Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 31.01.2006 geändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum 04.01. bis 31.05.2006 Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG entsprechend dem SGB XII zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde der Antragsteller vom 02.03.2006, der das Sozialgericht (SG) nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 06.03.2006), ist begründet.
Das SG hat die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu Unrecht abgelehnt. Danach kann das Gericht in der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 der Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Vorliegend kommt lediglich eine Regelungsanordnung nach § 86 Abs. 2 S. 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht sind (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG iVm § 120 Abs. 2 der Zivilprozessordnung).
Die Erfolgaussichten der Hauptsache sind bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen unter Umstände nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Soweit dies nicht möglich ist, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927 ff.).
Der Erlass der einstweiligen Anordnung ist hier erforderlich, um den Lebensunterhalt der Antragsteller zu sichern. Der Senat hat insoweit bereits wiederholt entschieden, dass der Erlass der begehrten Anordnung auf Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) dann nicht mit der Begründung versagt werden kann, es liege kein Anordnungsgrund vor, wenn der Anordnungsanspruch nach dem Ergebnis der summarischen Prüfung nicht zweifelhaft ist (vgl. Beschlüsse des Senats vom 23.01.2006 – L 20 B 15/05 AY ER – und 15.03.2006 – L 20 B 8/06 AY ER). Zur Begründung ist auf den aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/7387, Seite 112) zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers zu verweisen, dass die Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes bzw. des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) und damit die Gewährung deutlich höherer Leistungen nach Erhalt von Leistungen gemäß § 3 AsylbLG über 36 Monate der Regelfall sein soll (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.11.2005 – L 7 AY 4413/05 ER-B: "Die Antragsteller haben nunmehr über drei Jahre nur Sachleistungen nach § 3 AyslbLG und einen geringfügigen Bar-Betrag erhalten. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Zeit auch bei Anlegung sozialhilferechtlicher Maßstäbe ein Nachholbedarf entstanden ist. Es ist ihnen nicht zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten und weiter auf ein Existenzminimum unter dem Niveau des § 1 S. 1 SGB XII verwiesen zu werden.").
Der Senat hält daran fest, dass es den Leistungsberechtigten lediglich im Einzelfall zumutbar erscheint, z. B. bei erheblichen, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu klärenden Zweifeln am Bestehen des Anordnungsanspruches, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit (niedrigeren) Leistungen nach § 3 AsylbLG wirtschaften zu müssen (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 21.12.2005 – L 20 (9) B 37/05 SO ER).
Nach der gebotenen summarischen Prüfung spricht derzeit deutlich mehr für das Obsiegen der Antragsteller in der Hauptsache als dagegen; die von der Antragsgegnerin geltend gemachte rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist derzeit nicht ersichtlich.
Die Antragsgegnerin stützt sich im Wesentlichen darauf, die Antragsteller seien ohne die erforderlichen Einreisedokumente und ohne asylrelevante Gründe in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Laut Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 09.04.2002 sei der Asylantrag der Antragsteller offensichtlich unbegründet gewesen. Die Antragsteller hätten ihre sowjetischen Inlandspässe freiwillig einem Schlepper überlassen und diesen beauftragt, falsche Pässe zu besorgen. Die Ausreise oder Abschiebung sei wegen des Fehlens (echter) Pässe nicht möglich, so dass die Antragsteller geduldet werden müssten. Das Fehlen gültiger Pässe sei in der Regel dem Verantwortungsbereich der Passinhaber zuzuordnen, was insbesondere auch gelte, wenn diese ihre Pässe freiwillig einem Schlepper übergeben hätten.
Der Senat teilt diese Auffassung der Antragsgegnerin in diesem Fall nicht. Zwar ist in der Gesetzesbegründung (aaO) ausdrücklich als Beispielsfall der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts die Vernichtung des Passes genannt. In diesen Fällen entspreche es der Intention des Gesetzes, zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen.
Der hier zu entscheidende Sachverhalt, nämlich die behauptete und bisher von der Antragstellerin auch nicht substantiiert bestrittene Übergabe der Ausweispapiere an Schlepper noch vor der Einreise, unterscheidet sich jedoch von dem der nachträglichen, d. h. nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erfolgten Vernichtung der Pässe.
Für die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung des Aufenthalts ist zu fordern, dass die Ausweise bei oder nach der Einreise mit der Absicht vernichtet werden, den Aufenthalt zu verlängern. Hierfür fehlt vorliegend jeder Anhaltspunkt. Rechtsmissbräuchlich ist das Verhalten eines Asylbewerbers im Übrigen nur dann, wenn es erkennbar der Verfahrensverzögerung und somit der Aufenthaltsverlängerung dient, obwohl eine Ausreise möglich und zumutbar wäre. Dabei muss das rechtsmissbräuchliche Verhalten tatsächlich die Dauer des Aufenthalts beeinflusst haben (Mergler/Zink SGB XII, Stand August 2004, § 2 AsylbLG Rdnr. 26, 28). Einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten wie der Vernichtung von Ausweispapieren steht es jedenfalls nicht gleich, wenn die Ausweispapiere an einen Schleuser abgegeben werden, denn insoweit hat der einreisende Ausländer nicht freiwillig selbst seine Ausweispapiere vernichtet (vgl. wie hier LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2006 – L 8 B 13/05 AY ER -, das ausdrücklich darauf hinweist, dass es an der Absicht der Vernichtung der Ausweispapiere zum Zwecke der Aufenthaltsverlängerung fehle; vgl. auch Birk in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2005, § 2 AsylbLG Rdnr. 5 unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 03.06.2003 – 5 C 32/02 – zu § 2 AsylbLG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung, wobei es sich allerdings um eine fehlerhafte Verweisung handeln dürfte, da das in Bezug genommene Urteil keinerlei Rückschlüsse auf die Auslegung des Begriffs der Rechtsmissbräuchlichkeit im Sinne des § 2 AsylbLG in der seit dem 01.01.2005 geltenden Fassung erlaubt).
