Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.01.2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG wegen Beschäftigungen von Juli 1941 bis August 1943 in den Ghettos Widze, Swieciany und Wilna (Litauen).
Der 1920 geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Er lebt in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit. Der Kläger ist als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt.
Im Verfahren nach dem BEG gab er 1966 an, er sei im Ghetto Widze im Juli 1941 bis zum Januar 1943, im Ghetto Swieciany von Januar 1943 bis März 1943 und von März 1943 bis August 1943 in Wilna inhaftiert gewesen.
Im Verfahren um eine Entschädigung nach dem Art. 2-Fonds der Claims Conference gab der Kläger im April 1995 an, er habe von 1941 bis Januar 1943 im Ghetto Widze unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt, als man ihn zuerst ins Ghettos Swieciany und später ins Ghetto Vilnius überführt habe. Die ganze Zeit habe er auch schwerste Zwangsarbeit geleistet.
Mit Schriftsatz vom 29.10.2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente unter Hinweis auf die- Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarma- chung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Zur Begründung gab er an, er habe außerhalb verschiedener Ghettos (Ghetto Widze von Juli 1941 bis Januar 1943, Ghetto Swieciany von Januar 1943 bis März 1943 und Ghetto Wilna von März 1943 bis August 1943) gearbeitet. Im Ghetto Widze habe er in einer Werkstatt Filzstiefel angefertigt. Sie hätten Filz aus Wolle hergestellt. In den beiden anderen Ghettos habe er Wohnungen deutscher Soldaten gereinigt. Nicht auf dem Weg, aber während der Arbeit sei er von deutschen Soldaten und lokaler Polizei bewacht worden. Für die Arbeit, die ihm vom Judenrat vermittelt worden sei, habe er Lebensmittelkarten erhalten. Sie hätten gearbeitet, um nicht ins KZ geschickt zu werden. Die Fragen nach dem Erhalt von Barlohn und Sachbezügen verneinte der Kläger.
Mit Bescheid vom 15.09.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Sie führte zur Begründung aus, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, etwa der Bewa chung des Klägers während der Arbeit, habe es sich bei den behaupteten Tätigkeiten um Zwangsarbeit gehandelt.
Dagegen erhob der Kläger rechtzeitig Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2004 zurückwies.
Am 02.12.2004 hat der Kläger Klage erhoben. Er habe sich in den drei Ghettos über die Verwaltung des Judenrates freiwillig verschiedene Tätigkeit als Arbeiter gesucht. Er habe für die Tätigkeit einen Lohn in Form von Sachbezügen und Lebensmittelkarten erhalten. Das empfangene Entgelt habe die geforderte Geringfügigkeitsgrenze überstiegen. Angaben über eine freiwillige Arbeitsaufnahme und Entlohnung seien im Entschädigungsverfahren nicht abgefragt worden und ohne Bedeutung gewesen. Die Entlohnung habe eine wesentliche Gegenleistung für die geleistete Arbeit dargestellt und sei von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung gewesen. Daher sei sie über den Umfang freien Unterhalt hinausgegangen.
Die Beklagte hat dem entgegengehalten, dass die Entlohnung durch Lebensmittelkarten nicht das Merkmal der Entgeltlichkeit erfülle.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 11.01.2006 hat das Sozialgericht die auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten von Juli 1941 bis August 1943 gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass er entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1lit b ZRBG tätig geworden sei. Dem stehe § 1227 RVO a.F. entgegen, weil nichts dafür spreche, dass der Kläger mittels der Lebensmittelkarten Naturalien in einem Umfang und einer Regelmäßigkeit bezogen habe, der über das für die Selbstversorgung erforderliche Maß hinausgegangen sei. Substantiiert vorgetragen habe der anwaltlich vertretene Kläger dies nicht.
