BSG Urteil + Urteile vom SG UND LSG wurden aufgehoben
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.11.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger trotz seines Wohnsitzes in den Niederlanden für die Zeit vom 06.01. bis 20.08.2006 Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) hat.
Der 1961 geborene Kläger arbeitete in einem von vornherein befristeten Arbeitsverhältnis bis 31.08.2003 als Sozialpädagoge in B. Ab 01.09.2003 bezog er für seine am 00.00.2003 geborene Tochter Erziehungsgeld, und zwar bis 24.01.2004; seit Juli 2004 wohnt er in den Niederlanden und ist seit 21.08.2006 wieder beitragspflichtig beschäftigt.
Mit Bescheid vom 13.02.2006 lehnte die Beklagte seinen Antrag auf Alg vom 06.01.2006 ab, weil er seinen Wohnsitz nicht in Deutschland habe. Seinen dagegen erhobenen Widerspruch begründete er mit einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung gegenüber anderen EU-Bürgern. Er habe in den Niederlanden keinen Leistungsanspruch, stehe dem deutschen Arbeitsmarkt so zur Verfügung, als würde er in Deutschland wohnen und habe angesichts seines Berufs auch nur dort eine realistische Vermittlungschance.
Mit Widerspruchsbescheid vom 03.04.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Am 30.06.2006 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Aachen Klage erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, die Berufung auf den Territorialitätsgrundsatz schränke die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Sie verstoße auch gegen den verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Familie, da die Kindererziehungszeit als eine einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit anzusehen sei und es somit nicht darauf ankommen könne, dass er erst nach dem Ende seiner letzten Erwerbstätigkeit in die Niederlande verzogen sei. Für eine Anbindung an das deutsche Sozialleistungssystem spreche auch, dass Kindergeld nach deutschem Recht gezahlt worden sei.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.02.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2006 zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung seines Antrags vom 06.01.2006 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, auch unter der ausweitenden Auslegung, die der sozialrechtliche Territorialitätsgrundsatz in der sogenannten Miethe-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) sowie in der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 09.02.1994 – B 11 RAr 1/93 – erfahren habe, stehe dem Kläger ein Alg-Anspruch nicht zu.
Mit Urteil vom 28.06.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Sie sei unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Alg habe. Zur Begründung hat es weiter wie folgt ausgeführt:
"Nach § 30 Abs. 1 SGB I gelten die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB) für Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB haben. Dass dies beim Kläger nicht der Fall ist, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Er kann sich auch nicht mit Erfolg auf den in § 30 Abs. 2 SGB I enthaltenen Vorbehalt zu Gunsten des überstaatlichen Rechts berufen. Als für den vorliegenden Fall einschlägiges überstaatliches Recht kommt nur Art. 71 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 in Betracht, die jedoch deswegen nicht zur Anwendung gelangt, weil der Kläger kein Grenzgänger im Sinne dieser Verordnung ist.
Grenzgänger sind arbeitslose Arbeitnehmer, die während ihrer letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen (Beschäftigungs-)Staates gewohnt haben. Die Frage der Identität von Wohn- und Beschäftigungsstaat bestimmt sich damit nach dem Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bzw. des Arbeitsverhältnisses (BSG, Urteil vom 07.03.2003, B 7 AL 42/02 R; Schlegel, in: Spelbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, § 37, Rn. 160). Hat ein Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit durchgehend in seinem Wohnsitzstaat ausgeübt und verlegt er erst nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bzw. Arbeitsverhältnisses den Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat, kann er dadurch, dass er sich in einem anderen als dem Wohnstaat um Arbeitsvermittlung und Aufnahme einer Beschäftigung bemüht, die Eigenschaft als echter oder unechter Grenzgänger nicht nachträglich begründen (BSG, Urteil vom 03.07.2003, B 7 AL 42/02 R; BSG, Urteil vom 08.07.1993, 7 RAr 44/92). Die Anwendung von Art. 71 EWGV 1408/71 scheidet daher aus, wenn der Wohnsitz erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit vom Beschäftigungsort in einen anderen Mitgliedsstaat verlegt wird (BSG, SozR 3-6050 Art. 71 Nr. 8).
Das letzte Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis endete am 31.08.2003; zu diesem Zeitpunkt wohnte der Kläger noch im Geltungsbereich des SGB.
Dass der Kläger sich im folgenden Zeitraum der Erziehung seiner Tochter gewidmet hat, unterstellt ihn nicht dem besonderen Grenzgängerschutz aus Art. 71 EWGV 1408/71. Zwar ist es für die Anwendung von Art. 71 EWGV 1408/71 unschädlich, wenn der Arbeitnehmer während eines (ggf. das Arbeitsverhältnis abschließenden) Erziehungsurlaubs den Wohnstaat wechselt (BSG SozR 3-6050 Art. 71 Nr. 5). Der Kläger hat dies jedoch gerade nicht im Rahmen eines Erziehungsurlaubs im rechtlichen Sinne getan, denn sein letztes Arbeitsverhältnis hatte bereits vor dem Umzug geendet.
Es kann dahinstehen, ob die Erziehung als solche eine Beschäftigung im Sinne der EWGV 1408/71 ist. Jedenfalls setzt die Anwendbarkeit von Art. 71 EWGV 1408/71 ein Auseinanderfallen des Beschäftigungs- und des Wohnorts voraus (ausführlich BSG, a.a.O.), woran es hier fehlt, denn die Erziehung erfolgt gerade am Wohnort des Klägers.
