Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Gelsenkirchen vom 24. Oktober 2006 wird zurückgewiesen, nachdem das SG der Beschwerde nicht abgeholfen hat (Entscheidung vom 20.11.2006) – mit der Maßgabe, daß die Antragsgegnerin verpflichtet wird, die Kosten der streitigen Behandlung mit Immunglobulinen für die Dauer von nur einem Jahr einstweilen zu übernehmen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
Zu Recht hat das SG die Antragsgegnerin im Wege der (Regelungs)Anordnung (§ 86 Abs 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) verpflichtet, die Kosten der von der Antragstellerin begehrten Behandlung einstweilen zu übernehmen, soweit im Hauptsacheverfahren keine andere Entscheidung getroffen wird.
Der erkennende Senat hat mit Beschluss vom 10.7.2003 (L 16 B 35/03 KR ER LSG NW) bestätigt, daß seinerzeit keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestand, daß die intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen (IVIG) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei schubförmig remittierend verlaufender Erkrankung an MS als nur ausnahmsweise zulässiger off-label-use würde betrachtet werden können (Bundessozialgericht (BSG) Urt.v. 19.3.02 B 1 KR 37/00 R = BSGE 89,184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 – "Sandoglobulin gegen chronisch progrediente MS"),
Dem Senat sind auch keine neuen Erkenntnisse bekannt, die es erlauben würden, von dieser Sicht abzuweichen. Das gilt auch und insbesondere, soweit das Paul-Ehrlich-Institut in seiner Schrift zur "Therapie der schubförmigen MS mit IVIG" (Stand Oktober 2005) berichtet, daß es für die Behandlung von Patienten, bei denen andere zugelassene Arzneimittel nicht wirkten oder kontraindiziert seien, Empfehlungen für die Anwendung der IVIG von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Konsensus-Gruppen und anderen gebe, daß sich in Publikationen noch stärker als bisher Hinweise auf die Wirksamkeit der IVIG bei schubförmiger MS fänden, daß es aus der Sicht des Institutes aber immer noch keinen Anlaß für eine Zulassung gebe, weil es noch an einer kontrollierten, adäquaten Phase-III Studie fehle, wie sie für Produkte wie Beta-Interferone oder Copraxone vor der Zulassung vorgelegen hätten.
Das SG hat denn auch seine der Antragstellerin einstweiligen Rechtsschutz zubilligende Entscheidung wesentlich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 = NJW 2006, 891 = USK 2005-50) gestützt. Trotz seiner Bedenken hinsichtlich der Umsetzbarkeit dieser Entscheidung (vgl. Urt.v. 16.3.06 L 16 KR 306/04 = B 1 KR 66/06 NZB) kann der Senat sich im vorliegenden Einzelfall nicht dazu verstehen, die angefochtene Entscheidung vollends aufzuheben.
Insbesondere was das Vorliegen einer "lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung" und/oder, so man dies in Betracht zieht, eine Gleichstellung gleich gravierender Umstände anbetrifft, hat der behandelnde Nervenarzt Dr. S seinen Antrag vom 6.12.2004 damit begründet, daß die Antragstellerin in der (nicht näher bezeichneten) Vergangenheit mit IVIG behandelt worden sei, und daß sie , die vorübergehend praktisch blind gewesen sei, wieder habe sehen können, und daß auch die übrigen Körperstörungen so gut rückbildungsfähig gewesen seien, daß die Antragstellerin ihrer Arbeit habe wieder nachgehen können, während sie, nachdem die Medikation im Hinblick auf das Urteil des BSG aus dem Jahre 2003 (2) umgestellt worden sei, habe berentet werden müssen. Mit Schreiben vom 15.3.2005 hat Dr. S ergänzt, obwohl die Antragstellerin in den vergangenen zwei Jahren mit Interferonen und Azathioprin sowie Cortison im Schub behandelt worden sei, sei es zu einer deutlichen Verschlechterung und zur Zunahme der Schubfrequenz gekommen; dennoch sei die Klägerin noch gut gehfähig; gegen eine Copaxone-Therapie spreche die inzwischen phobische Einstellung der Antragstellerin gegen eine tägliche Applikation des Präparates, weil, wie die Bevollmächtigten der Klägerin im Hauptsacheverfahren ergänzt haben, bei der Antragstellerin nach Verabreichung des Mittels herzinfarktähnliche Zustände eintreten. Die Antragstellerin selbst hat alsdann am 30.8.2006 im Hauptsacheverfahren vor dem SG erläutert, nachdem sich die Erkrankung bei ihr bereits in den Jahren 1982/83 gezeigt habe, habe sie Dr. S über zehn Jahre erfolgreich mit Immunglobulinen behandelt, bevor nach dem Beginn der Behandlung mit anderen Mitteln im Jahre 2002 die Verschlechterung eingetreten sei.
Mögen insoweit auch Zweifel bleiben, ob damit hinreichend Umstände aufgezeigt, glaubhaft gemacht oder ersichtlich sind, die für das Vorliegen vom BVerfG aaO angesprochener besonderer Umstände sprechen, so hat auch die Antragsgegnerin keinen Anlaß gesehen, dem geschilderten Sachverhalt und der Frage der behaupteten Kausalitäten nachzugehen. Andererseits war das Vorliegend der vom BVerfG aaO weiterhin geforderten "nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung" im Falle der Behandlung der Antragstellerin mit IVIG unter Berücksichtigung der o.a. Äußerung des Paul-Ehrlich-Instituts ohne weiteres zu bejahen. Mag dies auch für eine Versicherte mit den von der Antragstellerin durch den Steuerbescheid für das Jahr 2004 nachgewiesenen Einkünften eine einer Entscheidung in der Hauptsache zum Teil gleichkommende Entscheidung sein, so erschien es dem Senat nach allem letztlich doch nicht zumutbar, daß die Antragstellerin noch weiter und bis zur Entscheidung in der Hauptsache abwartet, ob eine Umkehr in der Medikation eine nennenswerte Umkehr ihrer krankheitsbedingten Beschwernisse zu zeitigen in der Lage ist. Dies zu bestätigen oder auch zu widerlegen scheinen dem Senat freilich keine zwei Jahre nötig, sodaß die Dauer der einstweiligen Anordnung auf ein Jahr zu begrenzen war, mit der Folge, daß auch die möglichen Nachteile einer letztlich vielleicht obsiegenden Antragsgegnerin begrenzt bleiben.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Die Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) ist nicht gegeben (§§ 172 ff, 177 SGG).
Erstellt am: 29.11.2006
Zuletzt verändert am: 29.11.2006