Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 01.02.2006 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte Kosten für die Unterbringung der Klägerin in der Mutter-Kind-Einrichtung H-Heim in C tragen muss.
Die am 00.00.1985 geborene Klägerin leidet nach einem Gutachten vom 07.07.2004 der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. N, F, das diese für das Amtsgericht Geilenkirchen im Rahmen eines Betreuungsverfahrens erstellt hat, an einer leichten geistigen Behinderung, welche eine ausreichende schulische Bildung i.S.v. Rechnen, Schreiben, Lesen lernen schon nicht mehr ermöglicht habe. Die Persönlichkeit der im Zeitpunkt der Begutachtung schwangeren Klägerin sei unausgereift, unstet, strukturschwach und abhängig. Infolge der geistigen Behinderung und der Persönlichkeitsunreife bedürfe sie der Hilfestellung durch einen Betreuer in diversen (im Gutachten näher bezeichneten) Lebensbereichen. Die Behinderung werde zeitlebens bestehen bleiben; bei ausreichender Kooperation könnte die Klägerin in einer Mutter-Kind-Wohngemeinschaft mit soziotherapeutischer Anleitung etwas nachreifen und alltragspraktische Kompetenzen entwickeln. Eine einfache Verständigung sei möglich, Geschäftsfähigkeit bestehe nur für Taschengeldgeschäfte.
Nach einem individuellen Hilfeplan des Beklagten vom 09.08.2004 kann die Klägerin u.a. einen Einkauf nicht planen und den Bedarf nicht überblicken. Sie kann nicht selbständig ausgewogene Mahlzeiten kochen, benötigt Aufforderung zur Ordnung im eigenen Bereich, muss Geld eingeteilt bekommen und kann komplexe Zusammenhänge nicht nachvollziehen. Sie hat Schwierigkeiten, ihre Freizeit zu gestalten, kann neue Strecken und Wege nicht selbständig erschließen, hat wenig Bezug zu realistischen Zielen und nur sehr unkonkrete Vorstellungen zu Zukunftsperspektiven und Lebensplanung, hat Schwierigkeiten, sich längere Abfolgen zu merken und zeitliche Zuordnungen zu treffen, benötigt mehrfache Wiederholungen, hat Schwierigkeiten, Monat oder Wochentag zu bestimmen, braucht Begleitung bei Ersterkundungen von neuen Orten, fühlt sich nicht behindert und hat oft keinen Realitätsbezug, da sie die eigenen Grenzen bzw. die Behinderung nicht erkennt, hat oft wenig Antrieb bei großer Bequemlichkeit, kann nicht lesen, rechnen und schreiben, ist bei der Ausführung ärztlicher oder therapeutischer Verordnungen nicht zuverlässig und hält sich nicht an eine gesunde Lebensweise.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten Dr. N sowie den Hilfeplan der Beklagten Bezug genommen.
Bis zum Schuljahr 2001/2002 besuchte die Klägerin die N-Schule für Lernbehinderte in H. Vom 04.11. bis 01.12.2002 nahm sie (bei Testung eines IQ von 56) zunächst an einem Eingangsverfahren der Werkstatt für behinderte Menschen (WFBM) I-P teil und blieb dort ab dem 02.12.2002 bis Juli 2003 im Berufsbildungsbereich. Anschließend lebte sie nach ihren Angaben gegenüber der Gutachterin Dr. N eine Zeit lang bei ihrem Freund in I, nach einem Streit mit dem Freund zunächst kurz bei einem Onkel eines Exfreundes und sodann wieder bei ihrer Mutter in H1.
Am 22.07.2004 beantragte die zwischenzeitlich bestellte Betreuerin der Klägerin beim Beigeladenen die Gewährung von Hilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Die Klägerin werde voraussichtlich am 28.08.2004 entbinden, lebe derzeit bei ihrer Mutter in beengten Verhältnissen und könne dort mit dem Kind nicht bleiben. Sie werde nicht in der Lage sein, sich allein um die Belange des Kindes zu kümmern.
Der Beigeladene teilte der Klägerin mit (Schreiben vom 28.07.2004), nach Auswertung des Gutachtens (Dr. N) sei Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die vorrangige Hilfeart, für die der Beklagte zuständig sei. Der Antrag werde an den Beklagten weitergeleitet; er werde jedoch erst dann tätig werden, wenn ein geeigneter Platz für die Klägerin gefunden sei. Der Beigeladene übersandte mit Schreiben vom 16.08.2004 den Antrag an den Beklagten mit der Bitte um Entscheidung über die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 39 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in eigener Zuständigkeit. Da für die Klägerin kurzfristig ein Platz im H-Heim zur Verfügung stehe, habe der Beigeladene dem Heim (unter dem 16.08.2004) gestützt auf § 4 des Gesetzes zur Ausführung des BSHG für das Land Nordrhein-Westfalen (AG-BSHG NRW) eine vorläufige Kostenzusage erteilt. Zahlungen aufgrund dieser vorläufigen Kostenzusage sind in der Folgezeit nicht erbracht worden.
