Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 02.08.2006 geändert. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen nach Maßgabe des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) ab Antragstellung am 06.07.2006 bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung zu gewähren. Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge.
Gründe:
I.
Die am 00.00.1980 geborene Antragstellerin zu 1) sowie ihr am 00.00.1997 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2), sind polnische Staatsangehörige. Sie begehren die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von der Antragsgegnerin oder nach dem SGB XII von der Beigeladenen.
Nach ihrer Einreise nach Deutschland lebten die Antragsteller zunächst beim damaligen Lebensgefährten der Antragstellerin zu 1) in E. Für die Antragstellerin zu 1) liegt eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) als Zweitschrift vom 13.06.2005, für den Antragsteller zu 2) eine entsprechende Bescheinigung vom 12.10.2005, jeweils ausgestellt durch die Beigeladene, vor.
Nachdem aufgrund des früheren Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes SG Duisburg S 32 AS 156/05 ER die Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2005 bis 31.03.2006 geleistet hatte, beantragten die Antragsteller am 06.07.2006 beim Sozialgericht erneut, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu verpflichten.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 07.02.2006 die Stadt E zum Verfahren nach § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen.
Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, sie sei nach der Gesetzesänderung in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ab dem 01.04.2006 nicht mehr zu Leistungen verpflichtet. Unter Umständen bestehe allerdings eine Leistungspflicht der Beigeladenen aus § 23 SGB XII.
Die Beigeladene hat sich nicht für verpflichtet gehalten, Leistungen nach dem SGB XII an die Antragsteller zu erbringen. Denn nach § 21 S. 1 SGB XII erhielten Personen, die als Erwerbsfähige oder deren Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II seien, keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII. Die Antragstellerin zu 1) sei als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und nur aufgrund der Sonderregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. § 21 S. 1 SGB XII verfolge gerade den Zweck, im SGB II geregelte Leistungsbeschränkungen bzw. Leistungsausschlüsse nicht über das SGB XII faktisch aufzuheben.
Mit Beschluss vom 02.08.2006 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Ab dem 01.04.2006 bestehe kein Anspruch der Antragsteller auf Leistungen nach dem SGB II. Denn nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II seien Ausländer von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, ferner ihre Familienangehörigen. Die Vorschrift sei auch gemeinschaftsrechtskonform. Durch Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29.04.2004 (EU-Freizügigkeitsrichtlinie) werde der Gleichheitsgrundsatz dahingehend eingeschränkt, dass ein Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet sei, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibe, und ihren Familienangehörigen einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Der Gesetzgeber des SGB II habe sich ausdrücklich auf diese Richtlinie berufen und zum Ausdruck gebracht, dass durch die gesetzliche Neuregelung vor allem EU-Bürger betroffen sein sollten, die von ihrem Recht auf Unionsbürgerschaft Gebrauch machten und sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhielten (BT-Drucks. 16/688, S. 13). Die Antragsteller hätten darüber hinaus auch keinen Leistungsanspruch gegen die Beigeladene auf Leistungen nach dem SGB XII. Insoweit stehe der Leistungsausschluss nach § 21 S. 1 SGB XII entgegen. Die Antragstellerin zu 1) sei als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II und nur aufgrund der Sonderregelung des neu gefassten § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Damit könnten die Antragsteller nach § 21 S. 1 SGB XII keine Leistungen nach dem SGB XII erhalten; denn diese Vorschrift verfolge gerade den Zweck, im SGB II geregelte Leistungseinschränkungen bzw. Leistungsausschlüsse nicht über das SGB XII faktisch aufzuheben. Der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB XII für diese Personengruppe entspreche zudem dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (BT-Drucks. 16/688, a.a.O.). Entgegen der von der Antragsgegnerin vertretenen Auffassung bestehe für die Antragsteller auch kein Leistungsanspruch gegen die Beigeladene aus § 23 SGB XII. Nach dieser Vorschrift sei Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhielten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege zu leisten. Ein Anspruch aus § 23 SGB XII sei aufgrund der Sonderregelung für Leistungsberechtigte nach dem SGB II in § 21 SGB XII jedoch ebenfalls ausgeschlossen.
