitskräfte je nach Arbeitsmarktlage in verschiedene Betriebe vermittelt wurden (siehe BSG, Urteil vom 18.06.1997, – B 5 RJ 66/95 -; Urteil vom 21.09.1999, -. B 5 RJ 48/98 R -). In Wilna forderten die Betriebsinhaber beim deutschen Arbeitsamt/Sozialamt jüdische Arbeitskräfte an, diese Stelle wies die Arbeitskräfte nach eigenem Ermessen zu, wobei die Arbeitskräfte in der Regel in einer Arbeitskolonne organisiert waren, die von einem Brigadier geleitet wurde, der für die Einhaltung der Anordnungen verantwortlich war. Das Amt für Arbeit im Judenrat, der am 11.06.1942 aufgelöst und durch den Chef der jüdischen Polizei als Ghetto-Beauftragten ersetzt wurde, handelte im Auftrag des deutschen Arbeitsamts/Sozialamts, ein eigenständiger Arbeitsmarkt entwickelte sich im Ghetto Wilna nicht.
Entgegen der Auffassung der Klägerin lässt sich aus den Vorschriften des ZRBG kein Anspruch auf Berücksichtigung der Beschäftigungszeit im Ghetto Wilna als Beitragszeit zur Erfüllung der Wartezeit ableiten. Das ZRBG regelt weder die Gleichstellung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto mit nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten nach § 55 Abs. 1 S. 1 SGB VI oder als fiktive Beitragszeit im Sinne von § 55 Abs. 1 S. 2 SGB VI. Der Senat folgt nicht der auch von den Rentenversicherungsträgern vertretenen Auffassung (siehe z. B. Dienstanweisung zum ZBRG der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 04.11.2005 Punkt 2), dass für die Anerkennung von Ghetto-Beschäftigungen als Beitragszeiten nach dem ZRBG eine Beziehung der Verfolgten im Sinne des BEG zur deutschen Rentenversicherung während der Verfolgungszeit nicht mehr erforderlich ist. Das ZRBG weitet nicht den Kreis der anspruchsberechtigten Verfolgten, der durch die Bestimmungen des SGB VI, des WGSVG (§§ 1, 20 WGSVG) und des FRG (§§ 1, 16, 17a FRG) festgelegt ist, aus. Vielmehr beschränkt sich der Anwendungsbereich des ZRBG auf die Bewertung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto sowie deren Zahlbarmachung ins Ausland, die nach § Abs. 3 S. 1 SGB VI (Beitragszeiten nach RVO) oder den Bestimmungen des FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt sind. Das ZRBG ändert oder ergänzt nicht die Bestimmungen des SGB VI über das Entstehen und den Bestand eines Stammrechts auf Rente, sondern es betrifft nur den sich aus dem Stammrecht ergebenden monatlichen Zahlungsanspruch. Denn durch die Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 ZRBG wird die in § 113 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI vorgesehene "Zahlungssperre" für Leistungen an den besonderen Personenkreis der Verfolgten des Nationalsozialismus, die unter den Bedingungen eines Ghettos beschäftigt waren, beseitigt. Damit sollen die im Rentenversicherungsrecht durch nationalsozialistisches Unrecht eingetretenen Nachteile insoweit ausgeglichen werden, als der typischerweise im Ausland wohnende betroffene Personenkreis in Zukunft über die ihm zustehenden Leistungen auch verfügen können soll (BSG, Urteil vom 03.05.2001, – B 13 RJ 34/04 R -). Die Bestimmungen des § 2 Abs. 1 Nr. 1 und § 3 ZRBG betreffen die Bewertung der Beitragszeiten mit Entgeltpunkten nach § 254d Abs. 1 Nr. 5 SGB VI, die Ermittlung des Zugangsfaktor sowie den Rentenbeginn und somit nicht das Entstehen des Rentenstammrechts.
