Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 31. Oktober 2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger aufgrund einer anerkannten Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (Lärmschwerhörigkeit) Verletztenrente gewähren muss.
Der 1944 geborene Kläger ist seit 1973 als Gattierungshelfer und Schmelzer in der Gießerei der U B AG in F beschäftigt. Nach einer Stellungnahme des Ing. (grad.) C aus L vom 05. Dezember 2002 ist er dort Lärmpegeln von mehr als 85 dB (A) ausgesetzt. Gestützt auf ein Gutachten des niedergelassenen Hals-, Nasen- und Ohren(HNO-)arztes Dr. L1 aus E vom 14. Januar 2003 erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Januar 2003 eine beginnende Innenohrschwerhörigkeit beiderseits als BK nach Nr. 2301 an und lehnte es gleichzeitig ab, dem Kläger Verletztenrente zu gewähren. Den Widerspruch vom 25. Februar 2002 wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 2003 zurück. Dagegen erhob der Kläger im Vorprozess (S 13 U 107/03) am 24. September 2003 vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen Klage. Das SG ließ den Kläger von Amts wegen durch den niedergelassenen HNO-Arzt Dr. N aus F untersuchen. Dieser führte die beginnende Schwerhörigkeit und das Tinnitusleiden beiderseits in seinem Gutachten vom 16. Februar 2004 auf die berufliche Lärmbelastung zurück und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) – bei fehlenden Hörverlusten – auf weniger als 10 vom Hundert (v.H.) ein. Daraufhin erkannte die Beklagte die Tinnitusohrgeräusche als weitere Folge der BK nach Nr. 2301 an und erklärte sich zu einer Nachuntersuchung bereit. Im Gegenzug nahm der Kläger seine Klage zurück.
Im anschließenden Verwaltungsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten des niedergelassenen HNO-Arztes Dr. X X1 aus C1 vom 01. März 2005 ein. Darin diagnostizierte er eine beginnende Schallempfindungsschwerhörigkeit, verneinte eine Zunahme des Hörverlustes und merkte an, dass ein Tinnitus nicht zu lokalisieren gewesen sei. Die MdE betrage weiterhin weniger als 10 v.H. Hierauf gestützt lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 19. April 2005 ab, dem Kläger wegen der Lärmschwerhörigkeit Verletztenrente zu gewähren. Dagegen erhob der Kläger am 20. Mai 2005 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2005 zurückwies, nachdem sie eine beratungsärztlichen Stellungnahme des HNO-Arztes Dr. N1 vom 23. Juni 2005 beigezogen hatte.
Hiergegen hat der Kläger am 15. August 2005 vor dem SG Gelsenkirchen Klage erhoben und behauptet, dass ein Hörverlust von 20% vorliegen müsse, weil er die Hörstörung selbst bemerke und ihm zwischenzeitlich ein Hörgerät verordnet worden sei. Da er außerdem unter Ohrgeräuschen leide, sei seine Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. gemindert.
Mit Urteil vom 31. Oktober 2005 hat das SG die Klage abgewiesen: Die MdE aufgrund der Lärmschwerhörigkeit sei auf weniger als 10 v.H. einzustufen, wie die Verwaltungsgutachter Dr. L1, Dr. N und Dr. X1 einmütig und überzeugend dargelegt hätten. Es existiere kein Erfahrungssatz, dass die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. gemindert sei, wenn der Betroffene seine Hörstörung selbst bemerke und gleichzeitig unter Ohrgeräuschen leide.
Nach Zustellung am 07. November 2005 hat der Kläger gegen dieses Urteil am 07. Dezember 2005 Berufung eingelegt und sich auf Tonaudiogramme berufen, die einen Hörverlust von 40% und mehr belegten.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 31. Oktober 2005 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2005 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen der anerkannten BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV Verletztenrente zu gewähren.
Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt schriftsätzlich, die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat gem. § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. M, Leitender Arzt der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am B1 L2 Krankenhaus in F vom 04. Mai 2006 eingeholt. Bei der Untersuchung am 28. März 2006 hat der Kläger dem Sachverständigen (SV) geschildert, dass er "im Augenblick kein Ohrgeräusch" wahrnehme. Die Hörgeräte trage er "meistens auf der Arbeit, zu Hause weniger". Dies hat der SV als "höchst riskant" bezeichnet, weil die Hörgeräte die berufliche Lärmeinwirkung verstärkten, was "bedrohliche Auswirkungen auf das Hörvermögen haben" könne. Die Angaben des Klägers sprächen dafür, dass er ein Hörgerät in Alltags- und Gesprächssituationen gar nicht benötige. Aus den Tonschwellen- und Sprachaudiogrammen lasse sich eine beiderseits symmetrische, knapp beginnende Hochfrequenzschallempfindungsschwerhörigkeit herleiten, die bei prozentualen Hörverlusten von 0% beiderseits keine MdE bedinge.
Hierzu hat sich der Kläger kritisch geäußert und Stellungnahmen des niedergelassenen HNO-Arztes Dr. N2 aus C2 vom 12. Juli und 13. August 2006 sowie 25. Januar 2007 überreicht, wonach er an einer beiderseitigen Innenohrschwerhörigkeit leide, die zu erheblichen Kommunikationsproblemen führe. Daraufhin hat der Senat von Dr. N2 einen Befundbericht vom 24. August 2006 nebst aktuellem Tonaudiogramm angefordert und eine ergänzende Stellungnahme des SV Prof. Dr. M vom 23. November 2005 beigezogen, der an seiner bisherigen Beurteilung festgehalten hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte (Az.: 423/1096130/02) verwiesen. Beide Akten waren Gegenstand der Beratung und Entscheidung.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil der Bescheid vom 19. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 2005 (§ 95 SGG) rechtmäßig ist und den Kläger nicht beschwert (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG). Denn er hat aufgrund der anerkannten BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente.
Nach § 56 Abs 1 Satz 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) haben Versicherte Anspruch auf Rente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge der BK über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit, § 7 Abs 1 SGB VII) gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (sog. Stützrente, § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalles sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente, bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wird Teilrente geleistet. Sie wird in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs. 3 SGB VII).
Die Folgen der anerkannten BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV bedingen keine messbare MdE von 10 v.H. und damit noch nicht einmal einen Stützrententatbestand. Gemäß § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE danach, in welchem Umfang die BK-Folgen das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Versicherten beeinträchtigen und seine Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindern. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteile vom 29. November 1956, Az: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149, vom 27. Juni 2000, Az: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr 7 und vom 02. Mai 2001, Az: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr 8). Dabei sind die medizinischen und sonstigen Erfahrungssätze ebenso zu beachten wie die Gesamtumstände des Einzelfalles (vgl. BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 8). Anschließend lässt sich erkennen, welche Arbeitsgelegenheiten dem Betroffenen versperrt und welche ihm verblieben sind (Senatsurteil vom 18. Januar 2006, Az: L 17 U 118/05).
Wie weit die Unfallfolgen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteile vom 26. Juni 1985, Az: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr 23, vom 26. November 1987, Az: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr 27 und vom 30. Juni 1998, Az: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr 5; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII RdNr 10.3). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische SV zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500ff.). Die Bewertung von Hörverlusten richtet sich im Wesentlichen nach dem sog. "Königsteiner Merkblatt" (Empfehlungen des HVBG für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit, 4. Aufl. 1996; vgl. BSG, Urteile vom 15. Dezember 1982, Az.: 2 RU 55/81, Meso B 40/24 und vom 02. Mai 2001, Az.: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; vgl. auch Keller, Erfahrungen mit antizipierten Sachverständigengutachten im Berufskrankheitenrecht, MED SACH 2006, 128, 130). Danach ist zur quantitativen Bewertung der Hörstörung aus den Daten der Hörprüfungen der prozentuale Hörverlust getrennt für jedes Ohr zu berechnen (Ziffer 4.2 des "Königsteiner Merkblatts"). Der prozentuale Hörverlust wird nach der Tabelle von Boenninghaus und Röser (1973) ermittelt (Ziffer 4.2.1 des "Königsteiner Merkblatts"). Hiernach ergibt sich der prozentuale Hörverlust aus dem Verhältnis des Gesamtwortverstehens zum 50%igen Verständnis für Zahlwörter in dB (Schönberger u.a., a.a.O., S. 430 Abbildung 8). Der prozentuale Hörverlust beträgt für das rechte Ohr des Klägers nach allen sprachaudiometrischen Untersuchungen 0% und für das linke Ohr allenfalls 10%. Für diese Werte ergibt sich aus der Tabelle von Feldmann (1995) ein MdE-Grad von 0 v.H. (vgl. Schönberger u.a., a.a.O., S. 437 Abbildung 12).