Überdies sei auch ein freies Beschäftigungsverhältnis nicht überwiegend wahrscheinlich, weil der Kläger von Bewachung bei der Arbeit berichtet habe. Zudem habe er im Verfahren vor der Jewish Claims Conference von schweren Zwangsarbeiten gesprochen; dies entspreche den im BEG-Verfahren beigebrachten Zeugenaussagen. Mit seiner rechtzeitig eingelegen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er führt aus, im Reichskommissariat Ostland sei die Entlohnung für Jude von den Gebiets Kommissaren festgelegt worden. Allein dieser Entgeltanspruch führe zu einem Rentenanspruch. Die Angaben im Entschädigungsverfahren seien von anderen Zwecken geprägt gewesen. Mit schriftlicher Erklärung vom 5.9.2006 hat der Kläger angegebenen, er habe als Bewohner des Ghettos Widze bis Januar 1943 außerhalb des Ghettos in einer Werkstatt für Filzstiefeln gearbeitet. In beiden Ghettos habe er freiwillig Reinigungsarbeiten geleistet. Für die Lebensmittelkarten habe er in die Lebensmittellagern Lebensmittel erhalten. Tätigkeiten für die Ghettoverwaltung seien eindeutig keine Zwangsarbeiter gewesen. Die Versuche der Judenräte über in Eigenregie betriebene Handwerksbetriebe in und außerhalb des Ghettos das Überleben zu sichern, seien vielfach bezeugt. Der Kläger beantragt schriftsätzlich, unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.1.2006 und unter Aufhebung des Bescheides vom 15.9.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 30.11.2004 die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Versicherungsunterlage über die Tätigkeit nach dem ZRBG herzustellen und die Regelaltersrente ab 01.07.1997 mit der Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Maßgebend für die Beurteilung von Arbeitszeit nach dem ZRBG seien jeweils die Umstände des Einzelfalls. Aus dem Gutachten ergäben sich keine wesentlichen neuen Erkenntnisse. Ein Entgeltzahlung direkt an den Judenrat, der dann wiederum entschieden habe, ob und in welcher Form diese Entgeltzahlung an die betroffenen Arbeitnehmer weitergeleitet wird, reiche für eine Entgeltlichkeit nicht aus. Rentenversicherungspflicht entstehe nur dann, wenn das Entgelt den Beschäftigten persönlich zufließe. Die Abführung von Beiträgen des Arbeitgebers für geleistete Arbeit an Dienststellen des Staates oder an andere Stellen stelle keine Entlohnung dar (unter Berufung auf BSG Urteil vom 10.12.1974 – 4 RJ 379/73). Auch die Verordnung vom 18.08.1941 über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung in Reichskommissariat Ostland stehe einem entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis auf freiwilliger Basis entgegen (unter Hinweis auf LSG NRW, Urteil vom 13.1.2006 – L 4 RJ 113/04). Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Historikers Dr. Tauber vom 16.1.2007. Danach verfügt der Gutachter über keine unmittelbaren Erkenntnisse zu der vom Kläger erwähnten Filzstiefelwerkstatt. Ihre Existenz könne jedoch aufgrund der deutschen Wirtschaftspolitik im Generalskommissariat Weißrussland als überwiegend wahrscheinlich angesehen werden (wird ausgeführt, Blatt 58ff Gerichtsakte). Auch die Vermittlung des Klägers durch den Judenrat in Arbeit entspreche den Gegebenheiten in den Ghettos. Der Wert der als Gegenleistung empfangenen Nahrungsmittel sei weit über freien Unterhalt hinausgegangen und nicht als geringfügige Leistung zu betrachten. Soweit die schwierige Quellenlage es gestatte, sei die Darstellung des Klägers zu seinen Beschäftigungsverhältnissen völlig glaubhaft. Alle allgemeinen Angaben zu den Ghettos stimmten mit den historischen Kenntnissen überein. Der Senat hat den Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung zu den historischen Umständen des Arbeitseinsatzes jüdischer Ghettoinsassen im "Reichskommissariat Ostland" befragt (Bl. 119ff. GA). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungs- und die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne den Kläger und seinen Prozessbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil die ordnungsgemäß zugestellte Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen und Anlass zur Vertagung nicht bestanden hat, § 110 Abs. 1 S. 2 SGG.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Regelaltersrente, weil er keine nach § 35 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt hat. Insbesondere die Anerkennung fiktiver Pflichtbeitragszeiten nach §§ 1,2 ZRBG kann der Klägerin nicht verlangen. Der Senat hält es weiterhin nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass er aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt beschäftigt gewesen ist, § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a und b ZRBG.
