Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 04.04.2005 geändert: Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.06.1999 verpflichtet, den Bescheid vom 27.01.1992 zurückzunehmen. Der Bescheid vom 25.11.1999 wird aufgehoben. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 verurteilt, eine "sensible Teilstörung an der Daumenseite des rechten Zeigefingers" als zusätzliche Schädigungsfolge festzustellen. Im Übrigen wird die Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der im Dezember 1940 geborene Kläger übte bis zum Frühjahr 1990 eine selbstständige Erwerbstätigkeit aus; er war und ist nicht krankenversichert. In den frühen Morgenstunden des 28.04.1990 stellte er den inzwischen verurteilten Täter L., als dieser einen Reifen des geparkten Pkw des Klägers mit einem Messer zerstach. Im Handgemenge brachte L. dem Kläger Messerstichverletzungen im Bereich des Kopfes, Halses und Nackens, des Abdomes und der linken Bauchseite sowie an der rechten Hand bei. Der lebensgefährlich verletzte Kläger wurde notfallmäßig versorgt und bis Ende Juni 1990, anschließend noch einmal von Mitte Oktober bis Mitte November 1990 wegen der Verletzungsfolgen stationär behandelt.
Am 30.04.1991 stellte der Kläger erstmalig einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Den Antrag lehnte das beklagte Land (im Folgenden: der Beklagte) durch Bescheid vom 27.01.1992 wegen mangelnder Mitwirkung ab (§ 66 Sozialgesetzbuch I (SGB I)), da der Kläger trotz mehrfacher Aufforderung den übersandten behördlichen Antragsvordruck, eine Meldebescheinigung und eine Vollmacht nicht zur Akte gereicht hatte. Vertreten wurde der Kläger seinerzeit von Rechtsanwalt O aus der Kanzlei O und U in I.
Am 01.01.1995 beantragte der Kläger, diesmal vertreten durch den inzwischen in Alleinpraxis niedergelassenen Rechtsanwalt U, erneut Leistungen nach dem OEG. Vollmacht, behördlicher Antragsvordruck und Meldebescheinigung lagen am 07.07.1995 vor. Nach Auswertung von Behandlungsunterlagen und eines im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens (Dr. X, vom 02.02.1996) stellte der Beklagte durch Bescheid vom 19.02.1996 folgende Schädigungsfolgen fest: "Narben im Bereich der Oberlippe, am Kopf, Hals, an der rechten Hand, am Oberbauch und an der linken Flanke, Teilverlust des Dünndarms und des Netzes. Nierenbeckenplastik links". Die Zahlung einer Rente lehnte er ab, da diese Gesundheitsstörungen keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE; jetzt: Grad der Schädigungsfolgen (GdS)) von wenigstens 25 vom Hundert (v.H.) bedingten. Den Anspruch auf Heilbehandlung erkannte er für die Zeit ab dem 01.01.1995 an, stellte jedoch das Ruhen des Anspruchs nach § 65 Abs. 3 Nr. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) insoweit fest, als aus derselben Ursache voraussichtlich entsprechende Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung durch den Gemeindeunfallversicherungsverband zu erbringen seien.
Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger, der seinem Bevollmächtigten zwischenzeitlich das Mandat entzogen hatte, geltend, der Bescheid vom 27.01.1992 sei ihm nicht zugegangen. Er bezog sich dabei auch auf den folgenden Telefonvermerk des Sachbearbeiters vom 13.12.1996: " … Des Weiteren bittet Herr U um Übersendung einer Kopie des Bescheides über die Versagung von Leistungen. Den Bescheid vom 27.01.1992 habe er nämlich in seinen Akten nicht vorliegen." Die erwünschte Kopie wurde mit (nachträglichem) Einverständnis des Dezernenten vom Sachbearbeiter am 14.12.1996 versandt.
Der Beklagte wies den Widerspruch nach Auswertung weiterer medizinischer Unterlagen durch Widerspruchsbescheid vom 11.09.1997 zurück. Er hielt daran fest, dass der Bescheid vom 27.01.1992 bestandskräftig geworden sei. Ein Rentenanspruch komme aber auch dann nicht in Betracht, wenn der erste Antrag nicht verbraucht sei, denn die Schädigungsfolgen verursachten keine MdE (GdS) in rentenberechtigender Höhe. Im Übrigen verwies er auf den Ruhenstatbestand des § 65 BVG. Etwaige Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung seien Gegenstand eines beim Sozialgericht Dortmund anhängigen Klageverfahrens.
Hiergegen hat der Kläger am 17.09.1997 Klage erhoben, mit der er Leistungen nach dem OEG, insbesondere Heilbehandlung und Zahlung einer Rente auf der Grundlage seines zuerst gestellten Antrags begehrt hat.
