Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 24. August 2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger beansprucht die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs wegen außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen "aG").
Bei dem 1937 geborenen Kläger stellte der frühere Beklagte durch das Versorgungsamt N, zuletzt mit Bescheid vom 23.02.2005, den Grad der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) mit 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "RF" und "B" fest. Im Einzelnen ging der Beklagte von folgenden Behinderungen aus:
Coronare Herzkrankheit, Bypass-OP, Herzklappenverengung, Herzrythmusstörungen, Herzleistungsminderung (Einzel-GdB 60);
Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Sprunggelenksarthrose rechts, wiederkehrende Gichtbeschwerden der Vorfüße (Einzel-GdB 30);
Wirbelsäulensyndrom, Schulter-Arm-Syndrom (Einzel-GdB 30);
Hörbehinderung (Einzel-GdB 50);
Chronische Bronchitis ( Einzel-GdB 10);
Harninkontinenz (Einzel-GdB 20),
reaktive Depressionen (Einzel-GdB 20) sowie
Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10).
Der Kläger bezieht von der Allgemeinen Ortskrankenkasse/Pflegekasse C Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe I.
Der Beklagte, der zuletzt mit bestandskräftig gewordenen Bescheiden vom 23.02.2005 und 11.05.2005 die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" abgelehnt hatte, wertete eine Eingabe des Klägers vom 29.12.2005 als erneuten Antrag. Der Kläger fügte dem Antrag eine Bescheinigung des Dr. M bei, wonach er wegen multipler Erkrankungen für die Fahrt zur Praxis und zurück auf ein Taxi angewiesen sei.
Diesen Antrag lehnte der Beklagte nach Auswertung eines kurzen Befundberichtes des Dr. M vom 09.01.2006 mit Bescheid vom 26.01.2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 08.08.2006, ab.
Der Kläger hat am 23.08.2006 bei dem Sozialgericht (SG) Münster Klage erhoben und auf die bestehende Pflegebedürftigkeit hingewiesen. Sein Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlechtert. Er könne selbst mit Hilfe eines Rollators keine 50 Meter mehr laufen. Dies ergebe sich auch aus dem in einem Strafverfahren beim Amtsgericht Rheine, 6 Cs 72 Js 1776/05 – 267/05, bzgl. seiner Verhandlungsfähigkeit eingeholten Gutachten der Kreiskommunalärztin Dr. D vom 09.01.2006.
Das SG hat einen Befund- und Behandlungsbericht von Dr. M (08.12.2006) eingeholt, in dem dieser die Coxarthrose links, eine gut eingestellte arterielle Hypertonie, Arithmie und den Zustand der Herzinsuffizienz im Stadium NYHA II bestätigte. Die Herzinsuffizienz sowie die Coxarthrose links hätten sich im Laufe der Jahre verschlechtert. Neu hinzugekommen seien Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei massiver Adipositas sowie das rezidivierende Vorhofflimmern. Befragt zur Mobilität des Klägers außerhalb eines Kfz, teilte der Hausarzt mit, der Kläger könne sich ohne fremde Hilfe sicherlich nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kfz bewegen. Weitere Gehstrecken könne er nicht bewältigen ( Bescheinigung vom 31.07.2007).
Zudem hat das SG den Chirurgen Dr. C in N beauftragt, den Kläger zu begutachten. Hierzu ist es nicht gekommen, weil der Kläger sich geweigert hat, der ambulanten Untersuchung in N nachzukommen. Das gegen den Arzt gerichtete Ablehnungsgesuch hat das SG mit Beschluss vom 25.04.2007, bestätigt durch Beschluss des erkennenden Senates vom 25.06.2007 – L 6 B 7/07 SB – zurückgewiesen.
Das SG hat den Kläger auf seine Mitwirkungspflichten hingewiesen. Es sei beabsichtigt, die Klage durch Gerichtsbescheid abzuweisen. Der Kläger hat entgegnet, es gäbe auch in Emsdetten gute Ärzte. Ihm gehe es doch nur um den Rollstuhl und die Taxibenutzung.
Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid (§ 105 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) vom 24.08.2007 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" seien aufgrund der mangelnden Mitwirkung des Klägers nicht feststellbar. Soweit der Kläger anführe, weite Gehstrecken nicht bewältigen zu können, schließe dies die Anreise zu der ambulanten ärztlichen Untersuchung nicht aus. Der Kläger könne insoweit ein Taxi zu Hilfe nehmen. Er habe die Gefahr einer nachteiligen Entscheidung selbst zu tragen, wenn das Gericht die Voraussetzungen der von ihm geltend gemachten Rechtsfolgen nicht feststellen könne.