Gegen den am 04.08.2006 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 28.08.2006 Beschwerde erhoben, der das Sozialgericht mit Beschluss vom 29.08.2006 nicht abgeholfen hat.
Die Antragsteller sind der Auffassung, der Gesetzgeber habe nicht gewollt, dass Personen, die sich – wie sie – erlaubt in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, entgegen dem Gebot der Menschenwürde völlig ohne Mittel daständen und für ihren Lebensunterhalt auf Bettelei, Prostitution und evt. Straftaten angewiesen seien. Die Antragstellerin zu 1) könne nur dadurch überleben, dass andere Frauen im Frauenhaus Nahrungsmittel mit ihr teilten; diese Frauen seien jedoch in der Regel ebenfalls Bezieher von Sozialleistungen.
Die Antragsteller beantragen,
den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 02.08.2006 zu ändern und ihnen im Wege der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde abzuweisen, soweit Leistungen nach dem SGB II beantragt werden.
Sie bezieht sich auf ihren bisherigen Vortrag sowie auf den angefochtenen Beschluss. Das Sozialgericht habe zutreffend festgestellt, dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragsteller nur aus § 2 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU ergeben könne. Danach seien Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, wenn sie sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung in Deutschland aufhalten wollten. Da die Antragstellerin zu 1) keinen anderen Grund als den der Arbeitssuche vorweisen könne, greife die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II. Ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bestehe deshalb allenfalls aus den Vorschriften des SGB XII.
Die Beigeladene beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf ihr bisheriges Vorbringen und den angefochtenen Beschluss. Die Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II zeige deutlich, dass ein Leistungsausschluss für die davon erfassten Ausländer gesetzgeberisch gewollt sei. Dies gelte auch für Leistungen nach dem SGB XII. Hätten damit zugleich Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4a der EU-Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt werden sollen, so sei eine solche Umsetzung mit der gesetzlichen Regelung auch tatsächlich erfolgt. Es erscheine deshalb nicht gerechtfertigt, mit einer anderen Auslegung einen Anspruch der Antragsteller nach dem SGB XII anzunehmen. Der Rechtsprechung komme es nicht zu, über das normierte Recht hinaus Anspruchsgrundlagen, die eine Leistungsverpflichtung des Staates begründeten, im Wege der Rechtsfortbildung zu schaffen. Zwar ergebe sich aus Art. 24 Abs. 1 der genannten Richtlinie ausdrücklich ein Gleichbehandlungsrecht für alle Unionsbürger, und dieses Recht erstrecke sich sicherlich auch auf das Sozialleistungsrecht. Allerdings werde es in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie auch eingeschränkt; dort werde es jedem Mitgliedstaat ausdrücklich freigestellt, auch Personen im Hinblick auf Sozialleistungen von dieser Gleichbehandlung auszuschließen, wenn sie nicht als Arbeitnehmer oder Selbständige im Aufnahmeland lebten. Es werde den Aufnahmestaaten immerhin ausdrücklich freigestellt, andere Personen auch vom Bezug von Sozialhilfe auszuschließen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II:
Die Beschwerde der Antragsteller ist zulässig und im Sinne einer Verpflichtung der Beigeladenen zur Leistungserbringung begründet.
Dabei ist die Verpflichtung der Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG möglich; dies hat der Gesetzgeber durch Änderung des § 75 Abs. 5 SGG zum 01.08.2006 im Wege einer authentischen Interpretation (und damit auch für den Zeitraum vor dem 01.08.2006) ausdrücklich klargestellt.
Dass die Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gegen die Antragsgegnerin haben, ergibt sich aus § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II in der seit dem 01.04.2006 geltenden Fassung; der Senat nimmt diesbezüglich gem. § 142 Abs. 2 S. 3 SGG Bezug auf die insoweit zutreffende Begründung des angefochtenen Beschlusses des Sozialgerichts.
Den Antragstellern steht jedoch einstweilen Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe des SGB XII von der Beigeladenen zu.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Erforderlich ist insoweit die Glaubhaftmachung des geltend gemachten materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie der besonderen Eilbedürftigkeit für die gerichtliche Entscheidung (Anordnungsgrund).