Am 18.08.2004 wurde die Klägerin in die Mutter-Kind-Einrichtung H-Heim in C aufgenommen. Am 30.08.2004 brachte sie ihren Sohn K K1 L zur Welt. Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus am 07.09.2004 lebte sie zusammen mit ihm im H-Heim. Nach einer jugendamtlichen Stellungnahme der Stadt C hat ein Gespräch mit Mitarbeiterinnen des H-Heims am 01.12.2004 deutlich gemacht, dass die Klägerin ihren Sohn nicht eigenständig zu betreuen und zu versorgen in der Lage sei. Stets müssten Mitarbeiter der Einrichtung zum Schutz des Kindes anwesend sein. Die Klägerin sei zwar bemüht; immer wieder werde aber deutlich, dass sie bedürfnisorientiert handele, ohne die Auswirkungen auf ihr Kind zu berücksichtigen. Mit Beschluss vom 17.01.2005 bestellte das Amtsgericht H-Heim das Jugendamt der Stadt C als Pfleger für K K1 mit dem Wirkungskreis Aufenthaltsbestimmungsrecht, Gesundheitsfürsorge, Antragsrecht auf Jugendhilfe und Mitwirkung im Verfahren gem. § 36 KJHG. Am 13.05.2005 verzog die Klägerin nach H, wo sie an einer tagesstrukturierenden Maßnahme der dortigen Einrichtungen "N Hilf" teilnimmt. Vom 13.05. bis 07.06.2005 wurde K K1 im Kinderheim des C H-Heims betreut; seit dem 08.06.2005 ist er in einer Pflegefamilie untergebracht.
Das H-Heim teilte der Beklagten auf Anfrage mit Schreiben vom 23.09.2004 mit, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) habe das Heim als geeignete Einrichtung zur Leistung von Eingliederungshilfe gem. § 39 BSHG und Leistungen der Hilfe für Frauen in besonderen sozialen Schwierigkeiten gem. § 72 BSHG anerkannt. Außerdem sei die Mutter-Kind-Einrichtung als Einrichtung zur Leistung der Hilfe gem. § 19 KJHG anerkannt. Das H-Heim fügte ein Schreiben des LWL vom 12.02.1987 und eine Betriebserlaubnis des LWL vom 09.06.2004 bei, auf die Bezug genommen wird.
Mit Bescheid vom 25.10.2004 lehnte der Beklagte eine Kostenübernahme für die Unterbringung der Klägerin im H-Heim ab. Das H-Heim sei eine Mutter-Kind-Einrichtung, bei der es vorrangig um die Förderung der Entwicklung und Erziehung des Kindes gehe. Die Leistungen an den betreuenden Elternteil sollten dem Kind zugute kommen. Es handele sich dabei um eine Leistung i.S.v. § 19 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), für die der Beigeladene zuständig sei.
Die Klägerin legte Widerspruch ein mit der Begründung, ihre Behinderung schließe eine Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII aus; Behinderung und Persönlichkeitsstruktur erforderten vielmehr Eingliederungshilfe nach dem BSHG. Die Situation sei schlimm; sie – die Klägerin – sei in keinster Form in der Lage, sich um ihre eigenen Belange zu kümmern. Sie leide erheblich an der Trennung von ihrer Mutter und sehe sich vollends außerstande, sich selbst und ihren Sohn adäquat zu betreuen. Sie sei nicht in der Lage, sich oder ihrem Sohn Mahlzeiten zuzubereiten. Sie könne ihren Tag nicht ordentlich strukturieren, bedürfe vollständiger Anleitung durch Dritte. Sie müsse zum Aufstehen bewegt werden. Ihr sei etwa nicht ersichtlich, dass man sich bei Regen nach drinnen begebe; das Heim müsse sie dazu auffordern. So habe sie sich einmal mit dem Kind bei strömendem Regen nach draußen begeben und sei dort auch nach weiterer Aufforderung verblieben.
Der Beigeladene teilte der Beklagten unter Vorlage u.a. eines DIJuF-Rechtsgutachtens vom 27.05.2004 (Das Jugendamt 2004, 309 – 311) mit Schreiben vom 01.12.2004 mit, aufgrund der Behinderung und der Persönlichkeitsstruktur bestehe bei der Klägerin Bedarf für Eingliederungshilfe nach dem BSHG. Dieser Hilfebedarf habe sich gegenüber der ursprünglich ins Auge gefassten Maßnahme eines betreuten Wohnens durch die Geburt des Kindes derart vergrößert, dass eine Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung unumgänglich sei. Die Klägerin sei aufgrund ihrer intellektuellen Minderbegabung allein schon mit der Grundversorgung des Kindes überfordert. Da sich die Bedürfnisse des gerade erst geborenen Kindes altersbedingt auf eine Primärversorgung beschränkten, bestehe bei adäquater Hilfestellung für die Kindesmutter zunächst kein Raum für den Eintritt der Jugendhilfe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2005 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zwar sei die Klägerin behindert i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) und könne grundsätzlich Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) haben. Laut einer Stellungnahme der N-Schule vom 02.05.2005 werde es außerhalb einer geschützten Einrichtung später kaum Arbeitsmöglichkeiten für die Klägerin geben. Nach einem am 06.02.2003 erstellten ärztlichen Gutachten des Dr. K könne sie an einer Arbeitstrainingsmaßnahme in einer geschützten Einrichtung (WFBM) teilnehmen. Ursprünglich sei nach dem bereits erstellten Hilfeplan (vom 09.08.2004) auch eine Maßnahme des Betreuten Wohnens und eine (erneute) Teilnahme an Maßnahmen in der WFBM I im Rahmen der Eingliederungshilfe geplant gewesen, für die der Beklagte zuständig gewesen wäre. Nunmehr gehe es jedoch um Hilfe für die Klägerin und ihren Sohn nach § 19 SGB VIII. