Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.10.2006 wird zurückgewiesen. Kosten haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG wegen einer Beschäftigung im Ghetto Kaunas (Kowno) in der Zeit von September 1941 bis September 1943.
Die am 00.00.1927 geborene Klägerin lebt heute in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit. Ein Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) hat die Klägerin nicht durchgeführt.
Im Jahr 1993 stellte die Klägerin einen Antrag auf Entschädigung durch den Art. 2-Fonds der Claims Conference. Im Antragsformular gab die Klägerin an (Bl. 54 Verwaltungsakte), sie sei von August 1941 bis Juli 1944 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im Ghetto Kaunas inhaftiert gewesen. In Kaunas habe es einen Flughafen gegeben, wo sie schwer habe arbeiten müssen. Es habe wenig zu essen gegeben, viele seien aus Hunger und an verschiedenen Krankheiten gestorben. Im Juli 1944 seien die Überlebenden dann nach Stutthof transportiert worden.
Im Januar 1999 stellte die Klägerin einen ersten Antrag auf Gewährung einer Altersrente unter Anerkennung von Arbeitszeiten im Ghetto. Sie gab an, als "Schwarzarbeiterin" tätig gewesen zu sein und beim Bau des Flugplatzes gearbeitet zu haben.
Im Jahr 2001 beantragte die Klägerin eine Entschädigung durch den Zwangsarbeiter Fonds der Claims Conference. Im Antragsformular gab die Klägerin an, sie habe im Jahr 1942 im Ghetto Kaunas am Flugplatz Sklaven-bzw. Zwangsarbeit verrichtet.
Im Juli 2002 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Im Antragsformular der Beklagten gab die Klägerin an, dass sie von September 1941 bis Oktober 1942 beim Bau des Flugplatzes Alexotas, dann bis Oktober 1943 bei der Reparatur und Wäsche von Militäruniformen und anschließend bis Juli 1944 "bei U" an einer Sägemaschine gearbeitet habe. Im Fragebogen der Beklagten führte die Klägerin ergänzend aus, dass sie in der Zeit von September 1941 bis Oktober 1942 außerhalb des Ghettos gearbeitet habe. Auf dem Weg von und zur Arbeit außerhalb des Ghettos sei sie zusammen mit anderen Arbeitskräften gegangen und von einem Kolonnenführer bewacht bzw. begleitet worden. Bei ihren Arbeitsstellen habe sie 8-10 Stunden pro Tag und sechs Tage die Woche gearbeitet. Am Flugplatz habe sie nur Beköstigung erhalten. Für ihre Arbeit in der Wäschewerkstatt und in der Firma U, wo sie an der Sägemaschine gearbeitet habe, habe sie von der jeweiligen Arbeitsstelle wöchentlich Wertcoupons erhalten, an deren Höhe sie sich nicht erinnere. Während der Arbeit habe sie zudem eine dünne Suppe erhalten.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 08.07.2005 ab. Bei der Arbeit auf dem Flugplatz sei von Zwangsarbeit auszugehen. Die Arbeiten in einer Wäscherei und im Sägewerk seien hingegen schon dem Grunde nach nicht glaubhaft gemacht. Denn im Verfahren gegenüber der Claims Conference habe die Klägerin nur von einer Tätigkeit auf dem Flugplatz gesprochen. Zudem könne die Zeit ab dem 14.09.1943 ohnehin nicht als Ghetto-Beitragszeit anerkannt werden, weil nur bis zum diesem Zeitpunkt in Kaunas ein Ghetto bestanden habe.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie reichte eine Erklärung der Zeugin B T ein. Diese gab unter dem 18.09.2005 an, zusammen mit der Klägerin am Flugplatz Alexotas gearbeitet und am Arbeitsplatz Beköstigung erhalten zu haben. Von ca. Oktober/November 1942 bis Oktober 1943 habe die Klägerin dann innerhalb des Ghettos eine Tätigkeit in der "Wäschwerkstatt" ausgeübt und einen wöchentlichen Lohn in Form von Wertcoupons erhalten. Dann habe sie beim U (Sägerei) außerhalb des Ghettos gearbeitet und gleichfalls Wertcoupons erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 01.12.2005 zurück. Bei den Arbeitsverrichtungen außerhalb des Ghettos handele es sich um eine für die damalige Zeit nationalsozialistischer Verfolgung typische Form der Zwangsarbeit unter direkter Kontrolle und Aufsicht der Besatzer bei Unterbringung irn Ghetto und notdürftiger Versorgung. Auch vor dem Hintergrund der Verordnung vom 16.08.1941 über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung im Reichskommissariat Ostland sei ein entgeltliches Beschäftigungsverhältnis auf freiwilliger Basis nicht überwiegend wahrscheinlich.