Nach der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung haben die Antragsteller einen Anspruch gegen die Beigeladene aus § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII. Danach ist Ausländern, die sich – wie die Antragsteller – im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu leisten.
Dieser Anspruch ist auch nicht etwa nach § 21 S. 1 SGB XII ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt (mit bestimmten, hier von vornherein nicht einschlägigen Ausnahmen). Die Norm berücksichtigt die Vorrangigkeit des Leistungssystems des SGB II gegenüber der Sozialhilfe nach dem SGB XII. Sie schließt damit auch ein subsidiäres Eingreifen des SGB XII in Bezug auf Hilfe zum Lebensunterhalt aus (Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 21 Rn. 4). Voraussetzung der Leistungsversagung ist deshalb nicht etwa, dass Leistungen nach dem SGB II auch tatsächlich bezogen werden; mit dem Anknüpfen an eine Leistungsberechtigung nach dem SGB II "dem Grunde nach" können vielmehr auch Fälle erfasst werden, in denen es tatsächlich zu keinen Leistungen nach dem SGB II kommt. § 21 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist insoweit notwendig, als nach dem SGB II Leistungen versagt oder gekürzt werden können, derartige Leistungseinschränkungen im SGB II jedoch nicht über das SGB XII faktisch wieder aufgehoben werden sollen, was jedoch bei einer subsidiären Anwendung des SGB XII der Fall wäre (Grube, a.a.O., mit Hinweis auf die klarstellende Regelung in § 31 Abs. 6 S. 2 SGB II, die diese Folge für die Fälle der Absenkung und den Wegfall des Arbeitslosengeldes II unter den Voraussetzungen des § 31 SGB II eigens normiert).
Der Beigeladenen ist insoweit zuzugeben, dass nach der bis zum 31.03.2006 geltenden Rechtslage für Ausländer wie die Antragsteller ein Leistungsanspruch nach dem SGB II bestanden hat und damit zugleich nach § 21 S. 1 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen waren. Denn nach dem bis dahin geltenden Recht entschied der gewöhnliche Aufenthalt bei Ausländern darüber, ob Leistungen nach dem SGB II dem Grunde nach beansprucht werden konnten (vgl. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II a.F.). Dabei war § 8 Abs. 2 SGB II ergänzend heran zu ziehen; abweichend vom normalerweise den gewöhnlichen Aufenthaltsort festlegenden § 30 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) sieht diese Vorschrift vor, dass Ausländer nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Den meisten Unionsbürgern, die wegen § 1 Abs. 2 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Regelungen des FreizügG/EU einen genehmigungsfreien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt hatten, stand damit ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu.
Zwar war und ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Staatsangehörige der neuen EU-Mitgliedsstaaten – und damit auch für die aus Polen stammende Antragstellerin zu 1) – nach dem Vertrag vom 16.04.2003 über den Beitritt der osteuropäischen Staaten, Zypern und Malta (BGBl. II, S. 1408) eingeschränkt. Allerdings können sie sich gleichwohl nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU wegen gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung in Deutschland aufhalten. Da für die Antragsteller eine andere Alternative der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitberechtigung im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht ersichtlich ist, ist davon auszugehen, dass sich die Antragstellerin zu 1) zur Arbeitssuche in Deutschland aufhält. Jedenfalls ist von einem solchen Aufenthaltsrecht wegen Arbeitssuche für die Antragstellerin zu 1) einstweilen auszugehen und infolge dessen auch von einem Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 2) als ihrem Sohn (vgl. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU: "Familienangehörige"). Denn die Beigeladene hat für beide Antragsteller die nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU auszustellende Freizügigkeitsbescheinigung, die das Aufenthaltsrecht des jeweiligen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers bescheinigt, ausgestellt. An diese Freizügigkeitsbescheinigungen sieht sich der Senat jedenfalls bei summarischer Prüfung für die Zwecke des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten der Antragsteller gebunden.