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gingen Leistungen nach dem SGB VIII denjenigen nach dem BSHG vor. Durch Schwangerschaft und Geburt des Kindes ständen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr nur die Bedürfnisse der Klägerin im Vordergrund. Wenn die Entwicklung und Erziehung des Kindes auf Grund der behinderungsbedingt mangelnden Fähigkeit des zuständigen Elternteils gefährdet sei, habe sich die Hilfeform vorrangig nach den Belangen des Kindes zu richten. Die Leistungen an den betreuenden Elternteil sollten dem Kinde zugute kommen (VG Düsseldorf, Urteil vom 31.08.1998 – 19 K 4705/95). Nach § 19 Abs. 2 SGB VIII solle während der Zeit der Hilfegewährung nach Abs. 1 darauf hingewirkt werden, dass die Mutter oder der Vater eine schulische oder berufliche Ausbildung beginne oder fortführe oder eine Berufstätigkeit aufnehme. Hiernach seien die ausschließlich auf die Klägerin als Mutter bezogenen, ihrer Eingliederung dienenden Hilfen einbezogen. Die ins Auge gefasste Förderung der Klägerin, insbesondere die Entwicklung alltagspraktischer Kompetenzen, sei in diesem Rahmen gewährleistet. Behinderungsbedingt seien bei der Klägerin die Voraussetzungen für eine berufliche Ausbildung oder eine Berufstätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen gegeben. § 19 SGB VIII setze zwar bei einem Persönlichkeitsdefizit der Mutter oder des Vaters an, welches auch auf eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung zurückgehen könne. Das spezifisch jugendhilferechtliche Ziel der Behebung oder Milderung dieses Persönlichkeitsdefizites bestehe jedoch darin, eine der Entstehung eines Erziehungsdefizits beim Kind vorbeugende Art des Zusammenlebens sicherzustellen; ein Vorrang der Eingliederungshilfe nach dem BSHG bzw. SGB XII gegenüber der Hilfe nach § 19 SGB VIII lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen (OVG Münster, Beschluss vom 30.11.2000 – 22 B 762/00). Es bestehe daher eindeutig die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers; dort möge ein Antrag gestellt werden.
Der Beigeladene teilte der Klägerin mit Schreiben vom 10.03.2005 mit, auch in Ansehung des Widerspruchsbescheides sei für ihn kein Grund ersichtlich, weshalb der Träger der Sozialhilfe aus seiner Verpflichtung nach § 44 BSHG bzw. § 13 SGB IX heraus keine Leistungen erbringe und anschließend eine ggf. bestehende vorrangige Leistungsverpflichtung im Wege der Kostenerstattung gegen den Jugendhilfeträger geltend mache.
Die Klägerin hat am 23.03.2005 Klage zum Sozialgericht Aachen erhoben. Das Sozialgericht Aachen hat mit Beschluss vom 07.04.2005 aus Gründen der örtlichen Zuständigkeit den Rechtsstreit an das Sozialgericht Münster verwiesen. Das Sozialgericht Münster hat mit Beschluss vom 13.04.2005 den Landrat des Kreises I nach § 75 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen.
Die Klägerin hat vorgetragen, sowohl der Beklagte als auch der Jugendhilfeträger hätten Leistungen abgelehnt. Es könne nicht richtig sein, dass der dringend notwendige Aufenthalt im H-Heim durch ein Zuständigkeitsgeplänkel zwischen Beigeladenem und Beklagtem gefährdet werde. Der Beigeladene habe ihr mitgeteilt, für einen neuerlichen Antrag vom 02.03.2005 auf Jugendhilfeleistungen bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis; entsprechend einer Bitte des H-Heims habe sie den Beklagten gebeten, die Kosten zunächst nach § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu übernehmen. Die Klägerin hat eine Kostenaufstellung des Caritasverbandes C vorgelegt, wonach für ihren Aufenthalt im H-Heim Kosten i.H.v. 36.361,54 EUR angefallen sind. Bisher habe das Heim keine Zahlungen erhalten.
Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25.10.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2005 zu verurteilen, der Klägerin Eingliederungshilfe für die Betreuung in der Mutter-Kind-Einrichtung H-Heim in C im Zeitraum 18.08.2004 bis 12.05.2005 i.H.v. 36.361,54 EUR zu gewähren.
Die Beklagte hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat u.a. vorgetragen, wenn unstreitig die sachliche Zuständigkeit eines Sozialhilfeträgers bestände, hätte der Beigeladene gegen ihn – den Beklagten als zuständigen überörtlichen Sozialhilfeträger – einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 SGB IX. § 43 Abs. 1 SGB I sei schon deshalb als "Rettungsanker" nicht verfügbar, weil er – der Beklagte – nicht zuerst angegangener Leistungsträger sei; dieses sei der Beigeladene als örtlicher Sozialhilfeträger.
