Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 03.06.2008 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Münster zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Gesundheitsstörungen der Klägerin als Schädigungsfolgen im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) und Leistungen nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG i.V.m. §§ 30, 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Am 01.09.2004 stellte die am 00.00.1968 geborene, gehörlose Klägerin einen Antrag auf Versorgung nach dem OEG i.V.m. dem BVG. Sie gab an, von ihrem getrennt lebenden, ebenfalls gehörlosen Lebenspartner, Herrn G M (fortan: M), in der Zeit von 1997 bis 2004 vielfach körperlich verletzt und vergewaltigt worden zu sein. Sie hätten eine 14 Jahre dauernde nichteheliche Lebensgemeinschaft geführt, aus der das Kind N E, geb. am 00.00.1994, hervorgegangen sei. Weiter fügte die Klägerin dem Antrag einen Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 29.07.2004 bei, durch den gegen den ehemaligen Lebenspartner ein Kontaktverbot im Wege einer einstweiligen Anordnung ausgesprochen worden war. Als Schädigungsfolgen gab die Klägerin an: "Erschöpfungszustand, Angst vor Nähe, evtl. posttraumatische Belastungsstörung, Schädelhirntrauma, Würgemale, Prellungen."
Das Versorgungsamt ermittelte den Sachverhalt, indem es einen Bericht des K-Hospitals in X über eine stationäre Behandlung der Klägerin vom 19. bis zum 21.07.2004 wegen eines Schädelhirntraumas und Prellungen beizog. Aus den ebenfalls beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft Münster ergab sich, dass die Klägerin am 17.04.2004 gegen Herrn M Strafanzeige erstattet und dabei angegeben hatte, sie sei mit dem Täter seit zwölf Jahren verlobt, immer wieder sei es zu körperlichen Übergriffen gekommen, über Jahre habe er sie geschlagen und mehrmals vergewaltigt. Am 15.04.2004 habe es einen Streit gegeben: Er habe sie erneut geschlagen, gewürgt und auf den Boden gedrückt sowie anschließend vergewaltigt. Solche Auseinandersetzungen hätten sich bereits seit vier Jahren gehäuft. Es käme bis zu drei- oder vier Mal im Monat vor, dass er sie vergewaltige.
Nach einer Auskunft der Polizei vom 03.05.2004 waren ihr die Klägerin und Herr M seit längerer Zeit bekannt, es habe häufiger Polizeieinsätze und wechselseitige Anzeigen gegeben, geprägt von hoher Emotionalität und Rache. So soll die Klägerin Herrn M im Oktober 1999 mit Tabletten vergiftet haben. Die Klägerin gab im Strafverfahren weiter an, dass die Gewaltübergriffe anfangs noch ohne sexuelle Übergriffe erfolgt seien. Es sei dann aber immer schlimmer geworden. Etwa ab dem Jahr 2000 habe M sie ungefähr alle zwei Tage sexuell bedrängt und vergewaltigt. Seit 2000 habe sie daher keinen Geschlechtsverkehr mehr mit ihm gewünscht und ihn verlassen wollen, dazu habe sie aber erst nicht den Mut gefunden. Auch habe M gedroht, sie umzubringen, wenn sie ginge. Etwa im Jahre 2001 habe sie dann erstmals mit einem Mitarbeiter der Caritas über familiäre Probleme gesprochen, allerdings zunächst ganz allgemein. 2001/2002 sei sie in ein Frauenhaus in N geflüchtet. Nachdem M in die Psychiatrie in M verbracht worden sei, sei sie in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt. Er habe ihr jedoch in der Klinik versprochen, sich zu ändern. Als er nach sechs Wochen entlassen worden und zu ihr zurückgekehrt sei, sei es aber noch schlimmer geworden. Er habe ihr regelmäßig gedroht, sie im Falle einer Trennung umzubringen. Alle zwei bis drei Tage sei es zu erzwungenem Geschlechtsverkehr gekommen. Im Frühjahr 2004 sei sie erneut in ein Frauenhaus geflüchtet und dann später im Jahr 2004 ein weiteres Mal. M machte bei seiner Vernehmung durch die Polizei keine Angaben.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.06.2006 lehnte das Versorgungsamt die Gewährung von Versorgung ab. Bei den schädigenden Vorfällen habe es sich zwar um Gewalttaten im Sinne des § 1 OEG gehandelt, eine Versorgung müsse aber gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG versagt werden, da die Klägerin sich der konkreten Gefahr nicht entzogen habe, obwohl ihr dies zumutbar gewesen sei. Nach ihren eigenen Angaben sei sie seit ca. 1997/98 von Ihrem Lebensgefährten, Herrn M geschlagen worden, seit 2000 sei sie zudem mehrmals wöchentlich vergewaltigt worden. Auch seien häufige Polizeieinsätze wegen Streitigkeiten zwischen der Klägerin und M belegt. Im Frühjahr 2001 oder 2002 sei die Klägerin dann im Frauenhaus gewesen und habe anschließend dennoch die Beziehung zu M wieder aufgenommen. Ein Versagungsgrund im Sinne der ersten Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG liege danach vor. Das Verhalten der Klägerin, Herrn M nicht zu verlassen, sei zumindest Mitursache für den Eintritt der Schädigung gewesen.