Mit der Neuregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB II vom 24.03.2006 (BGBl. I, S. 558) wurden allerdings Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Diese Ausnahmeregelung reagiert auf die gemeinschaftsrechtliche Ausformung der Freizügigkeit und schöpft die dort vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten für den Zugang zu sozialen Leistungen für Personen aus, denen die Arbeitnehmerfreizügigkeit Einreise und Aufenthalt zur Arbeitssuche gestattet (vgl. die Ausführungen zur EU-Freizügigkeitsrichtlinie in BR-Drs. 550/05; Berlit, in: info also 2006, S. 57). In der ergänzenden Gesetzesbegründung des Bundestagausschusses für Arbeit und Soziales (BT-Drs. 16 (11) 80, S. 3) kommt die Absicht eines Leistungsausschlusses für bestimmte Gruppen von Ausländern durch die Neufassung des § 7 Abs. 1 SGB II deutlich zum Ausdruck; Leistungen nach dem SGB II sollen danach für arbeitssuchende Ausländer auch dann ausgeschlossen sein, wenn sie die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des SGB II (Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland) erfüllen. Nach Auffassung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales (a.a.O.) sollen darüber hinaus auch Leistungen nach dem SGB XII wegen § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Betracht kommen, da der betroffene Personenkreis dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II bleibe. Der Ausschuss sieht dadurch die Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4b der EU-Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt, dass ein Aufnahmestaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, denen dieser Status erhalten bleibt, während der ersten drei Monate des Aufenthalts und ggf. während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4b einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Art. 14 Abs. 4b der Richtlinie sieht vor, dass gegen Unionsbürger auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn der Unionsbürger eingereist ist, um Arbeit zu suchen oder eine Ausbildung aufzunehmen, jedenfalls solange sie nachweisen können, dass sie Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.
Nach Ansicht des Senats (vgl. hierzu bereits Beschluss vom 04.09.2006, L 20 B 73/06 SO ER) ergibt sich allerdings für Unionsbürger, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, aber wegen § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II n.F. keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, bei summarischer Prüfung und Auslegung im Lichte der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen trotz der in den Gesetzesmaterialien festgehaltenen, gegenteiligen Ansicht des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen aus § 23 SGB XII. Denn das Regelungsgefüge aus § 21 Abs. 1 SGB XII und § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass für solche Unionsbürger ein Leistungsanspruch nach dem SGB II "dem Grunde nach" gerade nicht besteht und damit der Leistungsausschluss des § 21 Abs. 1 SGB XII nicht greift.
Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Abweichend von der EU-Freizügigkeitsrichtlinie gewährt das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland in Form des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitberechtigung nach § 2 Nr. 1 FreizügG/EU ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bei Arbeitssuche; dabei verzichtet es auf die Voraussetzung einer begründeten Erfolgsaussicht der Arbeitssuche (vgl. Strick, in: NJW 2005, S. 2184). Über dieses Aufenthaltsrecht wird nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU von Amts wegen eine Bescheinigung ausgestellt; im vorliegenden Fall sind beide Antragsteller auch im Besitz einer solchen Bescheinigung, welcher der Senat – wie dargestellt – für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens Tatbestandswirkung beimisst.
