Rev. zurückgewiesen
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29. April 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Berücksichtigung der Zeit vom 31.5.1938 bis zum 20.12.1943 als Verfolgungsersatzzeit.
Der am 00.00.1924 geborene Kläger wurde laut einer ärztlichen Bescheinigung vom 12.2.1954 am 13.1. 1933 unter der Diagnose "Imbecillitas minor (1a)" in die "Westfälisch evangelische Heil- und Pflegeanstalt X" (Kreis N) verbracht und am 6.11.1941 in die "Q-Heilanstalt H" verlegt, wo er bis zum 7.2.1942 verblieb. Anschließend befand er sich bis zu seiner Entlassung am 14.12.1943 in der Qheilanstalt E. Aufgrund Beschlusses des "Erbgesundheitsgerichts" Dortmund vom 30.4.1943 (13a XIII 10/43) wurde er am 24.11.1943 "wegen angeborenem Schwachsinn" sterilisiert.
Seinen Antrag auf Entschädigungsleistungen für Schaden an Körper und Gesundheit, für Schaden an Freiheit, im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen vom 6.7.1958 lehnte der Regierungspräsident Detmold mit Bescheid vom 29.8.1958 ab: Die Antragsfrist des § 189 Abs. 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sei versäumt. Abgesehen davon seien die allgemeinen Voraussetzungen gemäß § 1 Abs.1 BEG nicht erfüllt. Aus den vom Kläger beigebrachten Beweisunterlagen gehe eindeutig hervor, dass der Kläger unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gefallen und wegen angeborenen Schwachsinns sterilisiert worden sei. Unfruchtbarmachungen auf Grund von Beschlüssen des Erbgesundheitsgerichts stellten grundsätzlich keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme im Sinne des BEG dar.
Zur Abfindung der durch die Zwangssterilisation erlittenen Nachteile wurde dem Kläger zunächst von der Oberfinanzdirektion (OFD) Münster eine einmalige Beihilfe in Höhe von 5000 DM und durch Bescheid vom 21.8.1990 eine laufende Beihilfe von monatlich 100 DM bewilligt. Mit Bescheid vom 15.10.2003 erkannte die OFD Köln nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 7.3.1988 – AKG- Härterichtlinien- eine einmalige Härtebeihilfe in Höhe von 2556,46 EUR zu. Die OFD begründete ihre Entscheidung damit, dass dem Kläger diese weitere einkommensunabhängige Beihilfe zu bewilligen sei, da neben der erlittenen und bereits entschädigten Zwangssterilisation, eine weitere NS- Unrechtsmaßnahme, der Freiheitsentzug gemäß § 5 AKG vorliege. Der Kläger habe sich über 9 Jahre in rechtsstaatswidrigen Einrichtungen bzw Haftstätten im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der AKG- Richtlinie befunden. Durch die Einweisung in diese Einrichtungen sei der Kläger als Opfer von Organen des NS- Staates begangener Amtspflichtverletzung im Sinne von § 839 BGB iVm § 5 AKG anzusehen.
Durch Bescheid der Beklagten vom 15.6. 1978 wurde dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Die Zeit vom 31.5.1938 bis 20.12.1943 wurde dabei, ebenso wie bei der Umwandlung dieser Rente in das ab 1.6.1989 gewährte Altersruhegeld (Bescheid vom 15.3.1989), als "nicht versichert" bewertet.
Am 28.4.2003 beantragte der Kläger die Neuberechnung seiner Altersrente; die Zeit seiner haftähnlichen Unterbringung müsse mit berücksichtigt werden. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 20.8.2003 ab: Die Entschädigungsbehörde Detmold habe mit Bescheid vom 29.8.1958 über die Verfolgteneigenschaft entschieden und danach erfülle der Kläger die Voraussetzungen des § 1 BEG nicht.
