Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12.07.2006 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Duisburg zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1963 geborene Klägerin erstattete im März 2003 Strafanzeige gegen ihren Bruder, den 1957 geborenen und zwischenzeitlich verstorbenen C N, weil dieser sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht habe. Hierzu schilderte sie gegenüber der Polizei insbesondere einen mehrfachen sexuellen Missbrauch dadurch, dass ihr Bruder ihre Schamlippen und ihre Scheide mit den Fingern manipuliert habe sowie – wobei ihre Erinnerung hierzu ungenau ist – weiteren sexuellen Missbrauch durch Oralverkehr. Zugleich schilderte sie körperliche Misshandlungen im Rahmen von Züchtigungen durch ihren Vater sowie von ihr ebenfalls als sexuellen Missbrauch eingeordnete Handlungen ihres bereits verstorbenen Großvaters. Die Klägerin benannte hierzu als mögliche Zeugen:
den Beschuldigten C N – Bruder der Klägerin (zwischenzeitlich verstorben) -,
den Beschuldigten L N – Vater der Klägerin -,
F N – Mutter der Klägerin -,
K N – Bruder der Klägerin -,
G N – Bruder der Klägerin -,
N N1 – ehemalige Schwägerin der Klägerin und ehemalige Ehefrau des G N -.
Mit Verfügung vom 24.04.2003 stellte die Staatsanwaltschaft E das Verfahren wegen Eintritts der Verjährung und bzgl. des Großvaters, wegen dessen Todes sowie bzgl. des Bruders teilweise wegen Strafunmündigkeit zum Tatzeitpunkt ein.
Wegen des durch ihren Bruder begangenen sexuellen Missbrauchs beantragte die Klägerin im März 2003 Versorgungsleistungen nach dem OEG. Sie machte geltend, bei ihr liege eine aus dem Missbrauch herrührende posttraumatische Belastungsstörung mit Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, schneller Erschöpfbarkeit, Antriebsschwäche und Stimmungsschwankungen vor.
Das beklagte Land lehnte nach Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten sowie zweier Arztberichte der Paracelsus X-klinik in Bad F und der Klinik X den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 25.11.2003 ab: Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des hier einschlägigen § 10 a OEG bereits deshalb nicht, weil die Schädigungsfolgen keine MdE um mindestens 50 v.H. bedingten; eine Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 1 OEG erübrige sich damit.
Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch bezüglich die Klägerin insbesondere auf ein laufendes Rentenverfahren, in welchem ein Gutachten eingeholt werde. Der Beklagte wies nach Beiziehung eines unter dem 06.08.2003 von dem Neurologen und Psychiater Dr. E erstellten Sachverständigengutachtens den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 19.03.2004 zurück: Die versorgungsärztliche Auswertung des Gutachtens habe erheben, dass bei der Klägerin eine schwere depressive Störung, der Verdacht auf eine frühe Störung und eine posttraumatische Belastungsstörung vorlägen; die depressive Störung stehe dabei im Vordergrund, diese resultiere aber aus der familiären Belastung der Klägerin als alleinerziehende Mutter. Die posttraumatische Belastungsstörung rechtfertige demgegenüber für sich alleine keine MdE um wenigstens 50 v.H …
Hiergegen richtete sich die am 19.04.2004 zum Sozialgericht (SG) Duisburg erhobene Klage, zu deren Begründung insbesondere vorgebracht wurde, bei ihr, der Klägerin, liege sehr wohl eine MdE von mindestens 50 v. H. vor. Ihre Krankheitsgeschichte sei in den medizinischen Gutachten nur unvollständig wiedergegeben. So leide sie etwa an sogenannten "Flashbacks", welche bei ihr eine Art Körperstarre bewirkten, verbunden mit Atemproblemen, Zittern und Schweißausbrüchen, die bis zum Zusammenbruch führten. Des Weiteren leide sie an Alpträumen, die ebenfalls mit Schweißausbrüchen einhergingen. Sie neige auch zu Selbstverletzungen, insbesondere da bei ihr das Schmerzempfinden gestört sei. Es bestünden auch zahlreiche zwanghafte Handlungen. Die Klägerin hat einen Bericht über eine in der Zeit vom 20.01. bis zum 02.03.2004 durchgeführte Rehabilitationsmaßnahme in der F-Klinik für psychosoziale- und Verhaltens-Medizin in Bad X vorgelegt, wo insbesondere eine schwere posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde. Zwischenzeitlich wurde ihr vom Rentenversicherungsträger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 01.05.2003 bewilligt.