Die Klägerin hat am 28.12.2005 Klage erhoben. Aufgrund der historisch eindeutigen Situation werde der Klageantrag auf die Zeit bis September 1943 beschränkt. Weder die Art der Tätigkeit auf dem Flugplatz Kaunas noch die Tatsache, dass die Beschäftigung außerhalb des Ghettos erfolgt und der Weg zur Arbeitsstelle unter Bewachung zurückgelegt worden sei, stelle eine ausreichende Begründung für Zwangsarbeit dar. Zudem sei der Umstand, dass die Klägerin die Arbeit in der Wäscherei und im Sägewerk gegenüber der Claims Conference nicht erwähnt habe, darauf zurückzuführen, dass es insoweit lediglich auf die Dauer des Ghettoaufenthaltes und nicht auf eine dort ausgeübte Tätigkeit angekommen sei. Des weiteren hat die Klägerin die Auffassung vertreten, dass nach der sog. Rechtsanspruchstheorie allein ihr Anspruch auf Entgelt genüge, um Beitragszeiten nach dem ZRBG zu begründen.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten für die Zeit von September 1941 bis September 1943 gerichtete Klage abgewiesen.
Die Kammer habe Zweifel an der jetzt geltend gemachten Tätigkeit in der Wäscherei ab Oktober 1942, weil sie diese Tätigkeiten bislang nicht erwähnt habe. Auf der anderen Seite sei jedoch zu berücksichtigen, dass die heutigen Erklärungen der Klägerin durch die Angaben der Zeugin B T gestützt würden.
Jedenfalls halte es die Kammer nach dem maßgeblichen Gesamtbild der Tätigkeiten nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin sie aus eigenem Willensentschluss ausgeübt habe. Ihre Bezeichnung als "Zwangsarbeit" außerhalb eines Rentenverfahrens im JCC-Verfahren spreche nicht für ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis sondern dafür, dass mit diesem Begriff entsprechend seinem üblichen Verständnis zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass sich der Betroffene dem Arbeitseinsatz gerade nicht entziehen konnte und er gegen seinen Willen zur Arbeit gezwungen wurde (unter Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 18.07.2005 – Az. L 3 RJ 101/04). Des weiteren sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin bei RentenantragsteIlung angegeben habe, auf dem Weg von und zur Arbeit durch einen Kolonnenführer bewacht worden zu sein.
Auch nach der in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum im Reichskommissariat Ostland geltende Verordnungslage sei ein freies Arbeitsverhältnisses der Klägerin im Ghetto Kaunas nicht überwiegend wahrscheinlich (unter Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 06.03.2006 – Az. L 3 R 190/05). Das Arbeitsverhältnis der Klägerin im Ghetto Kaunas zu ihrem "Arbeitgeber" sei derartig fremdbestimmt gewesen, dass ihr eine Einflußnahme auf Inhalt und Ausgestaltung nicht zugestanden habe. Zwischen den jüdischen Bewohnern des Reichskommissariats Ostland und den deutschen Besatzungsbehörden habe jedenfalls ab August 1941 ein öffentlich-rechtliches Gewaltverhältnis mit Arbeitszwang und nur notdürftiger Vergütung bestanden (wird ausgeführt)
Auch eine Tätigkeit gegen Entgelt sei nicht glaubhaft gemacht. Aus den Angaben der Klägerin ließen sich keine hinreichend sichere Schlussfolgerungen zum konkreten Umfang, zum Wert und zu der Menge der angeblichen Gegenleistung ziehen. Die Gesamtschau ihrer Angaben spreche insgesamt dagegen, dass sie mehr als freien Unterhalt empfangen habe.