1.
Noch nicht entscheidend gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss im Sinne des ZRBG spricht die Bezeichnung der von Kläger verrichteten Arbeiten als "Zwangsarbeit" oder "schwere Zwangsarbeit" in den Entschädigungsverfahren nach dem BEG beziehungsweise vor der Jewish Claims Conference. Es ist bereits unklar, auf welche Tätigkeiten sich diese Bezeichnung bezieht und ob sie mit denen im Rentenverfahren geltend gemachten identisch sind.
2.
Auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber hegt der Senat indes bereits ernsthafte Zweifel daran, ob es im Reichskommissariat Ostland außerhalb der Ghettos überhaupt Tätigkeiten aus eigenem Willensentschluss gegeben hat, oder ob nicht insoweit in der Regel von Zwangsarbeit auszugehen ist.
Zwangsarbeit ist von dem in §§ 1 bis 3 ZRBG beschriebenen Typus des freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses, das sich auf einen vereinbarungsgemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte (Arbeit gegen Lohn) richtet, in wertender Betrachtung nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss v. 20.05.1996 – 1 BvR 21/96 SozR 3 – 2400 § 7 Nr. 11 Rn. 11) abzugrenzen. Eine Arbeit ist umso eher Zwangsarbeit, als sie von hoheitlichen Eingriffen geprägt wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, wie etwa Bewachung während der Arbeit zur Fluchtverhinderung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit am Ort der Arbeitsstätte, einseitige Zuweisung an bestimmte Arbeitgeber, Vorenthaltung von Entgelt (vgl. BSG, Urteil vom 14.07.1999, B 13 RJ 71/99 R m.w.Nw), Misshandlungen oder Missachtung elementarer Arbeitsstandards zum Schutz von Leben und Gesundheit.
Schon die Verordnungslage im Reichskommissariat Ostland, in dessen Gebiet die vom Kläger genannten Ghettos lagen, spricht auf den ersten Blick generell eher gegen die Möglichkeit von Beschäftigungsverhältnissen aus eigenem Willensentschluss. Alle Juden zwischen dem 14. und 60. Lebensjahr unterlagen nach der "Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung" des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete vom 16.08.1941 dem Arbeitszwang, der mit Zuchthaus und ggf. sogar der Todesstrafe durchgesetzt werden kobgbnnte. Nach den "Vorläufigen Richtlinien für die Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland" vom 02. 08.1941 waren die arbeitsfähigen Juden nach Bedarf zur "Zwangsarbeit" heranzuziehen. Ihre Vergütung hatte nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur dazu zu dienen, den notdürftigen Lebensunterhalt der Zwangsarbeiter und ihrer nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder zu sichern. Die privaten Einrichtungen und Personen, zu deren Gunsten die Zwangsarbeit erfolgte, hatten ein "angemessenes Entgelt" an die Kasse des Gebietskommissars zu zahlen, der wiederum die Vergütung an die Zwangsarbeiter auszahlen sollte. Der Erlass des Reichskommissars Ostland, Abteilung Finanzen, vom 27.08.1942 zur Verwaltung der jüdischen Ghettos behandelt die Ausnutzung der "Arbeitskraft der Juden" als "Vermögensverwaltung" und beschreibt die Nutzung der jüdischen Arbeitskraft als "Vermietung" durch das örtlich zuständige Arbeitsamt und spricht von der "Zuweisung" der "angeforderten" Juden an den Arbeitgeber. Für die "Miete" von Facharbeitern war der "übliche Lohn" zu zahlen. Dieser "Lohn" wurde aber ersichtlich nicht als (individuelle) Gegenleistung für die verrichtete Arbeit angesehen, vielmehr sollte mit der Zahlungspflicht vermieden werden, "dass der Unternehmer aus der Beschäftigung von Juden zusätzliche Vorteile zieht". Der Erlös sollte laut Erlass in den Haushalt des Reichskommissars fließen.