Gegen den ihm am 25.08.2007 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 05.09.2007 vom Kläger eingelegte Berufung. Seine Gehfähigkeit reduziere sich jeden Tag; er könne keine 50 m mehr gehen. Grund dafür seien starke Herzschmerzen. Deshalb benötige er einen Elektrorollstuhl bzw. das Merkzeichen "aG".
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 14.08.2007 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.01.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.08.2006 zu verurteilen, ihm ab Dezember 2005 das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Der Senat hat bei der AOK-C / Pflegekasse das am 25.10.2007 durch die Pflegefachkraft S I (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung -MDK- S) erstellte Pflegegutachten beigezogen.
Das Gericht hat die Beteiligten darüber informiert, dass aufgrund der Aufgabenübertragung der Versorgungsverwaltung auf die Kreise und kreisfreien Städte durch das Zweite Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007 (GV.NRW S. 482, im Folgenden: Straffungsgesetz) bis zur endgültigen Entscheidung über die Wirksamkeit des Gesetzes der bisherige Beklagte durch den Kreis T als Berufungsbeklagter ausgewechselt worden ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten sowie auf die Vorprozessakten S 6 (11) Vs 126/95 sowie S 6 SB 111/00 SG Münster und die Akten des Amtsgericht Rheine – 6 Cs 72 Js 1776/05 – 267/05 – Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Richtiger Klagegegner im Berufungsverfahren ist der für den Kläger örtlich zuständige Kreis T. Das Land Nordrhein-Westfalen ist im Bereich des Schwerbehindertenrechts (SGB IX) wirksam durch Art. 1, Abschnitt I, §§ 1 und 2 des Straffungsgesetztes zum 01.01.2008 durch einen Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und durch den Kreis T ersetzt worden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 B 101/06 – Revisionsaktenzeichen B 9 SB 1/08 R – und Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05).
Der beklagte Kreis T ist nicht verpflichtet, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichen aG festzustellen. Das SG hat zu Recht die angefochtenen Bescheide des früheren Beklagten bestätigt.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung).
Der Kläger gehört weder zu dem in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Ziff. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) aufgeführten Personenkreis noch steht ihm der streitige Nachteilsausgleich "aG" deshalb zu, weil er dem in der genannten Vorschrift aufgeführten Personenkreis gleichzustellen wäre. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und der behinderte Mensch sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie der genannte Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Unter Beachtung der vom BSG zuletzt mit Urteilen vom 29.03.2007, B 9a SB 5/05 R, B 9a SB 1/06 R und B 9/9a SB 5/06 R, aufgestellten Kriterien kommt es allein darauf an, unter welchen Bedingungen sich der schwerbehinderte Mensch, nämlich nur mit fremder Hilfe und mit großer Anstrengung und dies praktisch von den ersten Schritten an, außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann.
Die aktenkundigen Erkrankungen des Klägers rechtfertigen eine derartige Gleichstellung nicht. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger sich praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zumutbar bewegen kann. Derartiges ergibt sich weder aus den Befunden, die der Hausarzt Dr. M mitgeteilt hat, noch aus dem Pflegegutachten der Pflegefachkraft I und auch nicht aus dem von Dr. D in dem Strafverfahren beim Amtsgericht Rheine bzgl. der Verhandlungsfähigkeit des Klägers erstellten Gutachten.
Die Funktionseinschränkungen der Beine, die degenerativen Veränderungen der Hüft- und Kniegelenke sowie des rechten Sprunggelenkes und die Gicht, die einen Einzel-GdB 30 bedingen, schränken das Gehvermögen des Klägers nicht auf das Schwerste ein. Durch diese Behinderungen ist der Kläger auch nicht ständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Das Wirbelsäulen-Schulter-Arm Syndrom mit einem Einzel-GdB 20 wirkt sich auf das Gehvermögen nicht aus.
