Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 02.09.2009 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Das Versorgungsamt L hatte bei der 1934 geborenen Klägerin, bei der die Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Berechtigung einer ständigen Begleitung) zuvor bereits zuerkannt worden waren, zuletzt durch Bescheid vom 24.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2006 den Grad der Behinderung (GdB) mit 80 festgestellt und gleichzeitig die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" verneint. Die beim Sozialgericht Köln (SG) unter dem Aktenzeichen S 8 SB 91/06 auf die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" geführte Klage nahm sie in Ansehung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zurück.
Am 07.03.2008 beantragte die Klägerin neben der Feststellung eines höheren GdB auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und erneut "RF". Nach Auswertung der eingeholten Befundberichte hob der Beklagte mit Bescheid vom 16.05.2008 den GdB auf 90 an, verneinte aber nach wie vor die Voraussetzungen für die beantragten Merkzeichen. Bei dieser Entscheidung berücksichtigte er folgende Gesundheitsstörungen:
I. Verschleißerscheinungen und Verbiegung im Bereich der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenvorfälle (GdB 50)
II. Verschleißerscheinungen der großen und kleinen Gelenke, Reizzustände, Fehlstellung der Beingelenke, rheumatische Beschwerden (GdB 50)
III. Visusminderung, grauer Star, Gesichtsfelddefekte (GdB 30)
IV. Bluthochdruck, Herzrhythmusstörung (GdB 20).
Der von der Klägerin (allein) gegen die Ablehnung der Zuerkennung des Merkzeichens "RF" eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Münster vom 28.08.2008 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 19.09.2008 Klage beim SG erhoben und geltend gemacht, sie sei wegen der körperlichen Beeinträchtigungen ständig an das Haus gebunden sei und könne an öffentlichen Veranstaltungen dauerhaft nicht mehr teilnehmen. In der mündlichen Verhandlung hat sie angegeben, sie sei noch im Stande, regelmäßig die behandelnden Ärzte aufzusuchen, gelegentlich mit ihrer Tochter Einkaufsfahrten mit dem PKW zu tätigen und in der Nachbarschaft an Feierlichkeiten teilzunehmen. Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin, psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. E. Der Sachverständige hat in dem Gutachten vom 12.01.2009 bei der Klägerin neben den im Verwaltungsverfahren bereits berücksichtigten Beeinträchtigungen eine geringgradige Schwerhörigkeit beidseits diagnostiziert. Bei Zimmerlautstärke habe sie, die nach eigenen Angaben die ihr seit 11/2008 beidseitig verschriebenen Hörgeräte hauptsächlich (nur) beim Fernsehen trage, den Sachverständigen auch ohne Hörgeräte verstanden. Ihr Sehvermögen sei mit Gleitsichtbrille unauffällig. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" hat er verneint. Durch die orthopädischen Schädigungen sei die Klägerin zwar beim Gehen beeinträchtigt, jedoch könne sie öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe eines Rollators und einer Begleitperson aufsuchen.
Gestützt auf die medizinische Beurteilung des Sachverständigen Dr. E und die Einlassungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hat das SG die Klage durch Urteil vom 02.09.2009 abgewiesen.
Gegen das ihr am 17.09.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.10.2009 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, ihr stehe wegen ihres schlechten, mit einem GdB von 90 bewerteten Gesundheitszustandes und der Schmerzen im ganzen Körper das Merkzeichen "RF" zu. Telefonisch hat die Klägerin der Geschäftsstelle des erkennenden Senats am 19.02.2010 mitgeteilt, dass sie – neben dem Merkzeichen "RF" – weiterhin auch den Nachteilsausgleich "aG" begehre.
Die Klägerin, die zum Termin nicht erschienen ist, beantragt – sinngemäß -,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 02.09.2009 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 16.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.08.2008 zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "RF" und "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da diese über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert worden und auch auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage auf die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" zu Recht abgewiesen. Der diese Feststellung regelnde Bescheid vom 16.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.08.2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Soweit der (Widerspruchs-)Bescheid (zunächst) rechtswidrig war, da die Bezirksregierung Münster bei Erlass des Widerspruchsbescheides hierfür nicht zuständig war und demzufolge das Vorverfahren gemäß § 78 Abs. 1 SGG nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde (vgl. hierzu im Einzelnen LSG NRW, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 -, in: juris), ist dieser Mangel nachträglich mit Rückwirkung geheilt worden. Denn der durch Art 3 des Gesetzes zur Modernisierung und Bereinigung von Justizgesetzen im Land Nordrhein-Westfalen (JuMoG NRW, GV NRW, 30 ff.) neu eingefügte § 4a AG-SGG NRW bestimmt, dass diese Landesbehörde die Widerspruchsbescheide in den Angelegenheiten nach §§ 69 und 145 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGG) erlässt, die den Kreisen und kreisfreien Städten als kommunale Selbstverwaltung im Sinne des § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 1. Hs. SGG übertragen sind (vgl. LSG NRW a.a.O.). Diese am 08.02.2010 in Kraft getretene Bestimmung regelt die Sonderzuständigkeit im Sinne von 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 2. Hs. SGG rückwirkend ab dem 01.01.2008 (Art 4 JuMoG NRW).