Auf der Grundlage dieser rechtlichen Konstruktion der "Vermietung" von Arbeitskräften auf der Grundlage behördlicher Zuweisung, die eine Beschäftigung in freien Arbeitsverhältnissen wie im so genannten Generalgouvernement an sich nicht ausdrücklich vorsah, drängt sich auf, dass jedenfalls Beschäftigungsverhältnisse von Ghettoinsassen mit Arbeitgebern außerhalb des Ghettos derart durch hoheitliche Eingriffe begründet und geprägt gewesen sind, dass sie keine ausreichende Ähnlichkeit mit dem Typus des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses mehr aufweisen konnten (in diesem Sinne ausführlich LSG NRW, Urteil vom 12.5.2006 – L4 RJ 123/04 Juris "öffentlich-rechtlich organisierte Dienstverschaffung"; zuletzt vergleichbar LSG NRW, Urt. v. 16.02.2009 – L 3 R 214/08). Dafür lässt sich auch der grundsätzlich bestehende Arbeitszwang für jüdische Ghettobewohner anführen. Die vom Sachverständigen in seinem Gutachten vom 22.11.2005 beispielhaft für das Ghetto Schaulen geschilderte Aufforderung der deutschen Ghettoverwaltung an den Judenrat, aus einer "inaktiven" Reservekolonne von 1000 Personen weitere 500 Personen für Arbeitseinsätze zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass dieser Arbeitszwang bei Bedarf auch durchgesetzt wurde.
Auf der der anderen Seite ist allerdings auch nicht zu verkennen, dass die genannten Vorschriften nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber in der mündlichen Verhandlung zwar den Rahmen für die jüdische Arbeitsleistung bildeten, jedoch – insbesondere was die Lohnzahlung anbelangt – unterschiedlich gehandhabt wurden und auch Umsetzungsspielräume ließen. Einerseits musste der Judenrat als Scharnier zwischen den rechtlosen Ghettoinsassen und der allmächtigen deutschen Verwaltung Anforderungen von Arbeitskräften durch das deutsche Arbeitsamt unbedingt erfüllen. Für die Ghettobewohner bestand Arbeitspflicht, die – wenn auch mit vergleichsweise milden Sanktionen – vom Judenrat durchgesetzt wurde. Andererseits verfügte der Judenrat bei der Zuordnung einzelner Ghettobewohner zu den zu besetzenden Arbeitsstellen über einen gewissen Handlungsfreiraum, etwa bei der Zuteilung von Bewerbern je nach Qualifikation zu bestimmten Arbeitsplätzen.
Den Umsetzungsspielräumen der Arbeitsverwaltung des Judenrates entsprachen Wahlmöglichkeiten der Arbeiter, die ihre Arbeitsstelle in gewissen Umfang auswählen und wieder wechseln konnten, wenn sie sich auch der endgültigen Zuweisung an einen Arbeitsplatz nicht einseitig entziehen konnten. Ferner gab es "arbeitslose" Ghettobewohner. Der Gutachter hat dem Senat auch historische Beispiele für die Möglichkeit der Arbeitenden genannt, zumindest in Randbereichen auf die Arbeitsbedingungen wie Dauer von Arbeitspausen und die Form der Entlohnung (Lebensmittel statt Bargeld) Einfluss zu nehmen (wenn diese Einflussmöglichkeit ersichtlich auch von den individuellen Beziehungen zwischen dem jeweiligen Brigadier und dem "Arbeitgeber" abhängig war). Möglicherweise näherten sich Beschäftigungsverhältnisse von Ghettobewohnern auf diese Weise – zumindest in Ausnahmefällen – sogar der in der Kriegswirtschaft weit verbreiteten Rechtsform "diktierter" Verträge an. Solche Verträge entstanden zwar durch Hoheitsakt, der als Rechtsgrund die nach der allgemeinen Vertragslehre erforderlichen übereinstimmenden Willenserklärungen ersetzte, trugen aber in der Abwicklung Züge eines Vertragsverhältnisses (vgl. dazu allgemein Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 135 ff.; Palandt/Heinrichs, 8. Aufl., vor § 145 Rn. 8; für ein aktuelles Beispiel vgl. Röhl, Die Regulierung der Zusammenschaltung, S. 229 ff. m.w.Nw.). Ob allerdings tatsächlich die beschriebenen Einflussmöglichkeiten auf Arbeitsplatz, Art und Ausgestaltung der Arbeit bzw. der Entlohnung jeweils für sich genommen oder in ihrer Summierung ausreichen, um den Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zu erfüllen, oder ob sie nicht nur als "Wahl" zwischen verschiedenen Formen von Zwangsarbeit zu qualifizieren sind, erscheint zweifelhaft. Auch wenn das Bild einer ausschließlich einseitigen Zuweisung jüdischer Arbeitskräfte in maßgeblich von hoheitlichen Eingriffen geprägte Arbeitsverhältnisse, auf die der Einzelne keinerlei Einfluss hatte, differenzierter gezeichnet werden muss, liefert jedenfalls die Verordnungslage zumindest für Arbeiten außerhalb der Werkstätten des Judenrats zumeist ein Indiz gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss.