Der Beigeladene hat u.a. vorgetragen, die sachlichen Voraussetzungen für eine Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII lägen nicht vor. Die Vorschrift setze ein Entwicklungsdefizit der Mutter voraus, welches für den Leistungsbedarf ursächlich sei. Ziel der Jugendhilfe sei die Aufarbeitung dieses Defizites, um die Mutter zur eigenständigen Versorgung und Betreuung des Kindes zu befähigen. Dieser Kausalzusammenhang bestehe nicht, wenn die Mutter aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zu einer selbständigen Betreuung des Kindes gar nicht zu befähigen sei (OVG Münster, a.a.O.). In einem solchen Fall seien für Mutter und Kind getrennte Lösungen zu treffen. So sei es bei der Klägerin, die ausweislich des Gutachtens Dr. N auch perspektivisch nicht in der Lage sei, sich jemals selbständig um die Betreuung, Versorgung und Erziehung ihres Sohnes zu kümmern; das Kind müsse vielmehr von der Klägerin getrennt untergebracht werden.
Mit Gerichtsbescheid vom 01.02.2006 hat das Sozialgericht den Beklagten dem Antrag der Klägerin entsprechend verurteilt. Der Klägerin stehe die Übernahme der Kosten ihres Aufenthalts im H-Heim als Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG bzw. für die Zeit ab 01.01.2005 nach §§ 17, 61 SGB XII zu. Bei Eltern mit Behinderung stelle sich die Frage des zuständigen Sozialleistungsträgers, wenn es um Leistungen gehe, die sie bei der Kindererziehung unterstützen sollten. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sei die Jugendhilfe gegenüber der Sozialhilfe vorrangig. Bei der Klägerin gehe es jedoch nicht um Jugendhilfemaßnahmen, was sich schon daran zeige, dass über Ansprüche ihres Kindes nicht gestritten werde. Sehe das SGB VIII keine Leistungen vor, kämen auch für Eltern mit Behinderung Leistungen nach dem BSHG bzw. dem SGB XII in Betracht, welche ausschließlich in der Leistungsverantwortung des Sozialhilfeträgers lägen. Die notwendige Abgrenzung müsse sich an den Umständen des Einzelfalles orientieren. Dabei komme es darauf an, ob die Behinderung die Eltern an der Ausübung einer angemessenen Pflege des Kindes hindere; in diesem Fall sehe das Kinder- und Jugendhilferecht keine Hilfen vor, Hilfe zur Pflege der Eltern sei von einer Hilfe zur Erziehung i.S.d. §§ 27 ff. SGB VIII nicht erfasst. Allerdings komme den Eltern gewährte Unterstützung in irgendeiner Weise zwangsläufig auch den Kindern zugute. Daraus folge jedoch nicht, dass jegliche Unterstützung für Eltern mit minderjährigen Kindern auch Jugendhilfe sei. Vielmehr sei darauf abzustellen, ob die Hilfe primär dem Ausgleich eines Defizites in der Erziehung diene ober aber einer verbesserten Teilhabe von Erwachsenen mit Behinderung am Leben als Eltern (DIJuF-Rechtsgutachten vom 27.05.2004). Nach dem Gutachten Dr. N vom 07.07.2004, dem Hilfeplan des Beklagten vom 09.08.2004, einer jugendamtlichen Stellungnahme des Beigeladenen vom 30.11.2004 und der jugendamtlichen Stellungnahme der Stadt C vom 14.03.2005 hätten die Probleme der Klägerin im streitigen Zeitraum ihre Ursache eindeutig in erheblichen behinderungsbedingten eigenen Problemen gehabt, welche mit der Unterbringung im H-Heim hätten behoben werden sollen. Die Klägerin sei in keiner Form in der Lage, sich um ihre Belange zu kümmern, leide erheblich an der Trennung von ihrer Mutter und sehe sich außerstande, sich um ihren Sohn adäquat zu kümmern. Sie könne sich selbst keine Mahlzeiten zubereiten, dementsprechend auch nicht ihrem Sohn, könne ihren Tag nicht ordentlich strukturieren und bedürfe vollständiger Anleitung durch Dritte. Sie müsse zum Aufstehen bewegt werden und könne keine eigenverantwortlichen Entscheidungen – z.B. das Haus abhängig vom Wetter ggf. zu hüten – treffen. Ungeachtet der Zukunft ihres Sohnes werde sie stets (ambulante) Hilfe benötigen. Dementsprechend sei sie ab dem 01.01.2005 auch nicht dem Leistungssystem für dem Arbeitsmarkt zur Verfügung Stehende des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) zugeordnet worden. Offen bleiben könne deshalb, ob der Beklagte auch als Erstinanspruchgenommener nach § 43 Abs. 1 SGB I zuständig sei.