Soweit der Gesetzgeber den Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs vor den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes gelegt hat, begegnet diese sog echte Rückwirkung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie erweist sich hier (ausnahmsweise) als zulässig, da sie eine rein verfahrensrechtliche Regelung betrifft, die die Klägerin letztlich nicht in einer geschützten Rechtsposition tangiert. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Antragsteller bezogen auf die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde hat sich von vornherein schon deshalb nicht herausbilden können, weil (auch) deren Zuständigkeit im Vorfeld und in Vollzug der gesetzlichen Vorgaben zur Auflösung der Versorgungsverwaltung umstritten war (vgl. LSG NRW a.a.O.). Der Gesetzgeber hat nunmehr mit der Einfügung des § 4 a AG-SGG auf die obergerichtliche Klärung der Rechtsfrage reagiert. Eine wesentliche Rechtsposition der Klägerin ist durch die Rückwirkung auch nicht verkürzt worden. Im Falle einer Aufhebung allein des Widerspruchsbescheides wegen Unzuständigkeit der Widerspruchsbehörde wäre bei einer Neuentscheidung nunmehr nach § 4a AG-SGG NRW erneut die Bezirksregierung Münster zuständig (vgl. ausführlich SG Dortmund, Urteil vom 12. Februar 2010 – S 51 (3) SB 205/08 -, in: juris).
In der Sache hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "RF". Das SG hat die entscheidungserheblichen Kriterien zutreffend dargestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin nach Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 7 a) und b) Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RgebStV) weder zum Kreis der Blinden oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderten Personen mit einem GdB von 60 allein wegen der Sehbehinderung noch zu dem der Hörgeschädigten zählt, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist.
So ergeben sich aus dem vom Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Befundbericht des behandelnden Augenarztes W vom 18.03.2008 ("Visus: RA 0.4 und LA 0.6-0.7, Gesichtsfeld: RA diverse unspez. Defekte, LA mäßig gut") und dem diesbezüglichen Befund des Sachverständigen Dr. E in dessen Gutachten vom 12.01.2009 ("Sehvermögen mit Korrektur unauffällig") keine Anhaltspunkte dafür, dass ein (Teil-)GdB von 60 für das Funktionssystem "Augen" auch nur annähernd erreicht werden könnte (vgl. hierzu im Einzelnen die ab dem 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze – VMG -, Teil B, Nr. 4, S. 29 ff.). Auch der im Verfahren S 8 SB 91/06 bestellte Sachverständigen Dr. I hatte in seinem Gutachten vom 15.10.2006 den Störungen im Bereich der Augen nur einen Teil-GdB von 10 zugeordnet.
Die in der Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. E erstmalig erwähnte "geringgradige Schwerhörigkeit" der Klägerin stellt offenkundig keine schwere Beeinträchtigung des Funktionssystems "Ohren" im obigen Sinne dar, insbesondere war im Rahmen der Begutachtung eine Verständigung mit der Klägerin ohne Hörgeräte in Zimmerlautstärke möglich. Des Weiteren ist die Klägerin mit Blick auf die in Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 RgebStV geforderte Unmöglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht damit zu hören, sie könne ohne Schmerzen weder sitzen noch stehen. Die Schmerzzustände sind nach ihren eigenen Angaben jedenfalls nicht so ausgeprägt, dass sie daran gehindert wäre, an geselligen Feierlichkeiten in der Nachbarschaft teilzunehmen. Auch wenn der Klägerin oft nicht Transportmöglichkeiten und/oder Begleitpersonen zur Verfügung stehen sollten, um ihr den Besuch einer (konkreten) öffentlichen Veranstaltung zu ermöglichen, ist dies unbeachtlich. Es kommt allein darauf an, dass sie an öffentlichen Veranstaltungen grundsätzlich teilnehmen kann, wenn sie eine Begleitperson und Transportmittel in Anspruch nimmt.
Soweit die Klägerin nach dem Akteninhalt auch die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" zur gerichtlichen Überprüfung stellt, kann sie hiermit nicht durchdringen. Da sie dieses Begehren in erster Instanz mit keiner Silbe in das Verfahren eingebracht hat; handelt sich insoweit um eine (objektive) Klageerweiterung in zweiter Instanz (§§ 153 Abs. 1, 99 SGG). Für diese sind unabhängig von der Frage nach der Sachdienlichkeit oder Zustimmung des Beklagten die Prozessvoraussetzungen zu prüfen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. (2008), § 99 Rn. 13a). Eine hierauf gerichtete Klage ist weit außerhalb der einmonatigen Klagefrist (§ 87 Abs. 1 SGG) erhoben und somit als unzulässig abzuweisen. Der Bescheid vom 16.05.2008, mit dem die Zuerkennung auch des Merkzeichens "aG" abgelehnt wurde, ist bestandskräftig geworden. Die Klägerin hatte sich mit ihrem Widerspruch ausschließlich gegen die Versagung des Merkzeichens "RF" gewandt, nur über diesen Punkt hat dann die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsbescheid entschieden. Das Vorbringen der Klägerin im gesamten erstinstanzlichen Verfahren bietet keinen Hinweis darauf, dass sie auch die Versagung des Merkzeichens "aG" beanstandet haben könnte, entsprechend waren die Feststellungen im Rahmen der Beweisaufnahme auf die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" beschränkt. Nur ergänzend sei angemerkt, dass sich die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. E ableiten lassen. Insbesondere ergeben sich aus der während der Begutachtung vom Sachverständigen wahrgenommenen und von der Klägerin selbst geschilderten Restmobilität keine Anhaltspunkte dafür, dass sie sich praktisch von den ersten Schritten an außerhalb eines Kraftfahrzeugs nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zumutbar bewegen kann (vgl. BSG zuletzt mit Urteilen vom 29. März 2007, – B 9a SB 5/05 R -, – B 9a SB 1/06 R – und – B 9/9a SB 5/06 R -, in: www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
Erstellt am: 16.06.2010
Zuletzt verändert am: 16.06.2010