Aus dem Wortlaut des ZRBG lässt sich nicht entnehmen, dass die in § 1 ZRBG definierten Beschäftigungszeiten in einem Ghetto Beitragszeiten nach § 55 SGB VI gleichgestellt werden und damit zur Erfüllung der Wartezeit geeignet sein sollen, unabhängig davon, ob die Verfolgten dem vom FRG, WGSVG oder der RVO erfassten Personenkreis angehören. Schon die Überschrift des Gesetzes "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" spricht dafür, dass die Regelungen nur Fragen des monatlichen Zahlungsanspruches betreffen, jedoch das Bestehen eines Rentenanspruchs voraussetzen. Der in § 1 Abs.1 ZRBG verwandte Begriff "Verfolgte" ist im ZRBG nicht näher definiert. Soweit in den Vorschriften des SGB VI (§ 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI bzw. § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO) und des WGSVG (§§ 1 Abs. 1, 20) auf die Verfolgteneigenschaft eines Berechtigten zur Berücksichtigung von rentenrechtlichen Zeiten abgestellt wird, handelt es um Verfolgte im Sinne des BEG, die einen durch die Verfolgungsmaßnahme bedingten Schaden in ihrer deutschen Rentenberechtigung erlitten haben, also in der Lage waren, zu Beginn und während der Verfolgungsmaßnahmen Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung zu erwerben (BSG, Urteil vom 08.09.2005, – B 13 RJ 20/05 – zu § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI; Urteil vom 14.08.2003, – B 13 RJ 27/02 R – zu § 1251 Abs.1 Nr. 4 RVO; Urteil vom 29.08.1996, – 4 RA 85/95 -). Aus dem Wortlaut des § 1 Abs.1 ZRBG ist nicht erkennbar, dass von diesem Verfolgtenbegriff abgewichen wird.
Auch aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 2 ZRBG lässt sich eine umfassende Gleichstellung der sog. "Ghetto-Beitragszeiten" mit nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten im Sinne von § 55 SGB VI nicht herleiten. § 2 Abs. 1 ZRBG bestimmt, dass für Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto Beiträge als gezahlt gelten, und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet. Durch § 2 Abs. 2 Nr. 2 ZRBG soll erreicht werden, dass die Zahlbarmachung einer Rente nicht mehr an den auslandsrentenrechtlichen Grundsätzen des SGB VI ( § 110 ff SGB VI) oder der fehlenden Beitragszahlung im Fall von Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG (§ 272 SGB VI) scheitert. Die "Ghetto-Beitragszeiten" gelten nur für die Zahlung ins Ausland als fiktive Bundesgebiets-Beitragszeiten und ermöglichen die Anwendung des § 113 SGB VI zu Gunsten der Verfolgten.
Des weiteren bewirkt auch § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG keine Anerkennung ausländischer Beschäftigungszeiten als Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung. Denn die dort geregelte Beitragsfiktion "für die Berechnung der Rente", d. h. die Ermittlung der Höhe der Entgeltpunkte nach § 254d Abs.1 Nr. 5 SGB VI, umfasst nicht die Berücksichtigung der betreffenden Zeit bei der Erfüllung der Wartezeit, also bei der Entstehung des Rentenstammrechts. Die Frage, ob eine Beschäftigungszeit, die nicht im Bundesgebiet zurückgelegt wurde, überhaupt in der deutschen Rentenversicherung berücksichtigt werden kann, ist keine Frage der Berechnung der Rente. Dies ergibt aus der Systematik des SGB VI, nach der die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und die Bestimmung der rentenrechtlichen Zeiten von der Berechnung der Rente getrennt sind. Das SGB VI unterscheidet im Zweiten Abschnitt (Renten, §§ 35 -105) zwischen den Bestimmungen über Rentenarten, den Voraussetzungen für einen Rentenanspruch, den Anspruchsvoraussetzungen für einzelne Renten (§ 35 ff SGB VI) – Bestimmungen, die das Entstehen des sog. Rentenstammrechts betreffen -, und den Bestimmungen über die Rentenhöhe und Rentenanpassung (§ 63 ff SGB VI), das Zusammentreffen von Renten und Einkommen (§ 89 ff SGB VI), Beginn, Änderung und Ende der Rente (§ 99 ff SGB VI) und Ausschluss und Minderung der Rente (§ 103 SGBVI) – Bestimmungen, die den monatlichen Zahlungsanspruch aus dem Rentenstammrecht, einschließlich der Bewertung der rentenrechtlichen Zeiten, betreffen -. Die Berechnung der Höhe eines Zahlungsanspruchs setzt systematisch das Entstehen eines