Das SG hat ein Gutachten der Dipl.-Psychologin D X, erstellt in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. G, Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotraumatologie, vom 27.06.2005 eingeholt. Hierbei hat es insbesondere an die Sachverständigen die Frage gestellt: "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (d.h. es darf kein begründbarer Zweifel bestehen) fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs (in welchem Zeitraum, in welcher Weise) geworden ist? Welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?" Die Sachverständigen sind aufgrund einer nicht vollständig durchgeführten, sondern vorzeitig abgebrochenen Untersuchung der Klägerin sowie aufgrund der Aktenlage zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege eine hysterieforme Borderline-Persönlichkeitsstörung im Sinne der ICD-10, hingegen keine posttraumatische Belastungsstörung bzw. posttraumatische Symptomatik vor. Im Hinblick auf die Frage, ob die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist, haben die Sachverständigen u.a. ausgeführt, eine Analyse der Aussagen der Klägerin zur Sache anhand der Realkriterien (Aussagequalität) habe aufgrund des Fehlens diesbezüglicher etwaiger Aussagen nicht vorgenommen werden können.
Mit Urteil vom 12.07.2006 hat das SG sodann die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach den §§ 10 a OEG, 31 Abs. 3 BVG erhielten Personen, die vor dem 16.05.1976 im Sinne des OEG geschädigt worden seien, auf Antrag Versorgung, solange sie u.a. allein in Folge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Es sei bereits nicht nachgewiesen, dass bei der Klägerin eine gesundheitliche Schädigung in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG vorliege. Die Angaben der Klägerin zu den sexuellen Übergriffen durch ihren Bruder sowie ihren Großvater seien nicht bewiesen. Dem Gericht seien keine Beweismittel ersichtlich, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten. Auch das Sachverständigengutachten habe keinen Anhalt dafür ergeben, dass die Angaben der Klägerin ohne begründbaren Zweifel als richtig angesehen werden könnten.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 01.09.2006 zugestellte Urteil am 29.09.2006 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie ausführt, es sei falsch, dass sie, die Klägerin, das Untersuchungsverfahren beim Sachverständigen abgebrochen habe. Vielmehr habe dieses mehrfach unterbrochen werden müsse, weil sie unter starken emotionalen Reaktionen gelitten habe. Eine Beendigung sei schließlich erfolgt, weil ihre Belastungsgrenze überschritten gewesen sei, so dass der Gutachter und die Therapeutin ihr geraten hätten, die Untersuchung abzubrechen. Das erstinstanzliche Gericht habe zutreffend ausgeführt, dass keine ausführliche Exploration zur Frage des sexuellen Missbrauchs stattgefunden habe. Völlig unberücksichtigt seien aber ihre, der Klägerin, Schilderungen im Rahmen der Strafanzeige gegenüber der Polizei geblieben.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12. Juli 2006 aufzuheben und das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 25.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.03.2004 zu verurteilen, bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des OEG festzustellen und ihr Versorgung nach einer MdE um mindestens 50 v. H. zu gewähren,
hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12.07.2006 aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses zurückzuverweisen.
Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Es hat das angefochtene Urteil zunächst für zutreffend gehalten, nach richterlichem Hinweis jedoch eine Vernehmung der von der Klägerin in der Strafanzeige gegenüber der Polizei benannten Personen als Zeugen für angebracht gehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Frehse in: Jansen, SGG, 2. Auflage 2005, § 159 Rdn. 6 m.w.N.). Gleichermaßen kommt eine Zurückverweisung bei Verstößen gegen die Grundsätze der Beweiswürdigung (Zeihe, SGG, § 159 Rdn. 2a, 8a) in Betracht. Solche Mängel liegen hier vor.
Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil das SG sich zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Hiernach hat das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren die Amtsermittlung in eigener Verantwortung durchzuführen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei hat es von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen (vgl. Kolmetz in: Jansen, SGG, § 103 Rdn. 3 ff. m.w.N.).