Auch die Erkrankungen der inneren Organe führen nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Nach den maßgeblichen Anhaltspunkten (AHP 2008) Nr. 31 Abschnitt 4 rechtfertigen erst Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz (Einzel-GdB 80 bis 100) oder Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades (Einzel-GdB 80 bis 100) die Gleichstellung. Dieses schwerwiegende Ausmaß haben weder das mit einem Einzel-GdB 60 beurteilte Herzleiden noch die mit einem Einzel-GdB 10 beurteilte chronische Bronchitis. Dass der Kläger insbesondere aufgrund seines Herzleidens in seinem Gehvermögen eingeschränkt ist, sieht auch der Senat. Das Merkzeichen aG steht ihm allein aufgrund dieser Erkrankungen jedoch nicht zu.
Auch ausgehend von dem tatsächlich noch bestehenden Restgehvermögen erfüllt er die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens nicht. Nach seinem aktuellen Vorbringen kann er nur noch 50 Meter gehen. Dr. M beurteilt die Mobilität dahingehend, dass der Kläger weite Gehstrecken nicht mehr bewältigen könne. Nach den vom BSG aufgestellten Kriterien lässt sich allein mit der eingeschränkten (in Metern ausgedrückten) Wegstrecke und mit dem gesteigerten Energieaufwand das Restgehvermögen nicht festlegen. Dass der Kläger vermehrt Pausen einlegen muss, spricht für eine gewisse Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" reichen jedoch nicht irgendwelche Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Gruppen erleiden.
Der Kläger ist insbesondere durch die Erkrankungen der inneren Organe sicherlich in der Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt. So kann er nach seinem Vorbringen im Juli 2007 keine 100 Meter mehr laufen. Dass er vermehrt Pausen einlegen muss, ist möglicherweise ein Indiz für eine Erschöpfung. Allerdings ist deren Intensität nicht gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen, die Schwerbehinderte der in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Ein solches Erschöpfungsbild besteht nach den vorliegenden ärztlichen Befunden nicht. So kann der Kläger nach den Feststellungen der Sachverständigen Frau I in dem Pflegegutachten vom 25.10.2007 noch innerhalb der Wohnung mit Gehfrei eigenständig und sicher gehen. Zudem gab der Kläger bei dieser Untersuchung an, dass er mehrmals wöchentlich in Begleitung Spaziergänge außerhalb der Wohnung absolviere und je nach Befinden die Praxis des behandelnden Arztes zu Fuß in Begleitung der Ehefrau bzw. im Pkw. aufsuche. Auch in dem Gutachten der im Strafverfahren gehörten Sachverständigen Frau Dr. D, das der Senat ebenso wie das Pflegegutachten urkundsbeweislich auswertet, werden Einschränkungen im Gehvermögen nicht beschrieben.
Es mag sein, dass sich das Gehvermögen in letzter Zeit weiter verschlechtert hat. Der Senat hat insoweit jedoch keine Veranlassung gesehen, den Sachverhalt durch Einholung eines Gutachtens weiter aufzuklären. Das eingeschränkte Gehvermögen ist im Wesentlichen durch das Herzleiden bedingt, das hier – wie schon ausgeführt – nicht zu einer Gleichstellung mit dem in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln genannten Personenkreis führt. Eine weitere medizinische Beweisaufnahme durch das SG war insoweit nicht erforderlich, so dass es im Ergebnis unerheblich ist, dass der Kläger die Untersuchung durch Dr. C in N abgelehnt hat. Allerdings bestehen, darauf weist der Senat den Kläger hin, Mitwirkungsobliegenheiten, zu denen es auch gehört, sich auf gerichtliche Anordnung ärztlich begutachten zu lassen (ebenso Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage 2005 § 103 Rdnr. 14). Die Auswahl des Sachverständigen steht dabei im Ermessen des Gerichts. Wenn nicht ersichtlich ist, dass das Gericht bei der Ausübung des Bestimmungsrechts ermessensfehlerhaft gehandelt hat, hat der Kläger keinen Grund, die Untersuchung durch den Sachverständigen zu verweigern. Das Recht auf freie Arztwahl steht ihm nicht zu. Dass der vom SG ausgewählte Sachverständige Dr. C über keine Fachkompetenz verfügt, behauptet der Kläger selbst nicht. Er hat auch im Übrigen keinen triftigen Grund dafür angeführt, nicht zur Untersuchung nach N anreisen zu können. Ohne Weiteres hätte er mit dem Wagen oder auch mit dem Taxi zur Praxis des Sachverständigen fahren können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
Erstellt am: 28.05.2008
Zuletzt verändert am: 28.05.2008