Gegen den am 06.02.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 20.02.2006 Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, der Beigeladene hätte als zuständiger Leistungsträger vom Sozialgericht verpflichtet werden müssen. Denn die Leistungen nach dem SGB VIII gingen gem. dessen § 10 Abs. 2 Satz 1 denjenigen nach dem BSHG bzw. dem SGB XII vor. Die Unterbringung der Klägerin im H-Heim sei erforderlich gewesen, weil sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung nicht in der Lage gewesen sei, ausreichend für ihr Neugeborenes zu sorgen. Da für sie selbst ursprünglich die Betreuung im Betreuten Wohnen ins Auge gefasst gewesen sei, sei die Unterbringung im H-Heim ausschließlich zum Wohle des Kindes erfolgt. Das aber begründe die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach § 19 SGB VIII. die Beklagte wiederholt im Übrigen die Ausführungen in ihrem Widerspruchsbescheid zur von ihr herangezogenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung. Diese verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung habe das Sozialgericht nicht gänzlich außer Acht lassen dürfen; das Wohlergehen des Kindes habe das Sozialgericht gar nicht erst thematisiert. Eingliederungshilfe sei nach ihrer Konzeption auf eine Einzelperson bezogen. Werde diese Person schwanger, ändere sich die bisher auf sie bezogene Betrachtungsweise; es rücke dann das Kind in den Mittelpunkt mit der Folge, dass sich Hilfeformen nun an dessen Belangen zu orientieren hätten. Seien dessen Entwicklung und Erziehung wegen behinderungsbedingt mangelnder Fähigkeiten der Mutter gefährdet, seien die staatlichen Maßnahmen in erster Linie auf die Behebung dieser das Kind betreffenden Schwierigkeiten auszurichten. Soweit dies durch einheitliche Unterbringung von Mutter und Kind in einer gemeinsamen Wohnform geschehe, komme für beide als Rechtsgrundlage nur § 19 SGB VIII in Betracht. In Fällen dieser Art bestehe die durch § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII geregelte Konkurrenz zwischen Maßnahmen der Eingliederungshilfe und der Jugendhilfe für geistig behinderte junge Menschen nicht; die Vorschrift erfasse vielmehr nur junge Menschen, derentwegen letztlich Jugendhilfe geleistet werde, was im Falle des § 19 SGB VIII das Kind sei, für das Eingliederungshilfe nach dem BSHG nicht in Betracht komme. Im Übrigen sei der Beigeladene der erstangegangene Leistungsträger i.S.v. § 43 SGB I; er habe auch eine vorläufige Kostenzusage auf der Grundlage des § 4 AG-BSHG erteilt. Der Klägerin habe deshalb schon erstinstanzlich das Rechtsschutzinteresse gefehlt; der Beigeladene hätte auf einen Erstattungsstreit verwiesen werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 01.02.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, der Beklagte berufe sich auf eine weitere Entwicklung, die zum Zeitpunkt der Leistungsbeantragung noch gar nicht hätten gesehen werden können. Seinerzeit habe noch nicht festgestanden, dass sie – die Klägerin – in erheblichem Maße unter der Trennung von ihrer Mutter leiden und nicht in der Lage sein werde, sich um ihren Sohn adäquat zu kümmern. Vielmehr habe die Hoffnung bestanden, dass sie in der Mutter-Kind-Einrichtung eine Tagesstruktur erlernen werde und sich sodann um den Sohn werde kümmern können.
Der Beigeladene wiederholt im Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag. Es habe sich mittlerweile mit dem Auszug der Klägerin aus dem H-Heim und der anderweitigen Unterbringung ihres Sohnes die seinerzeitige Perspektive bestätigt, dass die Klägerin nicht in der Lage sein werde, sich jemals selbständig um Betreuung und Erziehung ihres Sohnes zu kümmern. Die Klägerin habe erhebliche behinderungsbedingte eigene Probleme, die mit der Unterbringung unabhängig von der bevorstehenden Geburt hätten behoben werden sollen; die Unterbringung habe daher ihrer eigenen Eingliederung gedient.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und des Beigeladenen Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Der Senat konnte in der Sache entscheiden, obwohl das sozialgerichtliche Verfahren an einem erheblichen Mangel litt. Das Sozialgericht hätte nicht durch Gerichtsbescheid des Kammervorsitzenden entscheiden dürfen.
Eine solche Verfahrensweise ist nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nur erlaubt, wenn die Sache u.a. keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Klägerin jedoch nicht vor. Zum einen führt bereits die Fülle der berücksichtigenden Tatsachen zu besonderer tatsächlicher Schwierigkeit der Sache; zum anderen begründen die aufgeworfenen rechtlichen Fragen, die eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i.S.d. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG annehmen lassen, eine besondere rechtliche Schwierigkeit. Der Vorsitzende der 16. Kammer des Sozialgerichts Münster hat, wenn er gleichwohl durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) ihrem gesetzlichen Richter entzogen: Die vom Gesetz bestimmte Mitwirkung ehrenamtlicher Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens; wird ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Gerichtsbescheid entschieden und damit die Vorschrift über die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG) missachtet, wird der grundrechtliche Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Richter verletzt (BSG, Urteil vom 16.03.2006 – B 4 RA 59/04 R = SozR 4-1500 § 105 Nr. 1).
Trotz dieses wesentlichen Verfahrensmangels des Sozialgerichts kann der Senat jedoch in der Sache selbst entscheiden. Denn bei einem solchen Verfahrensmangel besteht zwar nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG die Befugnis, nicht aber die zwingende Verpflichtung des Landessozialgerichts, den Gerichtsbescheid aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (BSG, Urteil vom 30.08.2001 – B 4 RA 87/00 R = BSGE 88, 274 – 288). Der Senat hält eine Zurückverweisung im vorliegenden Fall angesichts der schon längeren Verfahrensdauer im Interesse der Beteiligten nicht für sachgerecht; das Sozialgericht wird allerdings in vergleichbaren künftigen Fällen mit möglicher Zurückverweisung zu rechnen haben.
