Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.10.1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis und/oder eines Emphysems als Berufskrankheit (BK).
Der im Juli 1944 geborene Kläger war von Januar 1962 bis Juli 1994 – zuletzt als Hauer – im deutschen Steinkohlenbergbau beschäftigt.
Der Kläger war arbeitsunfähig krank im Februar/März 1971 und im September 1981 wegen "Bronchitis" und vom 18.3. bis 17.4.1988 wegen "chronischer Atemwegserkrankung". Im Mai 1989 gabe er bei einer Untersuchung durch den Sozialmedizinischen Dienst (SMD) der (früheren) Bundesknappschaft an, er leide "in letzter Zeit" unter Luftnot bei starker körperlicher Anstrengung und Husten mit grauem Auswurf. Internisten Dres. I und N/SMD C befürworteten eine Kurmaßnahme, bei der auch eine Lungenfunktionsprüfung durchgeführt werden sollte (Gutachten vom 12.6.1989). Bei der anschließenden Kur in Bad T (25.10. bis 21.11.1989) ergab die Spirometrie eine deutliche Obstruktion. Bis zu seiner Abkehr war der Kläger in der Folgezeit arbeitsunfähig krank vom 15.11. bis 10.12.1990 wegen "Lumboischialgie, chronische Atemwegsobstruktion", vom 8. bis 19.4.1991 wegen "chronischer Atemwegsobstruktion", vom 4.11. bis 6.12.1991 wegen "Lumboischialgie, chronische Atemwegsobstruktion", vom 24.9. bis 8.10.1993 wegen "chronischer Atemwegsobstruktion".
Am 9.9.1997 erstattete Arzt für Lungenheilkunde Dr. L aus B "ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit"; beim Kläger liege eine BK Nr 4111 vor. Bei der (Erst-)Untersuchung am 29.8.1997 seien eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit Emphysem und eine leichte Mischstaubsilikose festgestellt worden. Anamnestisch habe der Kläger angegeben, er leide seit einem Jahr unter Husten und Auswurf. Therapeutisch sei eine kurzfristige Cortokoid-Therapie eingeleitet worden (beigefügter Bericht an die behandelnde Ärztin Dr. M vom 2.9.1997). Der Kläger ergänzte am 24.10.1997, er habe erstmals vor 7 bis 8 Jahren unter Atembeschwerden in Form von Husten, Auswurf und Luftnot gelitten. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten ermittelte eine berufliche Feinstaubbelastung von 105 Feinstaubjahren (Stellungnahme vom 29.10.1997).
Am 3.11.1997 richtete die Beklagte schriftliche Anfragen an die behandelnden Ärzte und die (damalige) Bundesknappschaft. Behandelnde Ärztin Dr. M berichtete am 14.11.1997 von einer Behandlung von April 1995 bis Oktober 1997. Diagnosen: Chronisch obstruktiver Atemwegsinfekt mit Emphysem, Silikose. Die Bundesknappschaft übermittelte am 17.11.1997 Unterlagen zu Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, Dr. L übersandte einen weiteren Bericht an Dr. M vom 17.11.1997: Chronische Atemwegserkrankung mit Lungenemphysem, leichte Mischstaubsilikose. Anfragen an den Arzt Dr. F aus B1 (vom 21.11.1997 bzw. 22.12.1997) blieben erfolglos, ebenso eine Anfrage an Dr. N1 (Vorgänger von Frau Dr. M), dessen Praxis nicht mehr existierte. Am 9.2.1998 legte die Beklagte den Vorgang ihrem beratenden Arzt Dr. T aus B "mit der Bitte um eine Stellungnahme zu § 6 Abs. 1 BKV" vor. Dr. T befand, dass aufgrund der mitgeteilten Arbeitsunfähigkeitszeiten der Versicherungsfall sicher schon am 15.11.1990 eingetreten sei, dies ergebe sich aus der von Dr. N1 für diesen Zeitraum bescheinigten Arbeitsunfähigkeit und werde durch die Angaben des Klägers bestätigt (Stellungnahme vom 16.2.1998). Daraufhin lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung einer BK 4111 ab, weil der Versicherungsfall schon am 15.11.1990 eingetreten sei (Bescheid vom 20.3.1998; Widerspruchsbescheid vom 26.8.1998).