Dagegen legte die Klägerin Widerspruch mit der Begründung ein, sie habe schuldlos gehandelt, eine Mitverursachung scheide aus. Auch liege keine Unbilligkeit vor.
Das Versorgungsamt zog erneut die Akten der Staatsanwaltschaft bei. Nach dem Urteil des Landgerichts Münster vom 08.08.2006 wurde M zu vier Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwölf Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde angeordnet.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.03.2008 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er aus, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Entschädigung desjenigen Opfers ausgeschlossen sei, welches sich der Gefahr bewusst oder leichtfertig ausgesetzt habe, oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzogen habe, obwohl ihm dies zumutbar und möglich gewesen sei. Das sei der Klägerin der Fall gewesen. Sie habe M trotz vielfacher körperlicher und sexueller Übergriffe nicht verlassen.
Hiergegen hat die Klägerin am 16.04.2008 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Die Klägerin hat erstinstanzlich sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2008 zu verurteilen, ihr Versorgung nach dem OEG i.V.m. dem BVG nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG Münster hat am 03.06.2008 die Klage durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Dabei ist es der Begründung der angefochtenen Bescheide vom 12.06.2006 und insbesondere vom 17.03.2008 gefolgt. Die Entscheidung befinde sich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 03.10.1984 – 9a RVg 6/83 – in SozR 3800 § 2 OEG Nr. 5. Einer von der Klägerin gewünschten mündlichen Verhandlung habe es nicht bedurft. Die Klägerin habe ausführlich Gelegenheit gehabt, sich bereits im polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, im Verwaltungsverfahren sowie im Klageverfahren zu äußern.
Mit der dagegen eingelegten Berufung macht die Klägerin geltend, sie sei mit einer Entscheidung per Gerichtsbescheid nicht einverstanden gewesen und habe dies gegenüber dem SG mit Schriftsatz vom 30.05.2008 insbesondere mit ihren massiven Problemen begründet, sich ohne Gebärdendolmetscher verständlich zu machen. Dennoch sei sodann der Gerichtsbescheid vom 03.06.2008 ergangen. Die Wirtschaftsauffassung des Beklagten sei für sie nicht nachvollziehbar. Sie sei Opfer verschiedener Straftaten geworden. Sie habe sich, sobald es eine Möglichkeiten gegeben habe, vom Täter abgewandt.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des SG Münster vom 03.06.2008 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen, hilfsweise, den Gerichtsbescheid des SG Münster vom 03.06.2008 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.06.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2008 zu verurteilen, ab Antrag Schädigungsfolgen nach dem OEG anzuerkennen.
Der Beklagte hat sich dem Zurückverweisungsantrag angeschlossen und hilfsweise die Zurückweisung der Berufung beantragt.
Zur Begründung hat er sein Vorbringen aus erster Instanz wiederholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten betreffend die Klägerin sowie die Akte der Staatsanwaltschaft N – 000 – betreffend den M verwiesen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige und im Übrigen statthafte Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel im Sinne dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Frehse in: Jansen, SGG, 2. Auflage 2005, § 159 Rdn. 6 m.w.N.). Solche Mängel liegen hier vor.
Bereits die Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheids liegen nicht vor (§ 105 SGG). Der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist nicht geklärt. Voraussetzung dafür wäre zunächst, dass das SG konkret die Handlungen des M nach Ort, Zeit sowie Art ermittelt und benennt, die es als Angriffe i.S.d. § 1 OEG ansieht. Erst danach kann es entscheiden (und der Senat überprüfen), ob die Klägerin diese Angriffe gem. § 2 OEG durch eigenes Verhalten hätte vermeiden können oder ihr Verhalten zumindest mitursächlich für die Handlungen des M war. Das gilt insbesondere für etwaige Angriffe des M vor dem erstmaligen Aufenthalt der Klägerin im Frauenhaus. Insoweit fehlt es aufgrund der lückenhaften Ermittlungen des Beklagten und des vollständigen Fehlens von Ermittlungen des SG an Feststellungen dazu, wann es genau zu diesem Aufenthalt gekommen ist und warum die Klägerin trotz dieser ersten Flucht vor M anschließend ein Zusammenleben mit ihm erneut versucht hat. Um die hierfür notwendigen Informationen zu erhalten, ist eine persönliche Anhörung der Klägerin mittels Gebärdendolmetscher unumgänglich (vgl. zur Sachverhaltsaufklärung mittels Beteiligtenanhörung: Hintz in: Beck scher Online-Kommentar, § 103 SGG Rdn. 3).
