Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02. Juni 2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger auch im zweiten Rechtszug. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Kläger sind algerische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) reisten mit ihren Kindern – den Klägern zu 3) und 4) – am 10.12.1998 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier wurden später die Kläger zu 5) und 6) geboren.
Die Kläger zu 1) bis 4) beantragten in der Bundesrepublik Deutschland Asyl. Sie gaben in diesem Zusammenhang an, bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen in G ihre Pässe vernichtet zu haben, um eine sofortige Abschiebung in ihr Heimatland zu verhindern. Die Asylanträge der Kläger wurden 1999 abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage blieb im Jahre 2001 erfolglos. Sie sind seitdem zur Ausreise verpflichtet. Da sich die Kläger zu 2), zu 3) sowie zu 4) zwischenzeitlich in ärztlicher Behandlung befunden hatten und auf Grund ärztlicher Bescheinigung zumindest zeitweise als reiseunfähig angesehen worden waren, führte die Ausländerbehörde der Stadt S zuletzt keine Maßnahmen mehr zur Abschiebung der Kläger in ihr Heimatland durch. Sie erhielten vielmehr eine Duldung gemäß § 55 Absatz 4 Ausländergesetz.
Die Kläger bezogen bis zum 31.12.2004 nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz Leistungen in besonderen Fällen. Auf Grund einer Änderung des Gesetzes durch das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30.7.2004 (BGBl I S. 1950) stellte die Beklagte mit Bescheid vom 16.12.2004 die bisherigen Leistungen ein und bewilligte für die Zeit ab 1.1.2005 nur noch niedrigere Grundleistungen nach §§ 3, 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Sie führte zur Begründung aus, die bisher gewährten Leistungen in besonderen Fällen seien mit Wirkung ab 1.1.2005 nicht mehr zu erbringen, weil § 2 Asylbewerberleistungsgesetz durch die Neuregelung geändert worden sei. Ein weiterer Anspruch der Kläger scheitere daran, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland selber rechtsmissbräuchlich beeinflusst hätten, indem sie bei ihrer Einreise ihre Pässe vernichtet hätten und deswegen eine Abschiebung nicht habe durchgeführt werden können. Die Kläger erhoben am 4.1.2005 gegen diesen Bescheid Widerspruch und führten aus, die Vernichtung ihrer Pässe habe nicht zur Verlängerung des Aufenthalts geführt. Grund für ihren weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sei allein die Tatsache, dass drei der Familienmitglieder reiseunfähig erkrankt seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 22.2.2005 zurück. Sie verblieb bei ihrer Auffassung, dass die Kläger durch ihre Passvernichtung die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland rechts-missbräuchlich verlängert hätten. Dies führe nach der Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes zu den reduzierten Leistungen, auch wenn der Tatbestand der Rechtsmissbräuchlichkeit bereits vor In-Kraft-Treten des Gesetzes erfüllt worden sei.
Hiergegen richtete sich die am 9.3.2005 erhobene Klage. Die Kläger haben zu deren Begründung weiterhin darauf hingewiesen, dass die Krankheit der Familienmitglieder die Ursache für ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sei. Die Vernichtung ihrer Reisepässe spiele insoweit keine Rolle. Die Beklagte ist bei ihrer Auffassung verblieben, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Gesetzesänderung nicht mehr erfüllt seien. Den Klägern stünden daher nur noch die gekürzten Leistungen zu.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 2.6.2005 stattgegeben und die Beklagte verurteilt, den Klägern höhere Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren. Es hat im Wesentlichen dargelegt, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung – rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer – nicht jene Leistungsbezieher nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz alter Fassung habe schlechter stellen wollen, die sich bereits eine längere Zeit in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hätten und inzwischen aus anderen Gründen nicht mehr ausreisen könnten. Dies sei vorliegend aber der Fall, weil drei Familienmitglieder der Kläger reiseunfähig erkrankt seien.