Dagegen hat der Kläger am 2.9.1998 Klage erhoben und die Anerkennung und Entschädi-gung einer BK 4111 begehrt. Die von Dr. N1 bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vom 15.11.1990 bis 10.2.1991 genüge nicht zum Nachweis des Versicherungsfalls. Deshalb sei ein Versicherungsfall vor dem 1.1.1993 nicht bewiesen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung es Bescheides vom 20.03.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.08.1998 zu verurteilen, bei dem Kläger ab 02.09.1997 die Berufskrankheit Nr. 4111 anzuerkennen und dem Kläger Rente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung auch nach Beweisaufnahme für zutreffend gehalten und sich auf mehrere Stellungnahmen ihres beratenden Arztes Prof. Dr. T1 gestützt: Die im September 1997 festgestellte Schwere der Erkrankung beweise, dass der Versicherungsfall vor dem 1.1.1993 eingetreten sei (Stellungnahme vom 22.2.1999). Weitere Ermittlungen des TAD hätten ergeben, dass bereits im Jahre 1990 eine Feinstaubbelastung von 111,44 Feinstaubjahren bestanden habe (Stellungnahme vom 15.4.1999). Es bestehe insgesamt kein Zweifel an einem Erkrankungsbeginn vor dem 1.1.1993 (Stellungnahme vom 1.10.1999).
Gerichtlicher Sachverständiger Pneumologe und Arbeitsmediziner Prof. Dr. T2 aus N (gerichtsbekannt verstorben im Jahre 2002) hat den Eintritt des Versicherungsfalls einer chronischen obstruktiven Bronchitis erst ab dem 2.9.1997 (gemeint wohl: 29.8.1997) als erwiesen angesehen. Die von der Beklagten in den Vordergrund gestellten früheren Arbeitsunfähigkeitszeiten belegten nicht den früheren Eintritt des Versicherungsfalls, da die gewählten Krankheitsbezeichnungen nicht von Fachleuten stammten und ihnen deshalb keine entsprechende Beweiskraft zukomme (schriftliches Gutachten vom 15.12.1998, ergänzende Stellungnahmen vom 24.3. und 30.7.1999).
Das SG hat die Beklagte verurteilt, "eine BK Nr. 4111 anzunehmen" und Rente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren (Urteil vom 28.10.1999, zugestellt am 22.11.1999).
Dagegen hat die Beklagte am 17.12.1999 Berufung eingelegt, darauf hingewiesen, dass bereits anlässlich der Kur im Jahre 1989 eine deutliche Obstruktion vorgelegen habe, und sich durch die weitere Beweisaufnahme bestätigt gesehen. Die sog. Stichtagsregelung sei verfassungsgemäß. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23.6.2005 verhalte sich nicht dazu. Die vom BVerfG zur sog. Quasi-BK aufgestellten Grundsätze seien auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da Entscheidungsreife vor dem Stichtag nicht vorgelegen habe. Der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27.6.2006, wonach eine Entschädigung als Quasi-BK immer dann in Betracht komme, wenn das Verfahren vor dem 1.12.1997 eingeleitet worden sei und sich rückbetrachtend ergebe, dass der Anspruch bestanden habe, sei nicht zu folgen, weil diese Auffassung der Rechtsprechung des BVerfG und der früheren Rechtsprechung des BSG widerspreche.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.10.1999 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurück zu weisen.
Er hat die Beurteilung des Prof. Dr. T2 für zutreffend gehalten. Die Angelegenheit sei überdies bereits vor dem 1.12.1997 entscheidungsreif gewesen. Unabhängig davon sei eine chronische obstruktive Bronchitis jedenfalls deshalb als Quasi-Berufskrankheit anzuerkennen, weil dass Verfahren schon im September 1997 eingeleitet worden ist.