3.
Letztlich kann die Frage, ob der Kläger bei seinen Beschäftigungen aus eigenem Willensentschluss tätig war, aber dahinstehen, weil jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich ist, dass er dafür ein Entgelt im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b ZRBG erhalten hat.
Mit dem Kriterium der Entgeltlichkeit wollte der ZRBG-Gesetzgeber an der grundsätzlichen Abgrenzung von Beschäftigungsverhältnissen im Sinne der deutschen Sozialversicherung von nicht versicherter Zwangsarbeit festhalten, wie sie die Ghetto-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorgezeichnet hat (Bundestagsdrucksachen – BT-Drs. – 14/8583, 1, 5 und 14/8602, 1, 5; im Einzelnen LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007 – L 8 R 74/05, Juris Rz. 44). Unverzichtbares Indiz für den Typus einer solchen vom ZRBG erfassten Beschäftigung bildet ein Entgelt, das mittelbar oder unmittelbar als Gegenleistung für die geleistete Arbeit gezahlt wird. Eine Beschäftigung in diesem Sinne muss – auch vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in den Ghettos – noch maßgeblich vom abredegemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte in einer Gegenseitigkeitsbeziehung geprägt sein (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997 – 5 RJ 66/95 zum Ghetto Lodz, Juris Rz. 17; Urteil vom 07.10.2004 – B 13 RJ 59/03 R, Juris Rz. 51; Senat, Urteil vom 15.09.2006 – L 13 R 69/06). Die Gegenleistung (Lohn) braucht nicht gleichwertig mit der erbrachten Arbeitsleistung sein, darf dazu aber andererseits auch nicht völlig außer Verhältnis stehen (Senat, Urteil vom 01.09.2006 – L 13 R 27/06). Es genügt nicht, wenn sie ersichtlich keinem Austausch wirtschaftlicher Werte, sondern nur noch der notdürftigen Ernährung des Arbeitenden zur Erhaltung seiner Arbeitskraft dient (Senat, Urteil vom 05.09.2006, L 13 R 69/06; vgl. bereits BSG, Urteil vom 10.04.1979 – 1 RA 95/78, Sozialrecht 5070 § 14 Nr. 9, S. 26 zum Ghetto Tarnow), selbst wenn die Arbeitenden zum Ausgleich ihres Kalorienmehrbedarfs aufgrund körperlicher Betätigung mehr erhalten als andere Ghettobewohner (Senat, Urteil vom 08.12.2006 – L 13 R 144/06). Denn eine solche Ernährung allein zum Erhalt der Arbeitskraft ist typisch für Zwangsarbeit – schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die Arbeitskraft der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet (LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007 – L 8 R 74/05 Rz. 49; Senat, Urteil vom 14.12.2007 – L 13 R 84/07); sie lässt sich nicht mehr unter den Typus einer "entlohnten" Beschäftigung fassen, wie ihn der Gesetzgeber des ZRBG vor Augen hatte (vgl. BT-Plenarprotokoll 14/233, S. 23279, 23280).