Der Kläger widersprach: Es sei zwar richtig, dass bei ihm nicht die Verfolgteneigenschaft des § 1 BEG vorliege, dies besage jedoch auf keinen Fall, dass nicht von NS-Unrecht ausgegangen werden könne. Es sei von der OFD Köln festgestellt worden, dass ihm NS- Unrecht widerfahren sei. Die Zeit des Freiheitsentzuges müsse als Ersatzzeit berücksichtigt werden.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Bescheid vom 20.1.2004 zurück: Der Kläger sei zwar von NS-Unrecht betroffen, gehöre aber nicht zum Personenkreis des § 1 BEG. Bei den Beihilfen habe es sich um Zahlungen gehandelt, die auf Grund von Richtlinien über Härteleistungen zu Gunsten von Opfern nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geleistet wurden, die nicht die Voraussetzungen nach §§1 und 2 BEG erfüllten.
Mit der am 18.2.2004 zum Sozialgericht Detmold (SG) erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt: Die Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten die Verfolgteneigenschaft nach §1 BEG in eigener Verantwortung festzustellen, ohne Bindung an Entscheidungen der Entschädigungsbehörden. Er sei aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sterilisiert worden. Dieses Gesetz sei als Rassegesetz anzusehen und die nach diesem Gesetz verfolgten Personen seien Verfolgte aus Gründen der Rasse i.S.d. § 1 BEG. Da der Verfolgtengruppe der Sinti und Roma Ersatzzeiten wegen des Freiheitsentzuges angerechnet würden, liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, wenn dies bei der Verfolgtengruppe der körperlich und geistig Behinderten nicht gelten würde. Das Merkmal "aus Gründen der Rasse" sei weit auszulegen, die Kommentierung besage, der Zuchtgedanke sei Kerngedanke des Rassegedankens. Er sei "aus Gründen der Rasse", nämlich zur Erhaltung einer erbgesunden Rasse verfolgt worden. Eine Verfolgung "wegen" seiner Rasse, also wegen nicht arischer Abstammung, sei nach dem Wortlaut des § 1 BEG nicht erforderlich.
Die Beklagte hat ihre Bescheide für zutreffend gehalten und ergänzend auf die Bundestagsdrucksache 13/4733 hingewiesen: Dort habe der Gesetzgeber bewusst zwischen NS-Verfolgten im Sinne des § 1 und solchen im Sinne des § 171 BEG entschieden.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.4.2005 abgewiesen und zur Begründung i.W. ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung der Zeit vom 31.5.1938 bis 20.12.1943 als Ersatzzeit gemäß § 250 SGB VI, weil er kein Verfolgter im Sinne des § 1 BEG sei. Dem Kläger sei ohne Zweifel nationalsozialistisches Unrecht widerfahren. Dem habe der Gesetzgeber auch Rechnung getragen und mit § 171 Abs. 4 BEG eine Entschädigungsregelung geschaffen. Danach könne Geschädigten, die ohne vorausgegangenes Verfahren nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sterilisiert worden sind, ein Härteausgleich gewährt werden. Der Gesetzgeber habe bei Erlass des BEG verschiedene Personengruppen gebildet, denen er Entschädigungen gewähren wollte. Dabei habe er sowohl den Begriff "Rasse" verwendet, als auch die Formulierung "Geschädigte nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Gesetzgeber in den beiden Vorschriften (§1 und §171 BEG) dieser unterschiedlichen Formulierungen bedient habe, habe er diesen Gruppen auch unterschiedlich entschädigen wollen. Er hätte ansonsten den Begriff "Geschädigte nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" bzw. "Zwangssterilisierte" auch in §1 BEG verwendet. Eine weite Auslegung des Begriffes Rasse, wie der Kläger meine, komme daher nicht in Betracht. Aus der Systematik des Gesetzes ergebe sich, dass der Gesetzgeber im Ersten Abschnitt (§§1ff BEG) andere Personengruppen entschädigt habe, als im 7.Abschnitt (§171 ff BEG, sog. Härteausgleich). Diese Auffassung werde letztlich auch durch die von der Beklagten genannte Bundestagsdrucksache 13/4733 bestätigt. Daraus ergebe sich, dass der Gesetzgeber bei Erlass des BEG bewusst zwischen NS-Verfolgten im Sinne des §1 BEG und NS-Geschädigten im Sinne des §171 BEG unterschieden habe. Er habe nach Maßgabe dieser Vorschriften beide Käufergruppen rehabilitiert und abgestuft entschädigen wollen.