Gegen den am 15.6.2005 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 13.7.2005 eingelegte Berufung der Beklagten. Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für unzutreffend. Das Sozialgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass für die rechtsmissbräuchliche Verhaltensweise der Kläger auf den Zeitpunkt des 1.1.2005 abzustellen sei. Ihrer Auffassung nach sei vielmehr die gesamte Aufenthaltsdauer im Rahmen der Beurteilung des § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz 2005 maßgebend. Der Begriff des Aufenthalts beziehe sich nämlich auf die gesamte Zeit der Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet, weil mit der Neuregelung verhindert werden solle, dass Dauerleistungen an Ausländer bewilligt würden, die ihren Aufenthalt rechtsmissbräuchlich verlängert hätten. Es bestehe insoweit auch kein Bestandsschutz, so dass es nicht darauf ankomme, ob andere nicht selbst verursachte Umstände zwischenzeitlich dazu geführt hätten, dass eine Ausreise oder Abschiebung nicht mehr erfolgen könne. Vorliegend hätten die Kläger ihre Passlosigkeit selbst verursacht, weil sie anlässlich ihrer Einreise ihre Pässe vorsätzlich vernichtet hätten. Außerdem hätten sie Abschiebungsbemühungen erschwert, da sie sich nicht um die Beschaffung von Ersatzpässen bemüht hätten. Nach der Erkrankung der Klägerin zu 2) seien wegen ihrer Reiseunfähigkeit weitere Abschiebungsbemühungen gescheitert. Gleichwohl bestehe die Verpflichtung, freiwillig auszureisen und der Passpflicht nachzukommen.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 2.6.2005 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und weisen erneut darauf hin, dass die Frage der Passlosigkeit vorliegend für die Ausreise keine Rolle spiele, da das Ausreisehindernis allein auf der Erkrankung der Familienmitglieder beruhe. Im Übrigen hätten sich die Kläger zwischenzeitlich Ersatzpässe beschafft.
Der Senat hat zu der Frage, ob der Ausreise der Kläger zu 2, 3 und 4 seit ihrer Ausreiseverpflichtung am 4.5.2001 bis zum 1.1.2005 medizinische Gründe durchgehend entgegengestanden hätten, Beweis durch Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage von Professor Dr. K I – Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes – und Jugendalters – erhoben, das dieser am 26.1.2007 erstattet hat.
Die Beteiligten sind bei ihrer Auffassung geblieben und haben beantragt, eine Entscheidung ohne erneute mündliche Verhandlung zu treffen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach – und Streitstandes wird auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze sowie der Verwaltungsakten der Beklagten und der Ausländerbehörde Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten (auf ihren Antrag hin) nach § 124 Absatz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig, weil sie mit Bescheid vom 16.12.2004 eine zeitlich nicht begrenzte Leistung ab 1.1.2005 bewilligt hat, wozu sie berechtigt ist (vgl BSG – Urteil vom 8.2.2007 – B 9b AY 1/06 R, Rn 12,13). Sie ist aber unbegründet. Die Kläger haben auch nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung ab 1.1.2005 einen Anspruch auf Leistungen in Höhe der Leistungen nach dem SGB XII. Die Kläger erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Da die Kläger eine ausländerrechtliche Duldung besitzen, sind sie Berechtigte im Sinn des § 1 Absatz 1 Nr. 4 Asylbewerberleistungsgesetz. An ihrer Hilfebedürftigkeit hat sich auch ab dem 1.1.2005 nichts geändert.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der angefochtene Bescheid vom 16.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.2.2005 rechtswidrig, mit dem sie die Bewilligung der ab 1.7.2003 zuerkannten höheren BSHG – Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz alter Fassung aufgehoben und ab 1. 1. 2005 nur noch solche in Höhe des §§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz weiterbewilligt hat. Den Klägern stehen vielmehr auch weiterhin Hilfeleistungen in Höhe der Leistungen nach dem (nunmehr ab 1.1.2005 geltenden) SGB XII gemäß § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz zu, weil sie entgegen der Annahme der Beklagten die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben/beeinflussen.