Entgelt im Sinne des ZRBG liegt zudem nur vor, wenn die Gegenleistung den Umfang freien Unterhalts im Sinne des § 1227 RVO a.F. übersteigt. Freier Unterhalt ist das Maß an Wirtschaftsgütern, das der Arbeitnehmer unmittelbar braucht, um seine notwendigen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Bei Gewährung von Lebensmitteln ist daher zu prüfen, ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Gebrauch oder Verbrauch oder vorbestimmt zur beliebigen Verfügung gegeben werden (Senat, Urteil vom 01.09.2006 – L 13 R 27/06 m.w.Nw. der Rechtsprechung des BSG).
Danach spricht vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in Litauen beim Kläger mehr dafür, dass er für seine Arbeit ikein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b ZRBG erhalten hat.
Der Kläger hat im Rentenverfahren eine Entlohnung durch Lebensmittelkarten geltend gemacht, ohne den Umfang der darauf empfangenen Nahrungsmittel näher zu beschreiben. Die von seinem Prozessbevollmächtigten auf Nachfrage des Senats zuletzt mit Schriftsatz vom 07.05.2008 im Namen des Klägers aufgestellte Behauptung, dieser habe nicht hungern müssen und sogar genug Nahrungsmittel gehabt, um sie gegen andere Dinge zu tauschen, sieht der Senat nicht als überwiegend wahrscheinlich an. Nach den Angaben des Sachverständigen Dr. Tauber waren die von arbeitenden Ghettobewohnern im Reichskommissariat Ostland empfangene Lebensmittelrationen zwar doppelt so hoch wie für nicht arbeitende Ghettobewohner und verbesserten damit die Lebenssituation der Empfänger erheblich. Die Ration für Arbeitende entsprach andererseits nur der normalen Ration der Bevölkerung außerhalb des Ghettos. Das den Beteiligten bekannte Gutachten der historischen Sachverständigen Frau Hansen (vom 16.09.2008 für das SG Hamburg) nennt als Satz für Arbeiter in den Ghettos in Litauen pro Woche 1700 g Brot, 175 g Fleisch 50 g Grütze/Nahrungsmittel 10 g Salz und 5 g Kaffeezusatz. Der Senat geht davon aus, dass Nahrungsmittel dieser Art und Menge allenfalls zum Überleben reichten und keinesfalls über den Umfang freien Unterhalts hinausgingen. Bei der zuletzt von seinem Prozessbevollmächtigten übermittelten Angabe des Klägers dürfte es sich daher um ein gesteigertes und verfahrensangepasstes Vorbringen handeln, zumal er im Rentenverfahren zunächst den Erhalt von Sachbezügen verneint hatte. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Dr. Tauber in seinem Gutachten vom 03.09.2007 die Wochenration in Vilnius für die nichtjüdische Bevölkerung mit 1800 g Brot, 200 g Fleisch, 100 g Butter, 50 g Zucker, 400 g Mehl, 150 g Graupen und 50g Salz angegeben hat. Diese Ration lag, vor allem was den Fettanteil anbelangt, also noch deutlich über der Ration für arbeitende Ghettobewohner.
Gegen den Entgeltcharakter der empfangenen Nahrungsmittel spricht weiter, dass ihre Menge nach Aussage des Sachverständigen – anders als im Fall der Zahlung von Barlohn, den der Kläger nicht behauptet hat – nicht nach Alter, Geschlecht oder Arbeitsleistung differenziert wurde. Ein Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Gegenleistung lässt sich insoweit nicht feststellen. In diese Richtung deutet auch die Verordnungslage, die ausdrücklich festlegte, dass der Lohn der Arbeiter nicht der Arbeitsleistung entsprechen, sondern nur ihrem notdürftigen Lebensunterhalt dienen sollte. Dem entspricht es, dass die Hälfte der von den Arbeitgebern abzuführenden Löhne in die Kasse des Gebietskommissars floss. In einer solchen teilweisen Vorenthaltung des Entgelts liegt ein weiteres Indiz, das Zweifel am Typus eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nährt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Revision hat der Senat mit Blick auf den von der Rechtsprechung des BSG nach wie vor ungeklärten Entgeltbegriff nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Erstellt am: 15.05.2009
Zuletzt verändert am: 15.05.2009