Ausgehend von der zutreffenden Rechtsauffassung des SG, anspruchsbegründend sei zunächst der Nachweis, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen die Person der Klägerin im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG vorliege, hätte es sich zu weiterer Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen. Es ist nicht nachvollziehbar, wie das SG zu der Wertung gelangt ist, es seien keine Beweismittel ersichtlich, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, nachdem von dieser im Rahmen der zeitgleich mit dem OEG-Antrag erstatteten Strafanzeige mehrere Zeugen benannt wurden. Insbesondere unter Berücksichtigung der Vorgabe des § 103 SGG, dass das Gericht unabhängig von der Vorstellung und den konkreten Einlassungen der Beteiligten entscheidet, welche Ermittlungen durchzuführen sind, kann jedenfalls nicht auf den formalen Gesichtspunkt abgestellt werden, dass die Zeugen im OEG-Vefahren durch die Klägerin nicht ausdrücklich nochmals benannt wurden. Deren Vernehmung ist jedenfalls zur weiteren Aufklärung des Tathergangs erforderlich. Dies gilt namentlich hinsichtlich der Frage, ob ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen die Klägerin vorlag. Die Zeugenvernehmung drängt sich unter Berücksichtigung des Akteninhalts auf.
Zudem durfte das SG sich zur Entscheidung der Frage, ob die Anspruchsvoraussetzung des vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs vorliegt, nicht allein auf das von ihm eingeholte Sachverständigengutachten beziehen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil das SG in unzulässiger Weise die Aufklärung der für den Sachverhalt entscheidenden Tatsachengrundlagen den Sachverständigen überantwortet hat. Die an die Sachverständigen gestellte Frage, ob mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist, ist keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich. Ihre Beantwortung ist vielmehr die Aufgabe des Gerichts. Die Einholung eines medzinischen oder aussagepsychologischen Gutachtens kann alleine der Feststellung medizinischer bzw. psychologischer Tatsachen dienen, welche das Gericht mangels eigener entsprechender Sachkunde nicht eruieren kann. Keinesfalls darf das Gericht die ihm obliegende Sachverhaltsaufklärungspflicht auf die Sachverständigen abwälzen, denn es muss grundsätzlich die Tatsachen, von denen die Sachverständigen bei der medizinischen bzw. psychologischen Beurteilung auszugehen haben, aufklären und den Sachverständigen mit der Beweisanordnung vorgeben (vgl. hierzu: Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 103 Rdn. 11 a). So liegt die Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen darin, den Gesundheitszustand und ggf. daraus folgende Leistungseinschränkungen oder Behinderungen eines Klägers/einer Klägerin zu beurteilen. Entsprechendes gilt aber auch für ein aussagepsychologisches Gutachten. Auch hier darf dem Sachverständigen nicht die Entscheidung dazu überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden hat oder nicht. Dieser darf vielmehr nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprechen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhen.
Der aufgezeigte Verfahrensmangel ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das SG bei ordnungsgemäßer Beweisaufnahme und -würdigung eine andere Entscheidung getroffen hätte. Der Senat macht von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch. Es überwiegen vorliegend die Schutzinteressen der Beteiligten an einem ordnungsgemäßen Verfahren. Davon gehen diese auch aus, wie der Hilfsantrag der Klägerin sowie die Äußerung des Beklagten, die Vernehmung des benannten Zeugen sei angebracht, hinlänglich dokumentieren.
Auch sind weitere Ermittlungen, insbesondere durch Vernehmung der von der Klägerin der Polizei im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens benannten Zeugen sowie ggf. durch persönliche Anhörung der Klägerin geboten.
Ob darüber hinaus weitere Ermittlungen auf medizinischem und/oder aussagepsychologischem Gebiet erforderlich sind, hat das SG in eigener Verantwortung zu entscheiden. Hierbei wird es zu beachten haben, dass es die Aufklärung der zu Grunde liegenden Tat sachen nicht den Sachverständigen überantworten, mithin die von ihm bislang gestellte Beweisfrage, wie sie im Sachverhalt wiedergegeben wurde, nicht stellen darf.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 10.03.2008
Zuletzt verändert am: 10.03.2008