Dr. L hat mitgeteilt, bei der Erstbehandlung am 29.8.1997 sei lungenfunktionsanalytisch ein obstruktives Lungenemphysem nachgewiesen worden (Bericht vom 14.2.2000). Ärztin Dr. M hat von einer Behandlung von 1994 bis September 2000 wegen (ua) "chronisch obstruktiver Atemwegsinfekt mit Emphysem" berichtet. Nachdem Dr. T für die Beklagte ausgeführt hatte, die Spirometrie vom 31.10.1989 (Bad T) belege eine deutliche Obstruktion (Stellungnahme vom 5.10.2001), hat das Verfahren zunächst geruht (Beschluss vom 22.10.2001).
Nach Aufnahme des Verfahren von Amts wegen im August 2005 hat gerichtlicher Sachverständiger Pulmologe Dr. A aus J in Auswertung aller aktenkundigen Befunde gemeint, der Versicherungsfall einer chronischen obstruktiven Bronchitis (und auch eines Emphysems) sei ab dem 31.10.1989 mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen. Der Spirometriebefund vom 31.10.1989 habe Prof. Dr. T2 noch nicht vorgelegen. Hätte er ihn gekannt, hätte er seine frühere Auffassung sicher revidiert (schriftliches Gutachten vom 3.4.2006).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die ebenfalls beigezogenen Reha-Akten der (früheren) Bundesknappschaft Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das SG die Beklagte verurteilt, "die Berufungskrankheit Nr. 4111 anzunehmen" und zu entschädigen. Der Kläger ist durch den Bescheid vom 20.3.1998 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.1998, § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) beschwert, weil die Versagung der Entschädigung rechtswidrig ist. Der Kläger hat jedenfalls ab dem vom SG angenommenen Zeitpunkt (2.9.1997) Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als sog. Quasi-BK, § 9 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Der Anspruch richtet sich nach dem neuen Recht des SGB VII, da der Kläger nach seinem Sachantrag vor dem SG (nur) Leistungen ab dem 2.9.1997 begehrt, § 212 SGB VII, Art 36 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz – UEVG).
Gegenstand des Verfahrens ist die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis und/oder eines Emphysems als Berufskrankheit, sei es als Quasi-BK, sei es als BK Nr 4111 der Anlage zur BKV vom 31.10.1997. Einen solchen Anspruch hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich oder implizit abgelehnt. Durch die Einleitung des Verfahrens am 9.9.1997 (und damit vor Inkrafttreten der neuen BKV am 1.12.1997) ist Gegenstand des Verfahrens auch ein zu diesem Zeitpunkt ausschließlich realisierbarer Anspruch auf Entschädigung der BK als Quasi-BK. Unerheblich ist, dass die Beklagte diesen Anspruch im angefochtenen abgelehnenden Bescheid nicht ausdrücklich bezeichnet hat, etwa weil sie dies nach Inkrafttreten der BKV (der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend, zB BSGE 79, 250ff = BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 9; BSG SozR3-2200 § 551 Nr 14 mwN) nicht mehr für erforderlich hielt. Eine Auslegung der getroffenen Entscheidung aus Sicht eines verständigen Erklärungsempfängers ergibt, dass die Beklagte im Kern abgelehnt hat, eine chronische obstruktive Bronchitis als BK anzuerkennen und zu entschädigen. Damit hat sie jedenfalls konkludent auch die Anerkennung und Entschädigung als Quasi-BK abgelehnt.
Nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass beim Kläger eine chronische obstruktive Bronchitis vorliegt, deren Anerkennung als Berufskrankheit Nr 4111 die Beklagte allerdings die rechtshindernde Einwendung des "Versicherungsfalls vor dem Stichtag" aus § 6 Abs 2 BKV (bis zum 30.9.2002: Abs 1) entgegen halten kann, weil der Versicherungsfall nachweislich vor dem 1.1.1993 (und damit nicht "nach dem 31.Dezember 1992") eingetreten ist (vgl zur Systematik im Einzelnen: Urteile des Senats vom 12.10.2000, Aktenzeichen (Az) L 2 KN 204/99 U und L 2 KN 1/00 U mwN).
Im Einklang mit dem Beweisergebnis (Sachverständige Prof. Dr. T2 und Dr A; urkundsbeweislich verwertbare gutachterliche Stellungnahmen Dr. T und Prof. Dr. T1) und der Aktenlage gehen die Beteiligten zu Recht übereinstimmend davon aus, dass beim Kläger jedenfalls eine chronische obstruktive Bronchitis vorliegt, die durch beruflich veranlasste Feinstaubeinwirkung in einer Gesamtdosis von mehr als 100 Feinstaubjahren wesentlich mitverursacht worden ist.