Mit ihrer rechtzeitig eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie beruft sich insbesondere auf die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichtes zum Begriff des eigenen Willensentschlusses und des Entgelts im Sinne von § 1 ZRBG. Sie führt außerdem das Gutachten des Sachverständigen Dr. Tauber vom 15.10.2007 für das LSG NRW zum Ghetto in Kaunas ins Feld.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27. 10. 2006 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 8.7.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 1.12.2005 zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung von Ghettobeitragszeiten für die Zeit von September 1941 bis September 1943, zurückgelegten Ghetto Kaunas, Regelaltersrente ab 01.07.1997 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin und ihre Schwester sind durch den Berichterstatter am 23.6.2008 in Tel Aviv angehört worden. Die Klägerin hat im wesentlichen Folgendes berichtet:
"Ich kam mit meiner Mutter und meiner Schwester 1941 ins Ghetto. Mein Vater wurde vorher ermordete. Ich arbeitete bereits in sehr jungen Alter um mich zu ernähren und um Lebensmittel zu beschaffen. Ich habe die Arbeit vom Arbeitsamt bekommen. Es war keine Pflicht, dass ich zur Arbeit ging, ich hätte auch zu Hause bleiben können. Aber ich wollte natürlich für meine Familie zu essen beschaffen (Blatt 151 GA). Zuerst habe ich am Flugplatz gearbeitet, etwa ein Jahr lang. Dorthin hat man mich geschickt. Dort haben sie den neuen Flugplatz gebaut, weil sie den alten bombardiert hatten. Das waren alles Bauarbeiten. Ein ziviler Meister hat uns zur Arbeit geschickt, nicht die Soldaten. Es war eine private Firma. Wir haben in den ganzen Tag von 8:00 Uhr morgens bis 6:00 Uhr abends gearbeitet (Blatt 153 GA). Wir sind in Kolonnen marschiert und mit dem Bus gefahren dorthin. Ich habe selber Steine geschleppt und bei der Asphaltierung geholfen (Bl. 154 GA). Es war eine schwere Arbeit. Als der Flughafen aufgebaut war, brauchte man keine Arbeiter mehr. Vielleicht war es so, als wir die Arbeit beendet haben beim Flugplatz, da kam eine Suche, dass Arbeiter gebraucht werden bei U, und da sind wir dorthin gegangen, um die Arbeit und Lohn zu bekommen (Bl. 163 GA). Ich bin zum Arbeitsamt gegangen und habe um eine andere Arbeit gebeten (Blatt 157 Gerichtsakte). Nach einem Jahr bin ich zu U gegangen zu arbeiten. Dort haben wir den ganzen Tag Holz in kleine Stücke gesägt. Das war eine sehr schwere, eine fiese Arbeit. Mädchen, die mit mir gearbeitet haben, haben sich die Finger abgeschnitten. Meine Mutter wollte immer, dass meine Schwester und ich eine leichtere Arbeit machen (Blatt 157 Gerichtsakte). Ich habe etwa ein halbes Jahr oder acht Monate bei U gearbeitet. Ich und meine Schwester sind in die Wäscherei gewechselt. Meine Mutter war eine Meisterschneiderin. Sie hat darum gebeten, dass man uns ihr näher bringt (Bl. 159 GA). Ich habe in der Wäscherei gebügelt. Wir haben dort Uniformen für die Wehrmacht gebügelt. Die Wäscherei lag einem an einem großen Platz, an dem viele Handwerker arbeiteten (Blatt 160 GA). In der Wäscherei habe ich bis zum Ende des Ghettos gearbeitet.