Rentenanspruchs, d. h. die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen voraus. § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG kann daher nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die dort ausdrücklich " für die Berechnung der Rente" getroffene Regelung auch für die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen gilt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die nach den allgemeinen Regeln zu bestimmenden Beitragszeiten erst bei der anschließenden Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte nach §§ 70 ff SGB VI wie Zeiten, die im Geltungsbereich der RVO außerhalb des Bundesgebiets zurückgelegt worden sind, behandelt werden sollen und nicht schon bei der Prüfung, ob diese Zeiten überhaupt in den Versicherungsverlauf aufzunehmen sind. Des weitern setzt auch die Regelung des § 3 ZRBG über den anzuwendenden Zugangsfaktor sowie über den Beginn der Rente voraus, dass ein Rentenanspruch entstanden ist.
Die Beschränkung des Anwendungsbereichs des ZRBG auf die Bewertung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto sowie deren Zahlbarmachung ins Ausland, die nach § Abs. 3 S. 1 SGB VI (Beitragszeiten nach RVO) oder den Bestimmungen des FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt sind, widerspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers. Aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 14/8583) ist nicht die Absicht des Gesetzgebers zu entnehmen, alle Verfolgte, die in einem Ghetto freiwillig und entgeltlich beschäftigt waren, in die deutsche Rentenversicherung einzubeziehen und den Kreis der Anspruchsberechtigten über den in §§ 1 Abs.1, 20 WGSVG und §§ 1, 16, 17a FRG erfassten Personenkreis auszudehnen. Das zentrale Problem, das durch das Gesetz gelöst werden sollte, ist die Zahlbarmachung von Renten für Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto für Berechtigte mit einem Auslandswohnsitz, ohne dass die Berechtigten Vorleistungen in Form von Nachentrichtungen erbringen müssen bzw. ihnen eine fehlende Beitragsabführung oder das Verstreichen von Nachentrichtungsrechten vorgehalten werden kann. Dies ergibt sich aus der im Allgemeinen Teil des Gesetzesentwurfs vorangestellten Problemdarstellung, in der ausgeführt wird, dass die auf einer Beschäftigung in einem Ghetto beruhende Rente vielfach aus auslandsrentenrechtlichen Gründen nicht ausgezahlt werden kann, insbesondere weil Bundesgebiets-Beitragszeiten nicht im erforderlichen Umfang vorliegen. Im Allgemeinen Teil wird zwar ausgeführt, dass mit dem ZRBG von bestimmten Grundsätzen des Rentenrechts im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten als auch der Erbringung von Leistungen ins Ausland abgewichen wird. Die Verwendung des Ausdrucks "Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten", könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, die Bestimmungen im Fünften Titel des zweiten Abschnitts des SGB VI über "rentenrechtliche Zeiten", zu denen auch der Begriff der Beitragszeit in § 55 SGB VI, zu ergänzen, in dem er den Kreis der Anspruchsberechtigten ausdehnte. Jedoch wird im Wortlaut des § 1 Abs. 2 ZRBG ausgeführt, dass dieses Gesetz die rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG ergänzt. Die allgemeine Zielsetzung des WGSVG ist, das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, dass den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schaden ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten haben. Dabei knüpft der Gesetzgeber daran an, ob der Verfolgte vor oder im Anschluss an Verfolgungsmaßnahmen bereits rentenversichert war (BVerfG, Beschluss vom 04.01.1981, – 1 BvR 873/81 -). Dies bedeutet für Verfolgte, die vor oder im Anschluss an Verfolgungsmaßnahmen nicht im Geltungsbereich der RVO Beitragszeiten erworben habe, dass sie Beschäftigungs- und Beitragszeiten nach dem FRG erworben haben müssen, um von dem Geltungsbereich des WGSVG erfasst zu werden. Die Vorschriften des FRG knüpfen an bestimmte persönliche Voraussetzungen – Innehabung eines bestimmten Status und Erreichen eines bestimmten Lebensalters – an, wobei in § 20 WGSVG und § 17a FRG die Gleichstellung von vertriebenen Verfolgten mit anerkannten Vertriebenen geregelt ist.