Aus diesem Grund ist auch die Rechtsprechung zur Einbeziehung von Pflegekräften in den Schutz von Art. 71 EWGV 1408/71 (vgl. EuGH, Urteil vom 08.07.2004, C-31/02, C-502/01, SozR 4-3300 § 44 Nr. 2; SG Aachen, Vorlagebeschluss vom 18.01.2002, S 8 (9) RJ 2/00) nicht anwendbar."
Gegen das ihm am 01.12.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.12.2006 Berufung eingelegt. Er hat den Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 23.11.2007 in Kopie vorgelegt, in dem die Kindererziehungszeiten für die am 00.00.2003 geborene Tochter vom 01.03.2004 bis 31.12.2004 und vom 01.01.2005 bis 31.01.2006 vorgemerkt sind. Zur Begründung der Berufung trägt er vor, entsprechend dem Versicherungsverlauf sei für ihn von September 2003 bis einschließlich Januar 2006 eine Pflichtbeitragszeit Kindererziehung gemäß § 56 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) festgestellt. Er sei seit 21.08.2006 erneut beitragspflichtig beschäftigt und das Kindergeld für seine Tochter sei durchgehend an seine Ehefrau gezahlt worden. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt sei der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Alg für die Zeit ab Antragstellung im Januar 2006 bis 20.08.2006 unter weitergehender Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III i.V.m. Art. 71 EWGV Nr. 1408/71 begründet. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass er seinen Wohnsitz erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit vom Beschäftigungsort in den anderen Mitgliedstaat verlegt habe. Denn Anknüpfungspunkt sei in diesem Zusammenhang § 26 Abs. 2 a SGB III.
Der Kläger beantragt
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.11.2006 zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und tritt dem Berufungsvorbringen des Klägers entgegen. Insoweit wird auf ihren Schriftsatz vom 23.01.2008 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Leistungsakte der Beklagten, der ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Alg für die Zeit vom 06.01. bis 20.08.2006. Zur Begründung verweist der Senat auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – ).
Das Berufungsvorbringen des Klägers vermag an der Entscheidung nichts zu ändern. Wenn der Kläger dabei geltend macht, sein Anspruch auf Alg sei unter weitergehender Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III i.V.m. Art. 71 EWGV 1408/71 begründet, weil Anknüpfungspunkt § 26 Abs. 2 a SGB III und in diesem Zusammenhang unerheblich sei, dass er seinen Wohnsitz erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit vom Beschäftigungsort in den anderen Mitgliedstaat verlegt habe, und soweit er damit geltend macht, dass die Kindererziehungszeit als Versicherungspflichtzeit bei Anwendung des Art. 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 wie eine Beschäftigung zu werten sei, ist ihm nicht zu folgen. Der in Art. 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 verwendete Begriff der Beschäftigung ist in der Verordnung nicht näher erläutert. Zwar definiert Art. 1 Buchst. s EWGV 4108/71 den Begriff der Beschäftigungszeit. Die Norm umschreibt jedoch nicht den Begriff der Beschäftigung. Der Begriff der Beschäftigungszeit hat eine eigenständige Bedeutung, etwa bei der Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten nach Art. 67 EWGV 1408/71, wonach der zuständige Träger eines Mitgliedstaates, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Beschäftigungszeiten abhängig ist, soweit erforderlich, Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten berücksichtigt, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegt wurden, als handele es sich um Beschäftigungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind. Hierfür ordnet Art. 71 Buchst. s EWGV 1408/71 an, dass Beschäftigungszeiten all die Zeiten sind, die nach den Rechtsvorschriften, unter denen sie zurückgelegt worden sind, als solche bestimmt oder anerkannt sind, ferner alle gleichgestellten Zeiten, soweit sie nach diesen Rechtsvorschriften als den Beschäftigungszeiten gleichwertig anerkannt sind. Für das deutsche Recht ist dies insoweit von Bedeutung, als nach § 107 AFG gleichgestellte Zeiten, wie etwa die Zeit eines Krankengeldbezugs, auch bei Geltendmachung eines Anspruchs gegen einen ausländischen Träger in die Berechnung einer eventuellen Anwartschaftszeit einzubeziehen sind. Art. 1 Buchst. s EWGV 1408/71 regelt hingegen nicht den Inhalt dessen, was Beschäftigung im Sinne des Art. 71 EWGV 1408/71 ist, wie schon sein Wortlaut deutlich macht, der gerade zwischen Beschäftigungszeiten und gleichgestellten Zeiten unterscheidet (so: BSG, Urteil vom 03.07.2003.- B 7 AL 42/02 R – Rnr. 18).
Ist nach den Ausführungen des BSG, denen sich der Senat anschließt, somit zwischen dem Begriff der Beschäftigung und dem der Beschäftigungszeit zu unterscheiden und ist die Kindererziehungszeit lediglich Versicherungspflichtzeit, bzw. steht der Erziehende lediglich in einem Versicherungspflichtverhältnis, folgt daraus nicht, dass die Kindererziehungszeit als Beschäftigung im Sinne der genannten Vorschriften der EWGV 1408/71 zu werten ist. Insoweit gibt es, was die Beklagte zutreffend anmerkt, keine Hinweise in der Rechtsprechung darauf, dass nicht an die Beschäftigung, sondern lediglich an ein beliebiges Versicherungspflichtverhältnis anzuknüpfen sei.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Frage, ob das Versicherungspflichtverhältnis der Kindererziehungszeit wegen des Schutzes der Familie einer Beschäftigung gleichgestellt werden kann, grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 17.03.2010
Zuletzt verändert am: 17.03.2010