Befragt zur Gegenleistung hat die Klägerin ausgeführt: "Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Dafür habe ich Coupons bekommen. Dafür gab es Brot, Pferdefleisch, Zucker, ein bisschen Salz, Seife. Das haben wir im Ghetto bekommen. Die Coupons haben wir am Ghettoamt erhalten. Es waren immer die gleichen. Immer Fleisch, Zucker, Salz, Seife, Brot (Blatt 165 Gerichtsakte). Auf den Coupons stand genau, was man dafür erhielt. Die Mutter hat alle Coupons genommen und damit die Familie ernährt. Es war ein Hungerlohn. Es war vielleicht nicht genug, aber wir hatten etwas, um den Hunger zu stillen. Genug zum Tauschen hatten wir nicht. Geld haben wir nicht bekommen. Für die Arbeit am Flughafen haben wir keine Coupons bekommen, nur für die Arbeit in Ghetto.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Senat den Sachverständigen Dr. Tauber zu den Arbeitsbedingungen im so genannten Reichskommissariat Ostland befragt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts und Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Regelaltersrente, weil sie keine nach § 35 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt hat. Insbesondere die Anerkennung fiktiver Pflichtbeitragszeiten nach §§ 1,2 ZRBG kann die Klägerin nicht verlangen. Der Senat hält es weiterhin nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass sie im Ghetto Kaunas aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt beschäftigt gewesen ist, § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a und b ZRBG.
1. Noch nicht entscheidend gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss spricht die Entwicklung des Vortrags der Klägerin. Zwar hat sie hat sie im Verfahren gegenüber der Jewish Claims Conference nur von ihrer Arbeit am Flugplatz Kaunas gesprochen und diese als Sklavenarbeit bezeichnet. Andererseits kam es in diesem Verfahren auf eine lückenlose und vollständige Schilderung der Arbeitstätigkeiten nicht an. Dass die damals jugendliche Klägerin die schweren körperlichen Bauarbeiten auf dem Flughafen im Nachhinein als Sklavenarbeit bezeichnet hat, liegt nahe. Die Klägerin hat sich bei der Anhörung in Israels erkennbar bemüht, wahrheitsgetreu über die von ihr ausgeübten Tätigkeiten und ihrer Abfolge Auskunft zu geben. Ihr überzeugender Vortrag ist insoweit von ihrer Schwester bestätigt worden. Obwohl die Klägerin im Verwaltungsverfahren noch eine andere Abfolge der Tätigkeiten angegeben hat, erscheint die jetzt angegebene Abfolge plausibler. Denn die Klägerin hat nachvollziehbar erklärt, dass ihre Mutter sie vor der gefährlichen Arbeit bei der Holzzerkleinerung bewahren wollte und sie zu diesem Zweck in einer Wäscherei untergebracht hat, zu der sie als gefragte Facharbeiterin in Kontakt stand.
2. Auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber hegt der Senat allerdings ernsthafte Zweifel daran, ob es im Reichskommissariat Ostland außerhalb der Werkstätten des Judenrats überhaupt Tätigkeiten aus eigenem Willensentschluss gegeben hat, oder ob nicht insoweit in der Regel von Zwangsarbeit auszugehen ist.
Zwangsarbeit ist von dem in §§ 1 bis 3 ZRBG beschriebenen Typus des freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses, das sich auf einen vereinbarungsgemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte (Arbeit gegen Lohn) richtet, in wertender Betrachtung nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss v. 20.05.1996 – 1 BvR 21/96 SozR 3 – 2400 § 7 Nr. 11 Rn. 11) abzugrenzen. Eine Arbeit ist umso eher Zwangsarbeit, als sie von hoheitlichen Eingriffen geprägt wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, wie etwa Bewachung während der Arbeit zur Fluchtverhinderung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit am Ort der Arbeitsstätte, einseitige Zuweisung an bestimmte Arbeitgeber, Vorenthaltung von Entgelt (vgl. BSG, Urteil vom 14.07.1999, B 13 RJ 71/99 R m.w.Nw), Misshandlungen oder Missachtung elementarer Arbeitsstandards zum Schutz von Leben und Gesundheit.