Die persönliche Anhörung der Klägerin mittels Dolmetschers ist aber auch deswegen nötig, weil der Klägerin ohne diese Anhörung ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verweigert wird (Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage 2005, § 61 Rdn. 8; § 186 GVG). Die vom SG insoweit angesprochenen Äußerungsmöglichkeiten im Verwaltungsverfahren würden den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör im Gerichtsverfahren nicht tangieren. Sie bestanden aber auch nicht; so hat beispielsweise die Polizei im Vernehmungsprotokoll der Klägerin die Verständigungsschwierigkeiten aufgrund des Fehlens eines Dolmetschers festgehalten. Die Klägerin hat auf diese Problematik sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren hingewiesen. Dennoch hat das SG die Klägerin aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht persönlich mittels Dolmetschers gehört und somit auch gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von Amts wegen verstoßen (§ 103 SGG). Es hat weiterhin die Beteiligten nicht ordnungsgemäß nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vor Erlass des Gerichtsbescheides angehört. Zwar hat das SG mit Schreiben vom 13.05.2008 zunächst zur beabsichtigten Klageabweisung angehört. Die weitere Entwicklung des Verfahrens hat es jedoch erforderlich gemacht, die Klägerin erneut anzuhören. Unabhängig vom konkreten Inhalt des Anhörungsschreibens erfüllt die Anhörung nämlich zumindest auch den Zweck, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen oder/und Beweisanträge zu stellen (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage, § 105 Rdn. 10a). Das hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 30.05.2008 gemacht, sie hat zum wiederholten Mal auf Missverständnisse in der bisherigen Sachverhaltsaufklärung und auf die Notwendigkeit der ihrer persönlichen Anhörung mittels Gebärdendolmetschers hingewiesen. Danach bestand für das SG die Verpflichtung, selbst wenn es die Anhörung (fälschlicherweise) nicht durchführen wollte, den Beteiligten deutlich zu machen, dass es trotz des Inhalts dieses Schriftsatzes weiterhin die Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides für gegeben erachtet und entsprechend entschieden werden soll (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.06.2000 – L 8 RA 18/00 -). Das ist nicht geschehen.
Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das SG bei ordnungsgemäßer Beweisaufnahme und -würdigung eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Der Senat verweist den Rechtsstreit daher in Ausübung des ihm in § 159 Abs. 1 SGG eingeräumten Ermessens zur Durchführung der erforderlichen Ermittlungen an das Sozialgericht zurück. Zwar ist auch die Berufungsinstanz im sozialgerichtlichen Verfahren als vollständige zweite Tatsacheninstanz ausgestaltet. Im Zweifel ist deshalb die Entscheidung des Landessozialgerichts, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, im Interesse einer zügigen Erledigung des Verfahrens vorzugswürdig (vgl. BSG, Beschlüsse vom 16. Dezember 2003 – B 13 RJ 194/03 B – und vom 14. Februar 2006 – B 9a SB 22/05 B -). Der Senat handhabt die Zurückverweisung deshalb zurückhaltend und führt noch fehlende Ermittlungen in aller Regel selbst durch. In die Ermessensentscheidung ist jedoch auch einzubeziehen, dass die Beteiligten nach dem SGG das Recht auf zwei vollständige Tatsacheninstanzen haben. Hat das Sozialgericht, wie hier, zum entscheidungserheblichen Sachverhalt keine eigenen Ermittlungen durchgeführt und der Klägerin keine Gelegenheit gegeben, sich zur Sache zu äußern, so würde den Beteiligten faktisch eine volle Instanz genommen, sofern das Berufungsgericht den Sachverhalt seinerseits vollständig aufklären würde. Dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie trägt der Senat hier durch eine zügige Zurückverweisung des Rechtsstreits Rechnung (ebenso: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.07.2008 – L 3 U 308/07 -).
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 29.10.2008
Zuletzt verändert am: 29.10.2008