Die von dem Kläger vorgetragene Ungleichbehandlung von Zwangssterilisierten und Sinti und Roma liege nicht vor. Da der Kläger nicht aus Gründen der Rasse verfolgt worden sei, könne er nicht mit der Personengruppe der Sinti und Roma verglichen werden.
Gegen das am 25.5.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.6.2005 Berufung eingelegt: Während in der Nachkriegszeit Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht als Verfolgung aus Gründen der Rasse angesehen worden seien, sei inzwischen ein Verständniswandel eingetreten, wie er in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 26.1.1998 (Drucksache 11/1714) zum Ausdruck komme, wo ausdrücklich festgestellt werde, dass es sich um nationalsozialistisches Unrecht gehandelt habe. Im Hinblick auf diesen Verständniswandel sei das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als Rassegesetz und er als Verfolgter anzusehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29.4.2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.8.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.1.2004 zu verurteilen, die Zeit vom 31.5.1938 bis 20.12.1943 als Ersatzzeit anzuerkennen und seine Altersrente unter Berücksichtigung dieser Zeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für gesetzesgerecht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten, der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der vom Senat beigezogenen Akten der OFD Köln, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Der Zeitraum vom 31.5.1938 bis 20.12.1943 ist bei der Rente des Klägers nicht als Ersatzzeit zu berücksichtigen, weil es sich nicht um eine Verfolgungszeit im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr.4 SGB VI handelt.
Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten Zeiten vor dem 1. Januar 1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43, 47 BEG), wenn sie zum Personenkreis des § 1 BEG gehören (Verfolgungszeit). Freiheitsentziehung sind gemäß § 43 Abs. 2 BEG insbesondere polizeiliche und militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto. Der Freiheitsentziehung werden gemäß § 43 Abs.3 BEG u.a. Leben unter haftähnlichen Bedingungen und Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen gleichgestellt.
Der Kläger war im streitigen Zeitraum nach Vollendung seines 14. Lebensjahres, in welchem für ihn Versicherungspflicht nicht bestanden hatte, zwangsweise in den "Heil- und Pflegeanstalten" X, H und E untergebracht. Bei diesen Einrichtungen hat es sich um Haftstätten im Sinne des § 7 der AKG-Härterichtlinien gehandelt (vgl. Bescheid der OFD Köln vom 15.10.2003). Dem Kläger war dort Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SBG VI und des § 43 BEG die Freiheit entzogen (vgl. zur Fürsorgeerziehung als Freiheitsentziehung bereits OLG Zweibrücken, Urt. v. 25.2.1965 – 4 U 27/64 in RzW 1965, 418 f.). Eine Verfolgungszeit im Sinne des § 250 Abs.1 Nr. 4 SGB VI setzt darüber hinaus aber voraus, dass der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 BEG ist. Daran fehlt es hier.