Das Sozialgericht hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht verpflichtet, die Kosten der Unterbringung der Klägerin im H-Heim im Wege der Eingliederungshilfe zu übernehmen.
Der Klägerin stand während ihres Aufenthalts im H-Heim (18.08.2004 bis 13.05.2005) sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zu (demgegenüber bleibt das Abstellen des Sozialgerichts auf § 61 SGB XII [Hilfe zur Pflege] ohne erkennbaren Sinn. Erläuterungen für das Heranziehen von § 61 SGB XII gibt das Sozialgericht nicht; die Heranziehung bleibt auch im Zusammenhang mit den übrigen Entscheidungsgründen des Sozialgerichts, die sich im Wesentlichen am in der Verwaltungsakte der Beklagten abgehefteten DIJuF-Rechtsgutachten vom 27.05.2004 orientieren, unverständlich).
Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 des bis zum 31.12.2004 geltenden BSHG bzw. nach § 53 Abs. 1 Satz 1 des ab dem 01.01.2005 geltenden SGB XII ist Personen, die durch eine Behinderung i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind, Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Leistungen der Eingliederungshilfe sind nach § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG bzw. nach § 53 Abs. 3 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB IX. Nach § 55 Abs. 1 SGB IX sind Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfasst, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX gehören hierzu Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen; nach Nr. 6 der Vorschrift gehören hierzu Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten.
Die Klägerin erfüllt aufgrund ihrer im Gutachten Dr. N eingehend untersuchten, lebenslangen geistigen Behinderung die Voraussetzungen für eine Eingliederungshilfe nach dem BSHG bzw. SGB XII. Dass ein solcher Anspruch der Klägerin grundsätzlich zustand (und zusteht), steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Die Unterbringung und Betreuung der Klägerin im H-Heim erfüllte auch die genannten gesetzlichen Kriterien der ihr konkret zuteil gewordenen Eingliederungshilfe. Im H-Heim wurde das Leben der Klägerin als Mutter ihres Sohnes in geeigneter Weise strukturiert und unterstützt, um ihr ein möglichst selbständiges Wohnen und Leben gemeinsam mit ihrem Sohn zu ermöglichen und ihr den Erwerb und den Ausbau diesbezüglicher Fähigkeiten zu ermöglichen.
Der Beklagte ist allerdings der Ansicht, der Anspruch der Klägerin auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe sei während ihres Aufenthalts im H-Heim hinter das Jugendhilferecht zurückgetreten. Die Qualifizierung des Aufenthalts der Klägerin im H-Heim als jugendhilferechtliche Maßnahme kommt insofern einzig als eine Maßnahme nach § 19 SGB VIII in Betracht. Nach dieser Vorschrift sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen sollen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen (Abs. 1 Satz 1). Während dieser Zeit soll darauf hingewirkt werden, dass die Mutter oder der Vater eine schulische oder berufliche Ausbildung beginnt oder fortführt oder eine Berufstätigkeit aufnimmt (Abs. 2).
Es kann jedoch dahinstehen, ob der Aufenthalt der Klägerin im H-Heim neben den Kriterien für eine Eingliederungshilfe in ihrer Person auch diejenigen für eine Maßnahme nach § 19 SGB VIII erfüllte.
Denn die Klägerin begehrt jedenfalls eine Förderung ihres dortigen Aufenthalts als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe. Sie kann dies auch mit Erfolg tun; sie wäre, selbst wenn auch die Kriterien für eine Hilfeleistung nach § 19 SGB VIII erfüllt sein sollten, nicht etwa vorrangig auf eine Inanspruchnahme von Jugendhilfe zu verweisen:
Nach § 10 SGB VIII werden Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch das SGB VIII nicht berührt (Abs. 1 Satz 1). Leistungen anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen sind (Abs. 1 Satz 2 i.d.F. bis 31.12.2004; i.d.F. Ab 01.01.2005: "auf Rechtsvorschriften beruhende" Leistungen). Allerdings gehen die Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem BSHG bzw. SGB XII vor (§ 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII i.d.F. bis 31.12.2004, in der Gesetzesfassung ab 01.01.2005 als § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Nach einer Rückausnahme (Abs. 2 Satz 2 bzw. ab 2005 Abs. 4 Satz 2) gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG/SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, jedoch wiederum Leistungen nach dem SGB VIII vor.
Die 1985 geborene, zur Zeit ihres Aufenthalts im H-Heim 19- bzw. 20-jährige Klägerin fällt unter den Begriff des "jungen Menschen" i.S.d. SGB VIII; denn nach 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB III ist junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist. Für sie gehen deshalb nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII i.d.F. bis 31.12.2004 bzw. nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII i.d.F. ab 01.01.2005 Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG/SGB XII Leistungen nach dem SGB VIII vor. Selbst wenn der Klägerin ein Anspruch auf Förderung ihres Aufenthalts im H-Heim aus § 19 SGB VIII gegen den Beigeladenen zustehen sollte, konnte sie deshalb in jedem Falle den vorrangigen Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe gegen den Beklagten geltend machen.