Schon die Verordnungslage im Reichskommissariat Ostland, in dessen Gebiet Schaulen lag, spricht auf den ersten Blick generell eher gegen die Möglichkeit von Beschäftigungsverhältnissen aus eigenem Willensentschluss. Alle Juden zwischen dem 14. und 60. Lebensjahr unterlagen nach der "Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung" des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete vom 16.08.1941 dem Arbeitszwang, der mit Zuchthaus und ggf. sogar der Todesstrafe durchgesetzt werden konnte. Nach den "Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland" vom 02. 08.1941 waren die arbeitsfähigen Juden nach Bedarf zur "Zwangsarbeit" heranzuziehen. Ihre Vergütung hatte nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur dazu zu dienen, den notdürftigen Lebensunterhalt der Zwangsarbeiter und ihrer nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder zu sichern. Die privaten Einrichtungen und Personen, zu deren Gunsten die Zwangsarbeit erfolgte, hatten ein "angemessenes Entgelt" an die Kasse des Gebietskommissars zu zahlen, der wiederum die Vergütung an die Zwangsarbeiter auszahlen sollte. Der Erlass des Reichskommissars Ostland, Abteilung Finanzen, vom 27.08.1942 zur Verwaltung der jüdischen Ghettos behandelt die Ausnutzung der "Arbeitskraft der Juden" als "Vermögensverwaltung" und beschreibt die Nutzung der jüdischen Arbeitskraft als "Vermietung" durch das örtlich zuständige Arbeitsamt und spricht von der "Zuweisung" der "angeforderten" Juden an den Arbeitgeber. Für die "Miete" von Facharbeitern war der "übliche Lohn" zu zahlen. Dieser "Lohn" wurde aber ersichtlich nicht als (individuelle) Gegenleistung für die verrichtete Arbeit angesehen, vielmehr sollte mit der Zahlungspflicht vermieden werden, "dass der Unternehmer aus der Beschäftigung von Juden zusätzliche Vorteile zieht". Der Erlös sollte laut Erlass in den Haushalt des Reichskommissars fließen.
Auf der Grundlage dieser rechtlichen Konstruktion der "Vermietung" von Arbeitskräften auf der Grundlage behördlicher Zuweisung, die eine Beschäftigung in freien Arbeitsverhältnissen wie im so genannten Generalgouvernement an sich nicht ausdrücklich vorsah, drängt sich auf, dass jedenfalls Beschäftigungsverhältnisse von Ghettoinsassen mit Arbeitgebern außerhalb der Ghettos derart durch hoheitliche Eingriffe begründet und geprägt gewesen sind, dass sie keine ausreichende Ähnlichkeit mit dem Typus des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses mehr aufweisen konnten (in diesem Sinne ausführlich LSG NRW, Urteil vom 12.5.2006 – L4 RJ 123/04 Juris "öffentlich-rechtlich organisierte Dienstverschaffung"; zuletzt vergleichbar LSG NRW, Urt. v. 16.02.2009 – L 3 R 214/08). Dafür lässt sich auch der grundsätzlich bestehende Arbeitszwang für jüdische Ghettobewohner anführen. Die vom Sachverständigen in seinem Gutachten vom 22.11.2005 beispielhaft für das Ghetto Schaulen geschilderte Aufforderung der deutschen Ghettoverwaltung an den Judenrat, aus einer "inaktiven" Reservekolonne von 1000 Personen weitere 500 Personen für Arbeitseinsätze zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass dieser Arbeitszwang bei Bedarf auch durchgesetzt wurde.