Nach § 1 Abs. 1 BEG ist Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter). Der Kläger ist kein politisch Verfolgter im Sinne des § 1 BEG; er macht dies aktuell auch nicht geltend. In einem bei den Akten der OFD als Kopie aus den Entschädigungsakten des Regierungspräsidenten Detmold 2 K 170/405 befindlichen Beschluss des Sonderhilfe-Ausschusses des Kreises Herford vom 8.4.1948 wird allerdings für die Person des Klägers die Eigenschaft eines politisch Verfolgten verneint, was darauf deuten könnte, dass der Kläger damals entsprechendes geltend gemacht hatte. Ein diesbezüglicher Tatsachenvortrag aus jenem Verfahren ist jedoch nicht bekannt, weil die Entschädigungsakten laut Aktenvermerk allein aus der erwähnten Abschrift des Beschlusses vom 8.4.1948 bestehen. Der Kläger war aber bei Verbringung in die Anstalt X nicht einmal 8 Jahre alt, was nicht für politische Gegnerschaft als Unterbringungsgrund spricht. Zudem lassen weder sein Vortrag noch etwa die bei den Akten der OFD in Kopie bzw Abschrift befindlichen Briefe seiner Mutter an den Oberpräsidenten bzw. an den Chefarzt einer Anstalt hinreichend deutlich werden, dass es sich bei der Unterbringung des Klägers sowie zeitweise auch seiner zwei Brüder und eines Halbbruders um eine als Fürsorgeerziehung getarnte Gewaltmaßnahme gegen die Eltern als politische Gegner gehandelt hat, sodass der Kläger als diesen Nahestehender selbst ebenfalls politischer Verfolgter wäre (vgl. § 1 Satz 3 BEG). Die Mutter spricht zwar im Brief vom 13.4 (ohne Jahresangabe; offenbar aus dem Jahre 1939, jedenfalls nach dem 20.3.1939 erstellt, dem Datum der im Brief erwähnten Entlassung eines Sohnes) davon, dass man sie (gemeint sind sie selbst und ihr Ehemann) einmal verleumdet und als Kommunisten habe verhaften lassen, dass sie aber am nächsten Tag sofort aus der Haft entlassen worden seien. Sie betont jedoch zugleich, dass ihr Ehemann schon seit 1930 Mitglied des Jungdeutschen Ordens gewesen sei, schildert die Verhaftung als einmaligen Vorfall und führt keine weiteren Umstände auf, die für einen Zusammenhang zwischen dem offenbar schon lange zuvor begründeten Anstaltsaufenthalt des Klägers und einer etwaigen politischen Gegnerschaft der Eltern zum Nationalsozialismus sprechen würden.
Der Kläger ist auch nicht Verfolgter aus Gründen der Rasse, denn weder die Freiheitsentziehung selbst noch die spätere Zwangssterilisierung sind aus Gründen der Rasse im Sinne des § 1 Abs.1 BEG erfolgt, wobei offen bleiben kann, ob durch die Zwangssterilisierung, die einen Schaden an Körper oder Gesundheit bedeutet und unmittelbar keine zeitliche Dimension besitzt, wäre sie aus Gründen der Rasse erfolgt, überhaupt die davor liegende Zeit des Anstaltsaufenthalts zur Ersatzzeit werden könnte.
Die Einweisung des Klägers Anfang 1933 im Alter von etwa 8 Jahren ist laut der aktenkundigen Bescheinigung aus dem Jahre 1954 unter der Diagnose einer "Imbecillitas minor" erfolgt. Es handelt sich bei der Imbezillität um einen heute nicht mehr gebräuchlichen und auch früher uneinheitlich verwendeten Begriff, der nach heutiger Terminologie am ehesten einer mittleren Stufe der Oligophrenie entsprechen dürfte (vgl. bei Ventzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl., S.15,195). Die Mutter hatte allerdings schon 1939 in ihrem vergeblichen Kampf gegen die Sterilisierungspläne (o. g. Schreiben vom 13.4. (1939) sowie ihre Antwort auf ein Schreiben des Chefarztes Dr. T vom 14.5.1939) betont, ihr Sohn sei nicht nervenkrank, er habe auch keine schlechten Zeugnisse, er sei nur wild bzw. als sehr schwer erziehbar eingestuft worden. Hinzugekommen seien schwierige familiäre Umstände, Wohnverhältnisse und wirtschaftliche Verhältnisse, was die Briefe der Mutter erkennen lassen, wonach u.a. andere Söhne sich über mehrere Jahre in Familienpflege befunden hätten. Ob die ursprüngliche Einweisungsdiagnose (Vor der sog. Machtergreifung und vor der Verkündung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses) aus damaliger Sicht sowohl ärztlich zutreffend war als auch grundsätzlich eine Anstaltsunterbringung rechtfertigten, muss hier nicht entschieden werden. Denn jedenfalls wird deutlich, dass spätestens im Laufe der Jahre des Anstaltsaufenthalts des Klägers ein Zusammenhang zwischen dem weiteren Zwangsaufenthalt des Klägers in der Anstalt und der Absicht entstanden ist, ihn als vermeintlich Erbkranken oder Angehörigen der gesellschaftlichen Randgruppen, die neben diesen in besonderem Maße Opfer des Erbgesundheitsgesetzes geworden sind (z.B. Fürsorgezöglinge , Hilfsschüler und "moralisch Schwachsinnige" vgl. z.B. bei Paulus, Das Erbgesundheitsgericht Bayreuth und seine Tätigkeit von 1934 bis 1944, Ziffer 12, im Internet unter www.justiz.bayern.de/ag.bayreuth zu finden) unfruchtbar zu machen. Ersichtlich war nämlich nicht zuletzt auch im Falle des Klägers, wie regelmäßig, die Sterilisierung zur Voraussetzung einer Entlassung gemacht worden. Obwohl mithin nicht nur die Zwangssterilisierung selbst sondern zumindest auch der ihr unmittelbar vorausgehende weitere Verbleib des Klägers in den Anstalten im Zusammenhang mit dem Erbgesundheitsgesetz und dessen "rassehygienischen" Zielsetzungen steht, ist der Kläger nicht aus Gründen der Rasse verfolgt.