Ohne die Rückausnahme in § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII wären nach Satz 1 der Vorschrift alle Jugendhilfeleistungen gegenüber Sozialhilfeleistungen vorrangig. Die Rückausnahme in Satz 2 setzt als Sonderregelung für Maßnahmen der Eingliederungshilfe lediglich voraus, dass Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG/SGB XII für junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung bzw. Behinderungsbedrohung, geleistet werden oder zu leisten sind. Die Abgrenzung, ob nach Satz 1 der Jugendhilfeträger oder nach Satz 2 der Sozialhilfeträger zuständig ist, hängt deshalb allein von der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialhilfeleistung ab; bei Eingliederungshilfe ist die Sozialhilfe vorrangig, bei anderen Sozialhilfeleistungen ist die Jugendhilfe vorrangig. Bei vermeintlichen Abgrenzungsschwierigkeiten auf Satz 1 als Grundsatzregelung zurückzugreifen, ist nicht zulässig. Jugendhilfe und Sozialhilfe sind zwei umfassende sozialrechtliche Hilfesysteme mit unterschiedlichen Aufgaben und Rechtsfolgen, die nicht trennscharf aufeinander abgestimmt und deshalb auch nicht sachtypisch voneinander abzugrenzen sind. Mit den Kollisionsregelungen in § 10 Abs. 2 a.F. bzw. Abs. 4 n.F. SGB VIII hat der Gesetzgeber für den wichtigsten und schwierigsten Überschneidungsbereich der Leistungen für behinderte junge Menschen eine bereichs-spezifische Differenzierung vorgenommen (vgl. auch Wiesner, SGB VIII, 2006, § 10 Rn. 31). Diese Vor- und Nachrangregelung stellt allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen ab. Eine Differenzierung danach, ob der Schwerpunkt des Bedarfs oder Leistungszwecks bzw. -ziels eher auf die Jugendhilfe oder aber auf die Eingliederungshilfe verweise, ist nicht zulässig. Denn die Regelung eines Nach- bzw. Vorrangs zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe setzt von vornherein voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind; nur in einem solchen Fall besteht überhaupt ein Bedürfnis für eine Nach- bzw. Vorrangregelung. § 10 Abs. 2 a.F. bzw. Abs. 4 n.F. SGB VIII stellt deshalb nicht auf einen Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden denkbaren Hilfestellungen ab, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen; konkurrieren Maßnahmen der Eingliederungshilfe für behinderte junge Menschen nach dem BSHG/SGB XII mit Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII, so ist nach Satz 2 der Vorschrift(en) ohne Weiteres die Sozialhilfe vorrangig (BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 – 5 C 26/98 = FEVS 51, S. 337 – 340, S. 339 f.).
Demgegenüber lässt sich für Fälle wie den vorliegenden auch nicht einwenden, § 19 SGB VIII und die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe dienten gänzlich anderen Zwecken. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen stehe der Jugendhilfe zur Förderung und Erziehung der Familie gegenüber, so dass mit gleicher Zielsetzung Leistungen der Rehabilitation und der Erziehung gegenüber ständen. Auf dieses Konkurrenzverhältnis aber sei § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII nicht zugeschnitten; die Vorschrift könne nur die Konkurrenz von jugenhilferechtlicher Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe betreffen, nicht aber die Konkurrenz von sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe und anderen jugendhilferechtlichen Maßnahmen (wie etwa solchen nach § 19 SGB VIII), bei denen es bei der allgemeinen Regel des § 10 Abs. 2 Satz 1 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 1 n.F. SGB VIII verbleibe (so aber Mrozynski, Die gemeinsame Betreuung behinderter Eltern mit ihren Kindern, ZfJ 2003, 458, 460). Der Wortlaut des § 10 Abs. 2 a.F. bzw. Abs. 4 n.F. SGB VIII legt mit dem Abstellen auf "Leistungen nach diesem Buch" und eben nicht "Leistungen der Eingliederungshilfe nach diesem Buch" einen entsprechend eingeschränkten Anwendungsbereich gerade nicht nahe. Auch die systematisch Stellung spricht eher gegen eine solche Einschränkung; die Vorschrift will vielmehr – gleichsam "vor die Klammer" der verschiedenen Leistungen des SGB VIII gezogen – Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG/SGB XII bei jungen Menschen gegenüber sämtlichen jugendhilferechtlichen Maßnahmen vorrangig stellen. Auch nach Sinn und Zweck kommt eine entsprechend einschränkende Anwendung nicht in Betracht; vielmehr soll § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII für den Fall von Eingliederungshilfeansprüchen junger Menschen nach BSGH/SGB XII eine in der verwaltungspraktischen Handhabung eindeutige Verpflichtungszuweisung liefern und damit Verpflichtungsstreitigkeiten in Fällen reduzieren, in denen nach dem Lebensalter der behinderten oder von Behinderung bedrohten jungen Menschen typischerweise mit Sachverhaltsgestaltungen zu rechnen ist, in denen sowohl Jugendhilfemaßnahmen als auch sozialhilferechtliche Eingliederungsmaßnahmen für ein und denselben zur Hilfebedürftigkeit führenden Lebenssachverhalt in Frage kommen. Für eine einschränkende Auslegung des § 10 Abs. 2 Satz 1 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 nF. SGB VIII streitet schließlich (entgegen Mrozynski, a.a.O. S. 460) auch nicht etwa die Entscheidung des BVerwG vom 23.09.1999 – 5 C 26/98 (a.a.O.), wenn sie die für die Anwendung des Satzes 2 der Vorschrift notwendige Kongruenz der Jugendhilfe- und Eingliederungshilfeleistungen mit "gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich" umschreibt. Denn bei einander nur "überschneidend" gegenüberstehenden Maßnahmen sind die zu vergleichenden Leistungen gerade nicht gänzlich deckungsgleich.