Aus der Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 2 ZRBG ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber über die in §§ 20 WGSVG und § 17a FRG geregelte Gleichstellung von vertriebenen Verfolgten mit anerkannten Vertriebenen hinaus Verfolgte in die gesetzliche Rentenversicherung als Berechtigte einbeziehen wollte, die wegen fehlender Zugehörigkeit zum dSK oder fehlendem Erwerb von Beitragszeiten im Geltungsbereich der RVO außer den Beschäftigungszeiten in einem Ghetto keine weiteren berücksichtigungsfähige Beitragszeiten oder Ersatzzeiten erworben haben, also durch die Verfolgungsmaßnahmen kausal keinen Schaden in der deutschen Rentenversicherung erlitten haben. Denn diese Verfolgten wären im Verfolgungszeitraum nicht in der Lage gewesen, berücksichtigungsfähige Beitragszeiten für deutsche Rentenversicherung zu erwerben. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das ZRBG keine Wartezeitfiktion enthält, also für die Entstehung eines Rentenanspruchs die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit erforderlich ist. Allein durch "Ghetto-Beitragszeiten" können Verfolgte wegen der Dauer der Verfolgungsmaßnahmen, die mit der Besetzung des jeweiligen Heimatlandes (ab September 1939 bzw. Sommer 1941) durch die deutsche Armee begannen, und der kurzen Dauer der Existenz von Ghettos, die überwiegend in den Jahren 1942/43 aufgelöst wurden, die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllen, also kein Rentenstammrecht begründen. Damit ist der Rentenanspruch davon abhängig, dass die Verfolgten weitere berücksichtungsfähige Beitrags- und Ersatzzeiten vor und nach der Verfolgungszeit erwarben, also die im SGB VI, FRG und WGSVG festgelegten Zugangsvoraussetzungen zur deutschen Renteversicherung erfüllen oder Beitragszeiten nach über- und zwischenstaatlichem Recht erworben haben. Denn auch die Verfolgungsersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI setzen u.a. voraus, dass die Verfolgten zu Beginn der Verfolgungsmaßnahme die Voraussetzungen für die Einbeziehung in die gesetzliche deutsche Rentenversicherung erfüllten (BSG, Urteil vom 08.09.2005, – B 13 RJ 20/05 R – ).
Des weiteren ist der Gesetzesbegründung zu § 2 ZRBG, insbesondere zu § 2 Abs. 2 ZRBG zu entnehmen, dass der Gesetzgeber für die Berechnung der aus den sog. "Ghetto-Beitragszeiten" zu leistenden Rente, also nicht für die Entstehung der Rente, eine Beitragszahlung für eine nach den Reichsversicherungsgesetzen versicherungspflichtige Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets, d. h. für die Ermittlung der Höhe der Rente eine fiktive Beitragszahlung unterstellte und nur für die Erbringung von Leistungen aus den "Ghetto-Beitragszeiten" ins Ausland diese als Bundesgebiets-Beitragszeiten ansah, um durch diese Gleichstellung den Export der Rente nach den allgemeingültigen Grundsätzen des im SGB VI geregelten Auslandsrenterecht zu ermöglichen. Er schloss eine Zahlung von Rentenleistungen ins Ausland für Zeiten einer Beschäftigung außerhalb des Ghettos sowie ein wertmäßiges Mitziehen von Beitragszeiten, die außerhalb des Ghettos erworben worden sind, in § 2 Abs. 2 aus. Deshalb kann der Gesetzesbegründung nicht der Wille des Gesetzgebers entnommen werden, dass Verfolgte, die während der Verfolgungsmaßnahmen nicht dem Anwendungsbereich des WGSVG oder des FRG unterfielen, in die gesetzliche Rentenversicherung als Berechtigte miteinbezogen werden sollten, vielmehr beschränkte sich der Wille des Gesetzgebers darauf, Berechtigte, die nach den Vorschriften von WGSVG und FRG während der Verfolgungsmaßnahmen berücksichtigungsfähige Versicherungszeiten durch eine Beschäftigung im Ghetto erworben hatten, den Erhalt von Leistungen aus diesen Zeiten zu erleichtern.