Auf der der anderen Seite ist allerdings auch nicht zu verkennen, dass die genannten Vorschriften nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber in der mündlichen Verhandlung zwar den Rahmen für die jüdische Arbeitsleistung bildeten, jedoch – insbesondere was die Lohnzahlung anbelangt – unterschiedlich gehandhabt wurden und auch Umsetzungsspielräume ließen. Einerseits musste der Judenrat als Scharnier zwischen den rechtlosen Ghettoinsassen und der allmächtigen deutschen Verwaltung Anforderungen von Arbeitskräften durch das deutsche Arbeitsamt unbedingt erfüllen. Für die Ghettobewohner bestand Arbeitspflicht, die – wenn auch mit vergleichsweise milden Sanktionen – vom Judenrat durchgesetzt wurde. Andererseits verfügte der Judenrat bei der Zuordnung einzelner Ghettobewohner zu den zu besetzenden Arbeitsstellen über einen gewissen Handlungsfreiraum, etwa bei der Zuteilung von Bewerbern je nach Qualifikation zu bestimmten Arbeitsplätzen. Dem entsprachen Wahlmöglichkeiten der Arbeiter, die ihre Arbeitsstelle in gewissen Umfang auswählen und wieder wechseln konnten, wenn sie sich auch der endgültigen Zuweisung an einen Arbeitsplatz nicht einseitig entziehen konnten. Es gab offenbar sogar "arbeitslose" Ghettobewohner.
Der Gutachter hat dem Senat zudem historische Beispiele für die Möglichkeit der Arbeitenden genannt, zumindest in Randbereichen auf die Arbeitsbedingungen wie Dauer von Arbeitspausen und die Form der Entlohnung (Lebensmittel statt Bargeld) Einfluss zu nehmen (wenn diese Einflussmöglichkeit ersichtlich auch von den individuellen Beziehungen zwischen dem jeweiligen Brigadier und dem "Arbeitgeber" abhängig war). Möglicherweise näherten sich Beschäftigungsverhältnisse von Ghettobewohnern auf diese Weise – zumindest in Ausnahmefällen – sogar der in der Kriegswirtschaft weit verbreiteten Rechtsform "diktierter" Verträge an. Solche Verträge entstanden zwar durch Hoheitsakt, der als Rechtsgrund die nach der allgemeinen Vertragslehre erforderlichen übereinstimmenden Willenserklärungen ersetzte, trugen aber in der Abwicklung Züge eines Vertragsverhältnisses (vgl. dazu allgemein Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 135 ff.; Palandt/Heinrichs, 8. Aufl., vor § 145 Rn. 8; für ein aktuelles Beispiel vgl. Röhl, Die Regulierung der Zusammenschaltung, S. 229 ff. m.w.Nw.). Ob allerdings tatsächlich die beschriebenen Einflussmöglichkeiten auf Arbeitsplatz, Art und Ausgestaltung der Arbeit bzw. der Entlohnung jeweils für sich genommen oder in ihrer Summierung ausreichen, um den Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zu erfüllen, oder ob sie nicht nur als "Wahl" zwischen verschiedenen Formen von Zwangsarbeit zu qualifizieren sind, erscheint zweifelhaft. Auch wenn das Bild einer ausschließlich einseitigen Zuweisung jüdischer Arbeitskräfte in maßgeblich von hoheitlichen Eingriffen geprägte Arbeitsverhältnisse, auf die der Einzelne keinerlei Einfluss hatte, differenzierter gezeichnet werden muss, liefert jedenfalls die Verordnungslage zumindest für Arbeiten außerhalb der Werkstätten des Judenrats zumeist ein Indiz gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss.