Diese Krankheit kann jedoch nicht als BK Nr 4111 anerkannt werden, da der Versicherungsfall nachweislich nicht (erst) nach dem 31.12.1993, sondern bereits spätestens im Jahre 1989 eingetreten ist, § 6 Abs 2 BKV. Diese Vorschrift ist verfassungsgemäß (so schon der Senat aaO mwN; zuletzt: BVerfG Beschluss vom 30.3.2007, Az 1 BvR 3144/06). Sie setzt voraus, dass der Versicherungsfall iS des Anspruchs des Versicherten auf Anerkennung einer BK – unabhängig von sich daraus etwaig ergebenden Leistungsansprüchen – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor dem 1.1.1993 eingetreten ist (so schon der Senat aaO mwN). Der Sachverständige Dr. A hat unter Berücksichtigung aller bewiesenen Tatsachen nachvollziehbar dargelegt, dass in Anwendung dieser Kriterien spätestens seit 1989 (jedenfalls) eine chronische obstruktive Bronchitis nachgewiesen ist. Zur Überzeugung des Senats genügen die erwiesenen Hilfstatsachen auch, um mit einer an Sicherheit grenzenden, vernünftige Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit von der Chronizität der Obstruktion und damit einem Versicherungsfall (spätestens) am 31.10.1989 auszugehen.
Die 1989 (in C und in Bad T) erhobenen Befunde beweisen neben einer chronischen Bronchitis auch das (gleichzeitige) Vorliegen obstruktiver Verteilungsstörungen, wie der Sachverständige Dr. A , aber auch der von der Beklagten eingeschaltete Dr. T eingehend und unwidersprochen bestätigen. Die zur Einordnung und Bewertung der Obstruktion zur Verfügung stehenden Hilfstatsachen belegen (wenn auch nicht einzeln, so doch) in der Zusammenschau auch mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden, vernünftige Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit (Beweismaßstab) die schon nach dem eindeutigen Wortsinn erforderliche Chronizität der Obstruktion. Dies beruht darauf, dass die für die Folgezeit bescheinigten Zeiten der Arbeitsunfähigkeit (anders als die vorangehenden) immer auch wegen einer obstruktiven Atemwegserkrankung bescheinigt wurden, die eigenen Angaben des Klägers (1989 und 1997) mit dieser Bewertung in Einklang stehen, die Schwere der Erkrankung im Jahre 1997 ihr (bereits) langjähriges Bestehen nahe legt und auch Dr. M bestätigt hat, bereits seit dem ersten Kontakt 1994/5 wegen obstruktiver Atemwegserkrankung zu behandeln. Ob auch ein Emphysem bereits vor dem Stichtag nachgewiesen ist, kann danach offen bleiben.
Der streitige Anspruch folgt indes aus § 9 Abs 2 SGB VII. Danach ist grundsätzlich auch vor einen Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme einer Krankheit in die BK-Liste nach § 9 Abs 1 SGB VII eine solche Krankheit wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der (Einzelfall-)Entscheidung (durch den zuständigen Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung) nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für die Aufnahme in die BK-Liste erfüllt sind. Diese Vorschrift stellt sicher, dass die betroffenen Versicherten in der Zeit zwischen der Verfestigung der neuen Erkenntnisse und dem Tätigwerden des Verordnungsgebers nicht ohne Entschädigung bleiben (BVerfG SozR 2200 § 551 Nr 19; BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 14 mwN). Sie gewährt dem einzelnen Versicherten einen Anspruch gegen den Träger der Unfallversicherung auf konstitutive Anerkennung einer Krankheit wie eine BK im Einzelfall, der durch die spätere Aufnahme der Krankheit in die BK-Liste nicht mehr berührt wird (BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BSGE 