Selbst wenn der Auffassung der Beteiligten gefolgt wird, dass Beschäftigungszeiten in einem Ghetto für Verfolgte im Sinne des BEG grundsätzlich Beitragszeiten nach § 55 SGB VI gleichgestellt sind, unabhängig davon, ob die Verfolgten zu dem von FRG oder WGSVG erfassten Personenankreis gehören, sind die Voraussetzungen des § 1 ZRBG nicht erfüllt. Nach § 1 Abs.1 gilt das ZRBG für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde (§ 1 Abs. 1 S. 1 Nr.1 ) und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom deutschen Reicht besetzt war (§ 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2). Eine Beschäftigung im Sinne von § 1 Abs.1 Nr. 1 ZRBG ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht, wie bereits ausgeführt wurde. Bei der Auslegung der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG verwandten Begriffe "aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen" und "gegen Entgelt ausgeübt" ist auf die Kriterien der Rechtsprechung des BSG zur Frage der versicherungsrechtlichen Einordnung und Abgrenzung von Zwangsarbeit zu versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in einem Ghetto abzustellen (vgl. Urteile vom 14.07.1999, – B 13 RJ 75/98 R – und – B 13 RJ 61/98 R -). Denn das ZRBG knüpft nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, erkennbar an die von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem Ghetto an. Eine Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises über die von der "Ghetto-Rechtsprechung" Begünstigten hinaus ist vom Gesetzgeber ersichtlich nicht beabsichtigt gewesen. Die in § 1 ZRBG genannten Kriterien folgen der Rechtsprechung des BSG und verdeutlichen die Abgrenzung gegenüber der nichtversicherten Zwangsarbeit, also unfreien Beschäftigungsverhältnissen (BSG, Urteil vom 7.10.2004, – B 13 RJ 59/03 R – ).
Der Erwerb von nach §§ 55 Abs. 1, 247 Abs. 3 S. 1 SGB VI zu berücksichtigenden Beitragszeiten nach der Befreiung der Klägerin aus dem Konzentrationslager am 02.05.1945 ist weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden.
Da keine Beitragszeiten glaubhaft gemacht worden sind, können wegen Fehlens der Versicherteneigenschaft keine Ersatzzeiten zur Erfüllung der Wartezeit berücksichtigt werden. Selbst wenn das Vorliegen einer Beitragszeit nach den Vorschriften des ZRBG als gegeben angesehen wird, sind die Voraussetzungen einer Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI nicht gegeben. Denn § 250 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI schützt nur die Situation, die zu Beginn der Verfolgungszeit bestand und die ohne die Verfolgungsmaßnahmen fortgedauert hätte. Da die Klägerin nicht dem dSK angehörte, hätte die Klägerin – ohne die nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen – keine Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten nach dem FRG, die vom deutschen Rentenversicherungsträger zu berücksichtigen wären, in Litauen erwerben können. Denn sie gehörte nicht zu dem durch das FRG erfassten Personenkreis (siehe BSG, Urteil vom 08.09.2005, – B 13 RJ 20/05 R -). Das ZRBG enthält keine Bestimmungen, welche die Regelung des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, insbesondere die geforderte Kausalität zwischen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahme und Schaden in der Rente, ergänzen oder ändern.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wird nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Erstellt am: 08.02.2006
Zuletzt verändert am: 08.02.2006