So hat die Klägerin zwar geschildert, wie sie sich nach dem Ende der Bauarbeiten auf dem Flugplatz bei der Arbeitsverwaltung des Ghettos um eine neue Tätigkeit bemüht hat und bei der Holzproduktion gefunden hat; insbesondere ist es ihr nach ihrer glaubhaften Schilderung später gelungen, mit der Hilfe ihrer Mutter erneut die Arbeitsstelle zu wechseln und in einem Wäschereibetrieb unterzukommen. Ob allerdings solche auf Zufall und persönlichen Beziehungen beruhenden Handlungsspielräume des Einzelnen bereits ausreichen, um einen eigenen Willensentschluss im Sinne des ZRBG begründen, erscheint nicht zwingend. Zudem spricht auch das Fehlen elementarster Sicherheitsstandards bei der Produktion von "U" gegen den Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses.
3. Letztlich kann die Frage, ob die Klägerin bei einer oder allen drei der von ihr angegebenen Arbeiten noch aus eigenem Willensentschluss tätig geworden ist, aber dahinstehen. Denn es fehlt jedenfalls an einer Beschäftigung gegen Entgelt im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b ZRBG.
Mit dem Kriterium der Entgeltlichkeit wollte der ZRBG-Gesetzgeber an der grundsätzlichen Abgrenzung von Beschäftigungsverhältnissen im Sinne der deutschen Sozialversicherung von nicht versicherter Zwangsarbeit festhalten, wie sie die Ghetto-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorgezeichnet hat (Bundestagsdrucksachen – BT-Drs. – 14/8583, 1, 5 und 14/8602, 1, 5; im Einzelnen LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007 – L 8 R 74/05, Juris Rz. 44). Unverzichtbares Indiz für den Typus einer solchen vom ZRBG erfassten Beschäftigung bildet ein Entgelt, das mittelbar oder unmittelbar als Gegenleistung für die geleistete Arbeit gezahlt wird. Eine Beschäftigung in diesem Sinne muss – auch vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in den Ghettos – noch maßgeblich vom abredegemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte in einer Gegenseitigkeitsbeziehung geprägt sein (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997 – 5 RJ 66/95 zum Ghetto Lodz, Juris Rz. 17; Urteil vom 07.10.2004 – B 13 RJ 59/03 R, Juris Rz. 51; Senat, Urteil vom 15.09.2006 – L 13 R 69/06). Die Gegenleistung (Lohn) braucht nicht gleichwertig mit der erbrachten Arbeitsleistung sein, darf dazu aber andererseits auch nicht völlig außer Verhältnis stehen (Senat, Urteil vom 01.09.2006 – L 13 R 27/06). Es genügt nicht, wenn sie ersichtlich keinem Austausch wirtschaftlicher Werte, sondern nur noch der notdürftigen Ernährung des Arbeitenden zur Erhaltung seiner Arbeitskraft dient (Senat, Urteil vom 05.09.2006, L 13 R 69/06; vgl. bereits BSG, Urteil vom 10.04.1979 – 1 RA 95/78, Sozialrecht 5070 § 14 Nr. 9, S. 26 zum Ghetto Tarnow), selbst wenn die Arbeitenden zum Ausgleich ihres Kalorienmehrbedarfs aufgrund körperlicher Betätigung mehr erhalten als andere Ghettobewohner (Senat, Urteil vom 08.12.2006 – L 13 R 144/06). Denn eine solche Ernährung allein zum Erhalt der Arbeitskraft ist typisch für Zwangsarbeit – schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die Arbeitskraft der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet (LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007 – L 8 R 74/05 Rz. 49; Senat, Urteil vom 14.12.2007 – L 13 R 84/07); sie lässt sich nicht mehr unter den Typus einer "entlohnten" Beschäftigung fassen, wie ihn der Gesetzgeber des ZRBG vor Augen hatte (vgl. BT-Plenarprotokoll 14/233, S. 23279, 23280).