88, 226ff = SozR 3-2700 § 63 Nr 1 mwN; BSGE 79, 250ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Vorliegend ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten, dass – wie die Beweisaufnahme ganz eindeutig von Anfang an dokumentiert hat – jedenfalls seit dem 29.8.1997 (und damit vor dem 1.12.1997) ein solcher Anspruch gegeben war. Die Beklagte ist indes unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung des BSG davon ausgegangen, dass jedenfalls mit Inkrafttreten der BKV zum 1.12.1997 dieser Anspruch – da noch nicht durch Bescheid konstitutiv festgestellt – untergegangen ist, weil nunmehr der Vorrang des Verordnungsgebers gelte und die Regelung des § 9 Abs 2 SGB VII wegen ihrer Subsidiartät nicht mehr anwendbar sei (so: BSGE 91, 269ff = SozR 4-2400 § 89 Nr 1; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 14; BSGE 85, 24ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 13; BSGE 75, 51ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 6; BSGE 72, 303ff; BSG Urteil vom 19.1.1995, Az 2 RU 14/94). Diese rechtliche Bewertung hat das Bundesverfassungsgericht in Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bzw. des Verbots der willkürlichen Ungleichbehandlung aus Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes relativiert: Danach habe der Versicherte im Verwaltungsverfahren zu § 9 Abs 2 einen Anspruch auf zügige Durchführung des Verfahrens ohne sachfremde, willkürliche Verzögerung (BVerfGK 5, 340ff = SozR 4-1100 Art 3 Nr 32; BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BVerfG Beschluss vom 24.10.2000, Az 1 BvR 1319/95). Dies gelte auch, wenn die Entscheidung des Verordnungsgebers (bzw ihr Inkrafttreten) unmittelbar bevorstehe ("in Sicht sei", vgl BVerfGK 5, 340ff = SozR 4-1100 Art 3 Nr 32). Keinesfalls sei es gerechtfertigt, die Entscheidung bis zum Inkrafttreten der Verordnung hinauszuzögern oder etwa einen Anspruch unter Berufung auf eine künftig erst in Kraft tretenden Regelung abzulehnen (BVerfVG aaO; so schon BSGE 79, 250ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Daraus ist zu entnehmen, dass entgegen der früheren Rechtsprechung des BSG ein Anspruch auf Anerkennung wie eine BK auch nach Aufnahme der Krankheit in die BK-Liste aus verfassungsrechtlichen Gründen dann bestehen bleibt (und nicht untergeht), wenn zuvor bereits Entscheidungsreife (nach dem Wortlaut des § 9 Abs 2 SGB VII iS einer Anerkennungsentscheidung dem Grunde nach = Eintritt des Versicherungsfalls, vgl Senat, Urteile vom 12.10.2000, Az L 2 KN 204/99 U und L 2 KN 1/00 U mwN) bestand. Das bedeutet, dass in solchen Fällen (auch im späteren Klageverfahren) nach dem im Zeitpunkt der Entscheidungsreife geltenden Recht über den Anspruch zu entscheiden ist (anders noch BSG Urteil vom 19.1.1995, Aktenzeichen (Az) 2 RU 14/94 mwN). Dies ist – soweit ersichtlich – jedenfalls im Ergebnis auch die Auffassung der Beklagten. Sie wendet indes ein, hier habe vor dem 1.12.1997 Entscheidungsreife noch nicht vorgelegen. Dies trifft nicht zu. Tatsächlich hätte die Beklagte nach den konkreten Umständen des Falls hier bereits vor dem 1.12.1997 die chronische obstruktive Bronchitis des Klägers dem Grunde nach wie eine Berufskrankheit anerkennen können, weil die Voraussetzungen erkennbar vorlagen, und sie dies bei zügiger Behandlung auch erkannt hätte. Ob sich die gleiche Rechtsfolge auch aus dem allgemeinen Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellunganspruchs herleiten lässt, kann vor diesem Hintergrund offen bleiben.
