Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 27.12.2005 geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet der Antragstellerin für die Monate November und Dezember 2005 sowie Januar und Februar 2006 Leistungen nach § 20 SGB II in Höhe von je 345,00 EUR vorläufig zu erbringen. Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Der Antragstellerin wird für die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin B, N beigeordnet.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 12.01.2006), ist auch begründet. Die Antragstellerin hat Anspruch auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – mit dem Inhalt einer einstweiligen Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erbringung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II.
Sowohl der hierfür erforderliche Anordnungsgrund im Sinne einer Eilbedürftigkeit der Sache als auch der Anordnungsanspruch im Sinne eines materiell-rechtlichen Anspruches auf die begehrte Leistung sind nach dem sich aus §§ 86b Abs. 2 S. 4 SGB II i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – ergebenden Maßstab glaubhaft gemacht.
Eilbedürftigkeit ergibt sich aus der aktuellen Mittellosigkeit der Antragstellerin, die in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann Leistungen nach dem SGB II nur bis 0ktober 2005 bezogen hat. Glaubhaft gemacht sind auch die Voraussetzungen eines Anspruches der Antragstellerin auf Leistungen nach § 20 SGB II. Bedürftigkeit der Antragstellerin nach § 9 SGB II liegt unstreitig vor.
Bei der im einstweiligen Rechtsschutz alleine möglichen Prüfungsdichte ist auch von bestehender Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin im Sinne von § 8 SGB II auszugehen. Gründe für die Annahme, die Antragstellerin könnte aktuell gesundheitlich außerstande sein, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II), sind nicht ersichtlich und werden von der Antragsgegnerin auch nicht angeführt.
Zur Überzeugung des Senats ist auch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB II glaubhaft gemacht. Denn es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass der Antragstellerin die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könnte. Selbst dann, wenn die Antragstellerin als Polin keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – FreizügigkeitsG/EU – (FreizügG/EU) haben sollte, wäre wegen des Benachteiligungsverbotes nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die Erteilung eines Aufenthaltstitels in Anwendung der §§ 27 ff des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz – (AufenthG) in Betracht zu ziehen (Renner, Aufenthaltsrecht, 8. Aufl. 2005, § 27, vorläufige Anwendungshinweise 27.02). Insofern dürfte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragstellerin mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und aus dieser Ehe die am 00.00.2005 geborene Tochter T hervorgegangen ist. Die Antragstellerin nimmt am uneingeschränkten Recht ihres deutschen Ehemannes, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, mittelbar über Art. 6 Grundgesetz (GG) teil (Renner, a.a.0., § 28 Anm 2). Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 18.07.1979 – 1 BvR 56/77 – BverfGE 51, 384, 397) ausgeführt: "Da es grundsätzlich allein den Ehepartnern zusteht, selbstverantwortlich und frei von staatlicher Einflußnahme den räumlichen und sozialen Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens zu bestimmen, verdient die freie Entscheidung beider Eheleute, gemeinsam im Bundesgebiet zu leben, besonderen staatlichen Schutz, falls einer der Ehepartner die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt."
Der Antragstellerin kann derzeit auch nicht entgegengehalten werden, dass die familiäre Lebensgemeinschaft derzeit wegen des Aufenthaltes der Antragstellerin im Frauenhaus bzw. der Langzeittherapie des Ehemannes nicht gewährt werde. Denn die Lebensgemeinschaft wird nach allgemeiner Auffassung (Renner, a.a.0., § 27 Anm. 21) durch zeitweiligen auswärtigen Aufenthalt z.B. wegen Haft oder Unterbringung) nicht unterbrochen, wenn sie danach fortgesetzt wird. Vorliegend gibt es keine Hinweise dafür, dass die durch die Folgen der Alkoholkrankheit des Ehemannes gestörte familiäre Lebensgemeinschaft nicht wieder hergestellt werden würde. Vielmehr hält gerade die Stellungnahme des Jugendamtes vom 10.01.2006 fest, die Eheleute wollten perspektivisch zusammen bleiben und in gemeinsamer Wohnung mit ihrer Tochter leben (so der in das Beschwerdeverfahren eingeführte Bericht des Herrn C zur aktuellen Situation und den Perspektiven).
Der Senat hat den tenorierten Leistungszeitraum entsprechend dem Ziel des einstweiligen Rechtsschutzes, einer gegenwärtigen Notlage abzuhelfen, begrenzt auf die Zeit vom Monat der Antragstellung beim Sozialgericht bis zum Monat der Entscheidung. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung.
Die Beschwerde ist auch hinsichtlich der begehrten Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfolgreich, denn die Voraussetzungen hierfür nach §§ 73a SGG, 114ff ZPO liegen vor. Die Antragstellerin ist bedürftig; hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung sind aus den Gründen der vorstehenden Entscheidung anzunehmen. Der Senat nimmt hierauf Bezug.
Die Kosten der PKH-Beschwerde sind kraft Gesetzes nicht zu erstatten, § 127 Abs. 4 ZPO.
Eine Beschwerde gegen diesen Beschluss an das Bundessozialgericht ist nach § 177 SGG nicht zulässig.
Erstellt am: 27.04.2006
Zuletzt verändert am: 27.04.2006