Legt man – zur Kontrolle (vgl. Ziffer 4.2.2 des "Königsteiner Merkblatts") – die Tonaudiogramme zu Grunde, die Dr. N, Dr. X1 und Prof. Dr. M erstellt haben (die Werte von Dr. L1 sind offensichtlich falsch), so ergibt sich ein ähnliches Bild: Danach schwankt der Hörverlust für das rechte Ohr zwischen 0% und 10% und für das linke Ohr zwischen 0% und 15%, wenn man nach der 3-Frequenztabelle Rösers (1980) den Tonverlust bei 1 kHz zur Summe der Tonverluste bei 2 und 3 kHz zueinander in Beziehung setzt (Schönberger u.a., a.a.O., S. 432 Abbildung 10). Geht man dann – anders als Prof. Dr. M – zu Gunsten des Klägers von den schlechtesten Werten aus, wie sie Dr. X1 gemessen hat (10% Hörverlust rechts, 15% Hörverlust links), so folgt aus der Tabelle von Feldmann ebenfalls keine messbare MdE. Die anderslautende Beurteilung des niedergelassenen HNO-Arztes Dr. N2 vom 25. Januar 2007 ist unsubstantiiert, weil sie keine Untersuchungsbefunde enthält und fehlerhaft, soweit er Einzel-MdE-Werte zur Bildung der Gesamt-MdE addiert.
Dass der Kläger bei anderen Gelegenheiten tonaudiometrisch ein geringes Hörvermögen angegeben hat, führt dabei zu keinem anderen Ergebnis. Denn für die Einschätzung der Lärmschwerhörigkeit ist in erster Linie das Sprachaudiogramm heranzuziehen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Tonschwellenaudiogramme durch mangelnde Mitarbeit manipulierbar sind und überdies durch verschiedene Audiometrieverfahren, Audiometrieorte und allgemeine Audiometrieuntersuchungssituationen verfälscht werden können. Deshalb darf keinesfalls das jeweils schlechteste Tonaudiogramm aus mehreren Jahren herausgegriffen und als Beweis für das tatsächliche Ausmaß der Schwerhörigkeit angeführt werden, wie Prof. Dr. M überzeugend erläutert hat. Denn eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit bessert sich nicht, sondern bleibt gleich oder schreitet – bei weiterer erheblicher Lärmbelastung – voran. Folglich ist ein späteres und besseres Tonschwellenaudiogramm einem älteren und schlechteren vorzuziehen. Ein "alter hno-ärztlicher Erfahrungssatz", wonach eine MdE um 20 v.H. vorliege, wenn der Betroffene seine Schwerhörigkeit selbst bemerke, existiert nicht, worauf Prof. Dr. M und das SG zutreffend hingewiesen haben.
Schließlich führt auch das Ohrgeräusch, das der Kläger allenfalls zeitweise wahrnimmt, keinesfalls zu einer höheren MdE-Bewertung. Denn ständige, belästigende Ohrgeräusche rechtfertigen nach Ziffer 4.3.5. des "Königsteiner Merkblatts" lediglich eine (Einzel-)MdE "bis zu 10 v.H.", wobei dieser Wert lediglich integrierend in die Gesamt-MdE einfließen darf. Da das Ohrgeräusch des Klägers aber nur zeitweise auftritt, wird hierdurch die Gesamt-MdE nicht einmal auf 10 v.H. gesteigert, wie Prof. Dr. M schlüssig und plausibel dargelegt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 30.03.2007
Zuletzt verändert am: 30.03.2007