Der Senat orientiert sich bei der Verpflichtung eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung, ein Verwaltungsverfahren zügig zum Abschluss zu bringen, grundsätzlich an der in §§ 103 Abs 1 SGB VII, 88 Abs 1 Satz 1 SGG zum Ausdruck kommenden Entscheidung des Gesetzgebers und geht davon aus, dass ein Verwaltungsverfahren im Regelfall binnen 6 Monaten abgeschlossen sein sollte. Dies schließt weder aus, dass im Einzelfall mehr Zeit benötigt wird (vgl § 103 Abs 1 SGB VII, § 88 Abs 1 Satz 2 SGG), noch, dass gelegentlich bei zügigem Vorgehen auch eine schnellere Entscheidung möglich ist. So liegt der Fall hier. Der Beklagten ist zuzugestehen, dass ein Zeitraum von weniger als 3 Monaten in der Regel nicht genügen wird, um Entscheidungsreife herbeizuführen. Dies gilt jedenfalls bei Fallkonstellationen, die objektiv die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens erfordern. Hier liegt es jedoch erkennbar anders. Der Beklagten waren bereits am 3.11.1997 (nach Vorliegen der Stellungnahme des TAD) alle Tatsachen bekannt, die sie für eine Anerkennungsentscheidung benötigte. Alle nach dem 3.11.1997 durchgeführten Ermittlungen stellten eine – unzulässige – Verzögerung des Verfahrens allein unter dem Gesichtspunkt der künftigen, wie bereits bekannt war zum 1.12.1997 in Kraft tretenden Regelung des (damaligen) § 6 Abs 1 BKV dar. Sie dienten der Aufklärung des Krankheitsverlaufs, um feststellen zu können, ob der Versicherungsfall vor dem 1.1.1993 eingetreten ist, wie die Formulierung in der späteren Vorlage an Dr. T bestätigt. Dr. T hat (zutreffend) nach Aktenlage zu folgern vermocht, dass beim Kläger aufgrund des Befundberichts des Dr. L vom 2.9.1997 "eine obstruktive Atemwegserkrankung [ …] gesichert" sei. Die spätere Beweisaufnahme hat keinen Zweifel an der Richtigkeit dieser Beurteilung gelassen. Für die Bearbeitung hat Dr. T – lediglich – eine Woche benötigt. Eine retrospektive Beurteilung der Entscheidungsreife ergibt damit mit der erforderlichen Sicherheit, dass die Beklagte aufgrund der besonderen Konstellation in diesem konkreten Einzelfall bereits Mitte November 1997 eine dem Kläger günstige konstitutive Anerkennungsentscheidung hätte treffen und ihm damit eine rechtliche Postion verschaffen können, die ihm auch nach Inkrafttreten der BKV zum 1.12.1997 nicht mehr zu nehmen war (BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BSGE 88, 226ff = SozR 3-2700 § 63 Nr 1 mwN; BSGE 79, 250ff = SozR 3-2200 § 551 Nr 9).
Der Anspruch auf Anerkennung der chronischen obstruktiven Bronchitis als Quasi-BK ist nicht nach § 6 Abs 2 BKV ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist – einschränkend – dahin gehend auszulegen, dass sie für die Entschädigung einer Quasi-BK nicht gilt (BVerfGK 5, 340ff = SozR 4-1100 Art 3 Nr 32).
Auch wenn man der Auffassung, vorliegend sei Entscheidungsreife vor dem 1.12.1997 erwiesen, nicht folgte, wäre der Entschädigungsanspruch begründet. Zu Recht hat das BSG nämlich aus dem Beschluss des BVerfG vom 23.6.2005 (BVerfG aaO) gefolgert, dass für die Anerkennung einer Quasi-BK nicht einmal Entscheidungsreife vor der Aufnahme in die BK-Liste nicht erforderlich sei, sondern genügen müsse, dass bereits ein Verwaltungsverfahren eingeleitet ist und sich – jedenfalls im Nachhinein – ergibt, dass der Anspruch bereits vor Aufnahme der Berufskrankheit in die BK-Liste bestanden hat. In einem solchen Fall habe der Versicherte bereits eine Anwartschaft inne, die ihm durch die spätere Aufnahme der Berufskrankheit in die BK-Liste nicht mehr genommen werden könne (BSG SozR 4-5671 § 6 Nr 2; Becker, Die Sozialgerichtsbarkeit [Zeitschrift] 2006, 97,99). Dieser Auffassung hat sich der Senat angeschlossen (vgl dazu das Urteil des Senats vom gleichen Tage, Az L 2 KN 52/06 U mit eingehender Begründung).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs 1 Satz 1 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.
Erstellt am: 22.11.2007
Zuletzt verändert am: 22.11.2007