Der Begriff der "Rechtsmissbräuchlichkeit", der an die Stelle der bis 31.12.2004 geltenden Umschreibung der eine Ausweisung hindernden Gründe in § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz ist ( …wenn die Ausreise nicht erfolgen kann …, da humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe … entgegenstehen), ist vom Gesetzgeber nicht näher definiert worden. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil aaO, Rn 18) ist unter einer rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat, zu verstehen. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (Ende der Rn 18 mwN) – der also in vorwerfbarer Weise nicht ausreist, obwohl ihm die Erfüllung der Ausreisepflicht sowohl tatsächlich und rechtlich möglich als auch zumutbar ist (vgl BSG aaO, Rn 21, 22 mwN). Letzteres ist hier nicht der Fall, so dass die Kläger ihre Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich verlängern. Die Beklagte weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Kläger durch die Passvernichtung anlässlich ihrer Einreise gegen die bestehende Rechtsordnung gehandelt haben, so dass sie nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens mangels Besitzes von Pässen nicht sofort in ihr Heimatland abgeschoben werden konnten. Obwohl dieses tatsächliche Hindernis nach ihrem Vortrag beseitigt ist, weil sie zwischenzeitlich Ersatzpässe erhalten haben, ist eine Ausreise für die Kläger nicht zumutbar gewesen, weil unverschuldete Hinderungsgründe vorliegen. Das BSG (vgl Urteil aaO, Rn 26, 27) beschränkt die Unzumutbarkeit der Ausreise nicht auf zielstaatsbezogene Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Ein Bleibegrund kann sich vielmehr auch aus einer besonderen Situation der Ausländer ergeben, die nicht notwendig ein Abschiebehindernis darstellt.
Eine derartige besondere unverschuldete Situation, die eine Ausreise unzumutbar macht, ist im vorliegenden Fall durch die Krankheit der Kläger zu 2), zu 3) und zu 4) gegeben und zu berücksichtigen. Ausgehend von der Rechtsprechung des BSG ist für die Frage der Zumutbarkeit nicht erheblich, ob die zu berücksichtigenden Situation vor oder nach dem 1.1.2005 entstanden ist. Dementsprechend ist auch nicht allein entscheidungserheblich, ob eine Handlung wie vorliegend anlässlich der Einreise rechtswidrig gewesen ist und zu Abschiebeschwierigkeiten geführt hat. Unabhängig von den genannten Gesichtspunkten bleibt nämlich entscheidend zu klären, ob die Abschiebung, also die Beendigung des Aufenthalts, im streitigen Zeitraum schuldhaft verzögert wird. Dies ist vorliegend nicht der Fall gewesen.
Ausweislich des vom Senat eingeholten Gutachtens nach Aktenlage vom 26.1.2007 steht fest, dass die Kläger zu 2), zu 3) und zu 4) bereits für die Zeit vom 4.5.2001 bis 1.1.2005 reiseunfähig erkrankt gewesen sind. Der Senat hält insoweit die Einschätzung des Sachverständigen für zutreffend, der alle vorhandenen ärztlichen Unterlagen betreffend die Kläger berücksichtigt und sie bezogen auf die Einzelpersonen nachvollziehbar ausgewertet hat. Danach liegen bei den Klägern zu 2) und zu 3) schwerwiegende und bedrohliche posttraumatische Störungen vor. Auch bei der Klägerin zu 4) besteht eine ent-sprechende psychiatrische Erkrankung, wenngleich weniger schwerwiegend und bedrohlich als bei den Klägern zu 2) und 3). Der Senat sieht es auch als nachvollziehbar an, dass die Behandlung solcher schweren posttraumatischen Belastungsstörungen in erster Linie darauf ausgerichtet ist, stabilisierende Maßnahmen aufzubauen und Re-Traumatisierungen zu vermeiden, und dass eine derartige Stabilisierung nicht gelingen kann, wenn permanent eine Rückkehr in die Umgebung droht, in dem die Traumatisierung erfolgte. Da vorliegend diese Belastung wegen der drohenden Abschiebung ins Heimat-land bei den Klägern besteht und es sich um einen andauernden Behandlungsprozess handelt, der ersichtlich nicht durch die bisherigen Behandlungen zu Gunsten der Kläger erfolgreich durchgeführt werden konnte, hat der Senat keine Zweifel, dass durchgehend vom 04.05.2001 bis 01.01.2005 die beschriebenen Krankheitsbilder und damit Reise-unfähigkeit bestanden haben. Nach den Feststellungen des Sachverständigen, ist auch darüber hinaus und derzeitig noch von einem andauernden Zustand der Kläger zu 2), zu 3) und zu 4) mit der damit verbundenen Reiseunfähigkeit auszugehen. Im Hinblick auf Art. 6 GG ist die Ausreise den Klägern als Familie mithin im Sinne der Rechtsprechung des BSG unzumutbar, so dass sie die Dauer ihres Aufenthalts auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Den Klägern stehen somit leistungsrechtlich ab 1.1.2005 die höheren Leistungen nach dem SGB XII nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zugelassen.
Erstellt am: 04.10.2007
Zuletzt verändert am: 04.10.2007