Auch ein Verhalten der Antragsteller – ohnehin wohl nur zu 2) bis 4) -, das als fehlende Mitwirkung an der Beschaffung von Ausweispapieren ausgelegt werden könnte, ist nicht hinreichend dargelegt worden. Vielmehr sind die Antragsteller bei der Botschaft der Republik Aserbaidschan in Berlin vorstellig geworden und haben die ihnen vorliegenden und ggf. die Identität belegenden Papiere und Unterlagen vorgelegt. Dies hat dazu geführt, dass die aserbaidschanische Botschaft die entsprechende Staatsangehörigkeit des Antragstellers zu 1) auch festgestellt hat (Schriftsatz der Botschaft vom 01.12.2004). Weitere abschließende Feststellungen der Botschaft stehen weiterhin aus, so dass die zuständige Ausländerbehörde davon ausgeht (Aktenvermerk vom 20.12.2005), dass trotz vorhandener Identitätsnachweise noch keine Antwort der aserbaidschanischen Inlandsbehörden auf den Antrag vom 02.11.2004 vorliege und eine solche auch nicht zu erwarten sei.
Der Umstand, dass die Botschaft im Schreiben vom 01.12.2004 darauf hingewiesen hat, dass hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) zwar ihre Herkunft aus C. bestätigt werden könne, sich diese aber wie die Antragsteller zu 3) und 4) nicht im Adressbuch (wohl Melderegister) der Republik Aserbaidschan fänden, rechtfertigt die Schlussfolgerung, die Antragsteller zu 2) bis 4) hätten über ihre Identität getäuscht, nicht. Dies ergibt sich auch nicht aus den von der Botschaft mitgeteilten angeblichen Fälschungsanhaltspunkten auf der Geburts- bzw. Heiratsurkunde. Denn der Senat unterstellt insoweit, dass die Verwendung einheitlicher Dokumente und Siegel sowie die Handhabung der Eintragungen in der Republik Aserbaidschan nicht mit den formal strengen Maßstäben in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen sein dürften. Daher liegen hier kaum nachweisbare Umstände für eine (versuchte) Täuschung über die Identität der Antragstellerin zu 2) bzw. der gemeinsamen Kinder vor, zumal die Angaben in den vorgelegten Dokumenten mit denen im Asylantrag und auch den darüber hinaus gemachten Angaben etwa zur Herkunft übereinstimmen. Die Antragsgegnerin hat darüber hinaus nicht hinreichend dargelegt, welches Verhalten den Antragstellern als nicht hinreichende Mitwirkung an der Beschaffung von Passersatzpapieren ausgelegt werden könnte. Der Senat merkt im Übrigen an, dass es in Aserbaidschan zwar offenbar keine systematische, staatliche Verfolgung von armenisch-stämmigen Bürgern – eine solche Herkunft der Antragstellerin zu 2) wird behauptet – gibt. Gleichwohl erscheint es nicht abwegig, dass die nicht zu erlangenden Auskünfte der Botschaft ggf. auch mit der Herkunft der Antragstellerin zu 2) in Zusammenhang zu bringen sein könnten. Schließlich rechtfertigt auch der in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin zu findende anonyme Hinweis auf eine angebliche Bestechung der aserbaidschanischen Botschaftsangehörigen durch die Antragsteller nicht aus, eine Rechtsmissbräuchlichkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG nachzuweisen. Dies sieht offenbar auch die Antragsgegnerin so, da sie auch nicht entsprechend vorgetragen hat.
Dass schließlich ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht bereits in dem Umstand gesehen werden kann, dass die Antragsteller bisher nicht freiwillig ausgereist sind, hat der Senat bereits wiederholt entschieden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführung im Beschluss vom 23.01.2006 (aaO) verwiesen (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005, L 7 AY 51/05; LSG Sachsen-Anhalt – aaO -; OVG Bremen, Beschluss vom 09.09.2005 – 2 B 177/05). Im Übrigen ist insoweit darauf hinzuweisen, dass die Antragsteller schon nicht über die erforderlichen Ausweispapiere verfügen, die eine problemlose Rückkehr nach Aserbaidschan ermöglichen könnten.
Leistungen der Sozialhilfe und nach dem AsylbLG sind in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (nur) bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung zu gewähren. Der Senat geht dabei insoweit davon aus, dass bei im Übrigen unveränderten Verhältnissen und nicht rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Antragsgegnerin auch über den 31.05.2006 hinaus Leistungen nach § 2 AsylbLG, SGB XII erbringen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Erstellt am: 05.07.2006
Zuletzt verändert am: 05.07.2006