Art. 12 S. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 07.12.1992 (EGV) verbietet (unbeschadet besonderer Bestimmungen des EGV) im Anwendungsbereich des Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Zugleich ist die Freizügigkeit durch Art. 18 EGV für jeden Unionsbürger i.S. des Art. 17 EGV grundsätzlich gewährleistet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 07.09.2004 – C-456/02 (Trojani) insoweit ausgeführt, Art. 18 Abs. 1 EGV erkenne jedem Unionsbürger das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten unmittelbar zu. Zwar gelte dieses Recht nicht absolut, sondern bestehe nur vorbehaltlich der im EGV und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bestimmungen. So könnten die Mitgliedsstaaten nach Art. 1 der Richtlinie 90/364 von Angehörigen eines (anderen) Mitgliedsstaats, die das Recht zum Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet wahrnehmen wollten, verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine ausreichende Krankenversicherung sowie über genügende Existenzmittel verfügten, durch die sicher gestellt sei, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten (EuGH a.a.O., Nr. 31 – 33). Derartige Beschränkungen und Bedingungen seien unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden (Nr. 34). Bei einem Mangel an Mitteln, die eigene Existenz zu sichern, erwachse deshalb aus Art. 18 EGV (grundsätzlich) kein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines (anderen) Mitgliedsstaats (Nr. 36). Halte sich allerdings der Betreffende (was im vom EuGH entschiedenen Fall durch eine amtliche Aufenthaltserlaubnis bescheinigt worden war) rechtmäßig in dem Mitgliedsstaat auf, so sei Art. 12 EGV zu beachten, wonach unbeschadet besonderer Bestimmungen des EGV im Anwendungsbereich des Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten sei (Nr. 39 i.V.m. Nr. 37). Insoweit dürften Mitgliedsstaaten den Aufenthalt eines nicht wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers zwar von der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel abhängig machen; daraus ergebe sich jedoch keineswegs, dass einer solchen Person während ihres rechtsmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung aus Art. 12 EGV nicht zugute komme (Nr. 40). Insofern sei zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des EuGH eine Leistung der Sozialhilfe in den Anwendungsbereich des EGV falle (Nr. 42; vgl. auch Urteil des EuGH vom 20.09.2001 – C-184/99 – Grzelczyk, dort insbesondere Nr. 46). Ein nicht wirtschaftlich aktiver Unionsbürger könne sich auf Art. 12 EGV berufen, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Dauer rechtmäßig aufhalte oder eine Aufenthaltserlaubnis besitze (Nr. 43). Eine nationale Regelung bedeute eine nach Art. 12 EGV verbotene Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit, wenn sie Unionsbürgern, die sich in dem Mitgliedsstaat rechtmäßig aufhielten, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen, die Leistungen von Sozialhilfe auch dann nicht gewähre, wenn sie die Voraussetzungen erfüllten, die für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaates gälten (Nr. 44).
In Anwendung dieser Grundsätzen erlangen nach der Rechtsprechung des EuGH mithin auch nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht nur ein Bleiberecht, sondern auch Teilhabeansprüche hinsichtlich der staatlichen Sozialleistungssysteme. Die vom EuGH genannten Vertragsartikel wirken sich sekundär in der Form aus, dass sie – im Sinne des Prinzips der Inländergleichbehandlung – vor Benachteiligung der Unionsbürger gegenüber Inländern des Aufnahmemitgliedstaates schützen (kritisch zu dieser Rechtsprechung Wollenschläger, in: EuZw 2005, S. 309 f.). Wenn der EuGH Schranken dabei für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen eines Mitgliedsstaates in einer unangemessenen, nicht näher bestimmten Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen sieht, trägt dem das deutsche nationale Recht durch § 23 Abs. 3 SGB XII Rechnung; danach können Sozialhilfeleistungen eingeschränkt werden, falls die Einreise in der Absicht erfolgt ist, Sozialhilfe zu erlangen.
Der Beigeladenen ist durchaus zuzugeben, dass die Leistungsgewährung im vorliegenden Fall dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers nicht entspricht, sondern ihm zuwiderläuft. Der nur in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille ist allerdings ein zwar beachtlicher, nicht jedoch der allein entscheidende Gesichtspunkt bei der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift, sofern der Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift auch eine andere, ggf. sogar gegenläufige Lesart erlaubt. Ein weiterer Auslegungsgesichtspunkt ist in einem solchen Falle auch, ob eine nach dem Wortlaut mögliche Interpretation auch den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügen kann. Dies ist bei der durch die Gesetzesmaterialien nahegelegten Lesart des § 21 S. 1 SGB XII jedoch nicht der Fall. Denn diese Lesart des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales bedeutete den Ausschluss von sich nach dem FreizügG/EU rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden Unionsbürgern von Sozialleistungen in einer i.S.d. Art. 12 EGV diskriminierenden Weise.