Angesichts der nicht notwendig völligen Deckungsgleichheit kongruenter Eingliederungsmaßnahmen nach BSHG/SGB XII und Jugendhilfemaßnahmen erscheint es auch als unzulässige Umgehung des § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII, wollte man – wie das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Urteil vom 31.08.1997 – 19 K 4705/95 = ZfSH/SGB 1999, 84 – 87) – wegen einer Einzelpersonenbezogenheit der Eingliederungshilfe nach BSHG/SGB XII und eines mit Schwangerschaft und Geburt in den Mittelpunkt rückenden Kindes – wohl im Sinne einer spezielleren Hilfeform (so VG Düsseldorf, Urteil vom 06.04.2005 – 19 K 8703/02) – § 19 SGB VIII für einzig anwendbar halten und Betreuungsleistungen an der Mutter allein als im Dienst der Pflege und Erziehung des Kindes stehend ansehen. Ähnliches gilt für die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Münster (Beschluss vom 30.11.2000 – 22 B 762/00; ihm folgend VG Hamburg, Urteil vom 26.05.2005 – 13 K 195/05; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.06.2005 – 19 K 1193/03), § 19 SGB VIII sei dem sich mit dem Ziel der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe nur teilweise überschneidenden doppelten Ziel der Unterstützung des Vaters oder der Mutter verpflichtet, die jedoch letztlich der Pflege und Erziehung des Kindes zugute komme. Dem inhaltlichen Ansatz dieser Entscheidungen ist im Übrigen schon entgegenzuhalten, dass man den Zweck und das Ziel sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfemaßnahmen in Fällen wie dem vorliegenden u.a. auch darin sehen kann, dem elterlichen Unvermögen zur angemessenen Pflege und Betreuung des Kindes als Behinderungsfolge entgegenzuwirken; es erscheint danach als beliebig, wollte man bei Vorliegen von Schwangerschaft und Geburt den Hilfefokus auf das Kind beschränken. Dass Gesichtspunkte der Hilfe bei Behinderung (auch wegen der Einschränkungen, die diese Behinderung bei der Bewältigung von Schwangerschaft und bei der Pflege und Betreuung des Kindes mit sich bringt) und der Hilfe für das Kind nebeneinandertreten, ohne dass Aspekte entweder des Kindes oder des betroffenen Elternteils gänzlich in den Hintergrund rücken, verursacht in Fällen wie dem vorliegenden gerade den in § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII geregelten normtypischen Fall des Infragekommens sozialhilferechtlicher und gleichzeitig jugendhilferechtlicher Hilfen, deren Vor- bzw. Nachrang es deshalb im Interesse einer klaren Zuweisung der Einstandspflicht zu regeln gilt.
Der Vorrang der Eingliederungshilfe für die Klägerin hätte im Falle klageweiser Inanspruchnahme des Beigeladenen durch die Klägerin im Übrigen keine Freistellung des Beigeladenen als Jugendhilfeträger wegen alleiniger Zuständigkeit des vorrangig verpflichteten Beklagten als Sozialhilfeträger bewirkt. Der (für den Fall des gleichzeitigen Bestehens eines Anspruchs nach § 19 SGB VIII bestehende) Nachrang der Jugendhilfe nach § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII hätte dann keine Auswirkung auf das Leistungsverhältnis zwischen Klägerin und Beigeladenem gehabt, sondern wäre erst für die Frage einer Kostenerstattung zwischen Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger bedeutsam geworden (BVerwG, a.a.O., S. 340). Da die Klägerin zulässigerweise mit ihrer Klage jedoch den Sozialhilfeträger auf Eingliederungshilfe in Anspruch genommen hat, wirkt sich die Vorrangregelung des § 10 Abs. 2 Satz 2 a.F. bzw. Abs. 4 Satz 2 n.F. SGB VIII unmittelbar zu Lasten des Beklagten aus.
Ist die Entscheidung des Sozialgerichts damit im Ergebnis zutreffend, kommt es auf die Frage, ob die Klägerin den Beigeladenen nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I als erstangegangenen Leistungsträger mit Erfolg auf vorläufige Leistungen hätte in Anspruch nehmen können, nicht mehr an: Es besteht keine Pflicht, allein den erstangegangenen Träger nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I klageweise in Anspruch zu nehmen. Denn es handelt sich insoweit um eine Schutzvorschrift, die der Betreffende in Anspruch nehmen kann, aber nicht muss. Erlaubt die prozessuale Situation eine endgültige Entscheidung des Gerichts, welcher Leistungsträger letztendlich zur Leistung verpflichtet ist, besteht kein Grund, diese endgültige Verpflichtung allein aufgrund einer ehedem etwa existierenden Möglichkeit einer vorläufigen Inanspruchnahme nicht auch auszusprechen. Aus gleichen Überlegungen ist es von vornherein ohne Belang, dass der Beigeladene unter dem 16.08.2004 eine vorläufige Kostenzusage nach § 4 AG-BSHG NRW gegenüber dem H-Heim erklärt, jedoch nicht vollzogen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Erstellt am: 22.11.2007
Zuletzt verändert am: 22.11.2007