Für den Nationalsozialismus galt nicht der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen; er unterschied vielmehr zwischen höheren und niederen Menschenrassen. Zu den höheren Menschenrassen zählte er Menschen arischer Abstammung ("Personen deutschen oder artverwandten Blutes" im Sinne der Nürnberger Rassegesetze( vgl. § 2 Reichsbürgergesetz und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9.1935; Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935)), zu den niederen die Menschen nichtarischer Abstammung. Als Nichtarier sind hauptsächlich Juden sowie Roma verfolgt worden (vgl. Gießler in: Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland Band IV, Das Bundesentschädigungsgesetz Teil 1, München 1981, S. 20). Wer aus erbbiologischen Gründen sterilisiert wurde, gehörte nicht zu den rassisch Verfolgten, selbst wenn die Sterilisierung zur Reinhaltung der Rasse von fehlerhaften Erbmerkmalen durchgeführt wurde; einer niederen Menschenrasse wurde der Sterilisierte nicht zugeordnet. Diese Auffassung entspricht nicht nur der älteren Rechtsprechung der Entschädigungsgerichte, sondern auch der Literatur zum BEG ( vgl. OLG München, v. 28.1.955 – EU 206/54- RzW 1955, 297; Gießler a.a.O.; Hebenstreit in: Die Wiedergutmachung Band V S. 488 ff.; Blessin-Giessler , Bundesentschädigungsgesetz , München 1967, § 171 , VI 1.a) S.812).
Allein diese Auslegung ist auch mit der Systematik des BEG (§ 1 einerseits, § 171 BEG andererseits) zu vereinbaren, wie sie das SG zutreffend herausgestellt hat. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils kann daher Bezug genommen werden.
Soweit der Kläger sich demgegenüber auf einen Verständniswandel beruft, ist dies nur teilweise zutreffend. Richtig ist, dass gegenüber der in den Nachkriegsjahren nicht nur von den Besatzungsmächten sondern später auch vom bundesdeutschen Gesetzgeber und der Rechtsprechung einhellig vertretenen Auffassung, das Erbgesundheitsgesetz sei nicht als ein typisch nationalsozialistisches Gesetz anzusehen, ein Verständniswandel eingetreten ist. Dieser hat nicht allein in der vom Kläger angesprochenen Beschlussempfehlung vom 26.1.1998 (Drucksache 11/1714; vgl. auch den Gesetzentwurf Drucksache 13/10284), sondern nicht zuletzt auch in den im Tatbestand erwähnten, dem Kläger bewilligten Leistungen Ausdruck gefunden, die ihm wegen der Zwangssterilisierung und der Freiheitsentziehung in den Anstalten gewährt worden sind. Gerade die Voraussetzungen der dem Kläger nach den AKG bzw den Härterichtlinien bewilligten Leistungen machen aber auch deutlich, dass der Verständniswandel nicht mit einer Änderung bzw. Erweiterung des Verfolgtenbegriffes des BEG verbunden gewesen ist. Die Härterichtlinien hatte die Bundesregierung, wie es im Einleitungssatz der Richtlinien heißt, in Übereinstimmung mit der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 3.12.1987 als abschließende Regelung zu Gunsten von Opfern nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen, die nicht die Voraussetzungen nach §§ 1 und 2 BEG erfüllen, beschlossen. Dem entsprechend sind nach § 1 Abs. 1 der Richtlinien antragsberechtigt alle durch NS-Unrecht geschädigte Personen gewesen, die nicht Verfolgte im Sinne des BEG sind, jedoch die Voraussetzungen des § 5 AKG erfüllen.