Entgelt im Sinne des ZRBG liegt zudem nur vor, wenn die Gegenleistung den Umfang freien Unterhalts im Sinne des § 1227 RVO a.F. übersteigt. Freier Unterhalt ist das Maß an Wirtschaftsgütern, das der Arbeitnehmer unmittelbar braucht, um seine notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Bei Gewährung von Lebensmitteln ist daher zu prüfen, ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Gebrauch oder Verbrauch oder vorbestimmt zur beliebigen Verfügung gegeben werden (Senat, Urteil vom 01.09.2006 – L 13 R 27/06 m.w.Nw. der Rechtsprechung des BSG).
Danach spricht vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in Litauen im Falle der Klägerin mehr dafür, dass die von ihr für ihre Arbeit bei der Holzverarbeitung und in der Wäscherei regelmäßig bezogenen Coupons – Geld hat die Klägerin nach eigenem Bekunden nicht erhalten – kein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b ZRBG darstellten. Die von der Klägerin wahrscheinlich bezogenen Nahrungsmittelrationen für arbeitende Ghettobewohner in Litauen waren zwar doppelt so hoch wie für nicht arbeitende und verbesserten damit die Lebenssituation der Empfänger erheblich. Die Ration für Arbeitende entsprach andererseits nur der normalen Ration der Bevölkerung außerhalb des Ghettos. Das den Beteiligten bekannte Gutachten der historischen Sachverständigen Frau Hansen (vom 16.09.2008 für das SG Hamburg) nennt als Satz für Arbeiter in den Ghettos in Litauen pro Woche 1700 g Brot, 175 g Fleisch 50 g Grütze/Nahrungsmittel 10 g Salz und 5 g Kaffeezusatz. Der Senat geht davon aus, dass Nahrungsmittel dieser Art und Menge allenfalls zum Überleben reichte und keinesfalls über den Umfang freien Unterhalts hinausging. Die Angaben der Klägerin bei ihrer Anhörung in Israel bestätigten diese Einschätzung. Sie hat die empfangenen Nahrungsmittel, deren Zusammensetzung im Übrigen der von Frau Hansen genannten entspricht, ausdrücklich als "Hungerlohn" bezeichnet. Es sei nicht genug gewesen, sondern habe nur gereicht, um den Hunger zu stillen. Ihre als Zeugin vernommene Schwester hat bestätigt, sie hätten "nicht viel" bekommen; die Frage, ob die Nahrungsmittel zum Tauschen gereicht hätten, hat sie- ebenso wie die klägerin – verneint. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Dr. Tauber in seinem Gutachten vom 03.09.2007 die Wochenration in Vilnius für die nichtjüdische Bevölkerung mit 1800 g Brot, 200 g Fleisch, 100 g Butter, 50 g Zucker, 400 g Mehl, 150 g Graupen und 50g Salz angegeben hat. Diese Ration lag, vor allem was den Fettanteil anbelangt, also noch deutlich über der Ration für arbeitende Ghettobewohner. Gegen den Entgeltcharakter der empfangenen Nahrungsmittel spricht weiter, dass ihre Menge nach Aussage des Gutachters – anders als im Fall der Zahlung von Barlohn, den die Klägerin nicht behauptet hat – nicht nach Alter, Geschlecht oder Arbeitsleistung differenziert wurde. Ein Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Gegenleistung lässt sich insoweit nicht feststellen. In diese Richtung deutet auch die Verordnungslage, die ausdrücklich festlegte, dass der Lohn der Arbeiter nicht der Arbeitsleistung entsprechen, sondern nur ihrem notdürftigen Lebensunterhalt dienen sollte. Dem entspricht es, dass die Hälfte der von den Arbeitgebern abzuführenden Löhne in die Kasse des Gebietskommissars floss. In einer solchen teilweisen Vorenthaltung des Entgelts liegt ein weiteres Indiz, das Zweifel am Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nährt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Revision hat der Senat mit Blick auf den von der Rechtsprechung des BSG nach wie vor ungeklärten Entgeltbegriff nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Erstellt am: 23.04.2009
Zuletzt verändert am: 23.04.2009