Der Wortlaut des § 21 S. 1 SGB XII erlaubt es nach Ansicht des Senats freilich ebenso, Ausländer, die wegen § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II keine Leistungen nach dem SGB II beziehen können, als bereits "dem Grunde nach" von diesen Leistungen ausgeschlossen anzusehen. Kann jedoch allein diese Auslegung des § 21 S. 1 SGB II den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts, wie sie vom EuGH insbesondere im Urteil vom 07.09.2004 – C-456/02 (Trojani) erkannt worden sind, entsprechen, so verdient sie gegenüber derjenigen des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales den Vorzug. Als nach dem Gesetzeswortlaut mögliche (und dabei einzig gemeinschaftsrechtskonforme) Lesart überschreitet sie zudem entgegen der Ansicht der Beigeladenen keineswegs die dem Gericht im gewaltenteilenden Staat zukommenden Befugnisse im Rahmen der Rechtsanwendung. Keineswegs schafft sie auch im Wege richterlicher Rechtsfortbildung eine gesetzlich nicht vorgesehene Anspruchsgrundlage auf öffentliche Leistungen; sie legt vielmehr eine bereits bestehende Anspruchsgrundlage unter Wahrung der für eine Gesetzesauslegung bestehenden Grenzen lediglich in zulässiger Weise aus.
Die Beigeladene ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass nach dem genannten Urteil des EuGH (dort Nr. 45) dem Aufnahmemitgliedstaat die Feststellung unbenommen bleibt, ob ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates, der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, die Voraussetzungen für sein Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt. Der Aufnahmemitgliedstaat kann in einem solchen Fall unter Einhaltung der vom Gemeinschaftsrecht gezogenen Grenzen eine Ausweisung vornehmen. Die Inanspruchnahme des Sozialhilfesystems durch einen Unionsbürger allein darf allerdings nicht automatisch eine solche Maßnahme zur Folge haben (Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 20.09.2001 – C-184/99 – Grzelczyk, dort Nr. 42 f.). Es wäre für die Beigeladene deshalb durchaus möglich, zu prüfen, ob die Antragsteller das Aufenthaltsrecht aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU tatsächlich noch besitzen. Solange ihnen jedoch dieses Recht ausweislich der Freizügigkeitsbescheinigung i.S.v. § 5 Abs. 1 FreizügG/EU zusteht, ist vom Bestehen des Aufenthaltsrechts auszugehen. Der Senat ist jedenfalls, wie gezeigt, aufgrund ihrer Tatbestandswirkung an die Freizügigkeitsbescheinigung der Antragsteller gebunden, solange diese Bescheinigung nicht aufgehoben oder widerrufen worden ist (zur Aufhebung vgl. OVG Brandenburg, Beschluss vom 18.04.2005 – 8 S 39.05). Der Senat hat deshalb insbesondere nicht zu prüfen, ob sich die Antragstellerin zu 1) tatsächlich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufgehalten hat bzw. noch aufhält.
Zusammenfassend ist es deshalb bei summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragsteller für die Zeit ab Antragstellung beim Sozialgericht (06.07.2006) bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf einstweilige Leistungen der Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 SGB XII haben. Ergänzend ist insoweit anzumerken, dass ein Ausschlussgrund nach § 23 Abs.3 S. 1 SGB XII (Einreise zum Zwecke der Erlangung von Sozialhilfe) bei summarischer Prüfung nicht erkennbar ist. Denn die Antragstellerin zu 1) hat sich mit dem Antragsteller zu 2) zunächst bei ihrem ehemaligen Lebensgefährten in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten; dieser Zustand änderte sich erst durch durch den Bruch der Beziehung zum Lebensgefährten. Verbleibende Zweifel sind ggf. im Hauptsacheverfahren zu klären. Dort wird das Sozialgericht auch zu prüfen haben, ob es die vom Senat vorgenommene gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in Ansehung der Rechtsprechung des EuGH teilen kann, oder ob es eine Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH (Art. 234 EGV) für notwendig hält.
Bei der Verpflichtung zur Erbringung von Leistungen bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung geht der Senat davon aus, dass die Beigeladene einstweilen weiterhin Leistungen auch nach diesem Zeitpunkt erbringen wird, sofern sich die tatsächlichen und/oder rechtlichen Verhältnisse nicht ändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 13.11.2006
Zuletzt verändert am: 13.11.2006