Dass der angesprochene Verständniswandel nicht die ausdrückliche Einbeziehung der Zwangssterilisierten und der in rechtsstaatswidrigen Anstalten Untergebrachten in den Verfolgtenbegriff des § 1 BEG nach sich gezogen hat, wird auch daran deutlich, dass dem Deutschen Bundestag die Systematik des BEG, wonach die Zwangssterilisierten allein durch § 171 BEG erfasst sind, bewusst gewesen ist und er hieran nichts geändert hat. Insoweit kann etwa auf Seite 7 der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte (Drucksache 13/10284) verwiesen werden, wo ausdrücklich Ansprüche nach § 171 Abs. 4 Satz 1 BEG und nach den erwähnten Härterichtlinien (§ 5 AKG) angesprochen werden. Der Senat weist schließlich darauf hin, dass die im Deutschen Bundestag ausdrücklich erhobene Forderung, NS- Opfer der Zwangssterilisation und der "Euthanasie" als Verfolgte anzuerkennen, nicht zur Gesetzesänderung geführt hat (vgl. Antrag der Fraktion der PDS Drucksache 14/2298; Plenarprotokoll 14/102 vom 11.5.2000). Festzustellen bleibt daher, dass der Gesetzgeber nach wie vor die Zwangssterilisierten wie auch andere Gruppen von Opfern nationalsozialistischen Unrechts ( z.B. Homosexuelle, "Asoziale", " Landstreicher") nicht als Verfolgte im Sinne des § 1 BEG anerkannt hat.
Weil der Kläger nach alledem kein Verfolger im Sinne des § 1 BEG ist, konnte die streitige Zeit nicht als Verfolgungszeit, mithin nicht als Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI berücksichtigt werden, denn die Bezugnahme in § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI auf § 1 BEG ist einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich.
Wie das SG ist auch der erkennende Senat nicht der Überzeugung, dass § 250 Abs.1 Nr.4 SGB VI deshalb verfassungswidrig ist, weil er den Personenkreis der zwischen 1933 und 1945 Zwangssterilisierten und der wegen angenommener Minderbegabung oder Behinderung oder Schwererziehbarkeit in Anstalten Untergebrachten nicht per se begünstigt , sondern nur dann, wenn zusätzlich die Voraussetzungen des § 1 BEG erfüllt sind, wie es bei den Roma und Sinti der Fall ist. Das Tatbestandmerkmal der Verfolgteneigenschaft in § 250 SGB Ans. 1 Nr. 4 VI ist nämlich sachgerechter und systemgerechter Anknüpfungspunkt für die Gewährung der rentenrechtlichen Vergünstigung einer Ersatzzeit wegen bestimmter Formen staatlich veranlassten oder verursachten Unrechts. Das Kriterium ermöglicht zudem im Regelfall die Anknüpfung an zeitnah zum Kriegsende getroffene Feststellungen der Entschädigungsbehörden. Dass der Gesetzgeber sich außerhalb des BEG zu bestimmten Entschädigungsleistungen (s.o.) für die nach dem Erbgesundheitsgesetz Zwangssterilisierten entschieden hat, zwingt ihn nicht zur völligen Gleichstellung dieses Personenkreises mit dem der Verfolgten, auch nicht in Bezug auf die Ersatzzeitenregelung. Der Gesetzgeber bewegt sich hier innerhalb des ihm vom Bundesverfassungsgericht zugestandenen sozialpolitischen Ermessensspielraums.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Sache auch im Hinblick auf die Größe des Personenkreises der noch lebenden Betroffenen grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Erstellt am: 23.04.2008
Zuletzt verändert am: 23.04.2008