Im laufenden Klageverfahren hat der Beklagte durch Bescheid vom 01.07.1998 den angefochtenen Bescheid vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 zur Anordnung des Ruhens des Anspruchs auf Heilbehandlung aufgehoben. Durch Bescheid vom 22.06.1990 hat er den Antrag des Klägers vom 09.06.1999, den Bescheid vom 27.01.1992 nach Maßgabe des § 44 Sozialgesetzbuch X (SGB X) zurückzunehmen, mit der Begründung abgelehnt, die Versagung der Leistungen sei wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers zu Recht erfolgt. Die vom Kläger für die Zeit ab Januar 1995 angemeldeten schädigungsbedingten Heilbehandlungskosten hat er mit Bescheid vom 09.09.1999 in Höhe von 2.987,88 DM übernommen. Den Bescheid vom 27.01.1992 hat er schließlich durch Bescheid vom 25.11.1999 teilweise aufgehoben, da der Kläger die zur Leistungsversagung führende fehlende Mitwirkung am 07.07.1995 nachgeholt habe. Die Bewilligung von Leistungen bereits ab dem Erstantrag in dem für die Zeit ab dem 01.01.1995 zuerkannten Umfang hat er abgelehnt, da weder vorgetragen noch erkennbar sei, dass der Kläger die fehlende Mitwirkung nicht selbst in erheblichem Maße (mit-)verschuldet habe oder dass er wegen der unterbliebenen Leistung hilfebedürftig geworden sei.
Das Sozialgericht hat die Niederschrift über die Sitzung des Landgerichts I vom 05.11.1999 im Verfahren 9 O 270/93 beigezogen, die Ausführungen des dort gehörten Sachverständigen Prof. Dr. T zu Art und Umfang der Schädigungsfolgen enthalten. Weiter hat es Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, das die Chirurgin Dr. E unter dem 24.04.2003 mit ergänzender Stellungnahme vom 21.07.2003 erstattet hat. Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat es die Beweisaufnahme fortgeführt und ein weiteres chirurgisches Gutachten von dem vom Kläger benannten Arzt Dr. B (16.02.2004) eingeholt, zu dem die Sachverständige Dr. E auf Anforderung des Gerichtes unter dem 30.04.2004 Stellung genommen hat. Von Amts wegen hat es schließlich ein weiteres medizinisches Gutachten eingeholt, das der Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. C, Oberarzt am L-krankenhaus E unter dem 19.12.2004 erstattet hat. Die Sachverständigen Dr. E und Dr. C haben über die anerkannten Schädigungsfolgen hinaus keine weiteren Gesundheitsstörungen festgestellt, die mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf die Gewalttat zurückzuführen sein könnten. Die anerkannten Gesundheitsstörungen bedingten einen GdS von (deutlich) weniger als 25. Ausdrücklich sei der sozialmedizinischen Beurteilung des Sachverständigen Dr. B zu widersprechen, der in seinem Gutachten die (anerkannten) Schädigungsfolgen mit einem GdS von 50 (nach Abschluss der körperlichen Behandlungsmaßnahmen) bewertet wissen wollte, eine posttraumatische Belastungsreaktion diagnostiziert und – da er die körperliche und psychomentale Leistungsfähigkeit des Klägers durch die chronische Erkrankung als vollständig aufgehoben erachtet – einen GdS von insgesamt 100 in Ansatz gebracht habe. Die von dem Sachverständigen Dr. B mitgeteilten – nach ihrer Auffassung im Übrigen überbewerteten – Befunde haben die Sachverständigen Dr. E und Dr. C nicht bestätigt; eine posttraumatische Belastungsstörung – so der Sachverständige Dr. C – liege nicht vor, da es an den dafür typischen Beschwerden und mit Blick auf die lange zurückliegende Gewalttat an den erforderlichen Brückensymptomen fehle.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die bei ihm vorliegenden Schädigungsfolgen bedingten einen GdS von 100. Er leide auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Diagnose des Sachverständigen Dr. C, der von einer (schädigungsunabhängigen) Neurose mit Depression und Somatisierung mit querulatorischer Komponente spreche, sei ersichtlich falsch. Die von der Sachverständigen Dr. E vorgenommene Gesamtbewertung, die einen GdS von 20 für die Zeit von April 1991 bis Januar 2003 und einen solchen von 10 ab Februar 2003 vorschlage, sei unzutreffend; den bei ihm bestehenden Beeinträchtigungen werde dadurch nicht ansatzweise Rechnung getragen.
Der Kläger hat beantragt,
das beklagte Land unter Abänderung des Bescheides vom 19.02.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997, des Bescheides vom 01.07.1998, des Bescheides vom 22.06.1999 und des Bescheides vom 25.11.1999 zu verurteilen, Opferentschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere Heilbehandlungskosten ab dem Schädigungsereignis vom 28.04.1990 bis Ende 1994 und Versorgungsrentenleistungen ab dem Schädigungsereignis zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 25.11.1999 verurteilt, über die nachträgliche Erbringung der zwischen dem 30.04.1991 und dem 31.12.1994 angefallenen schädigungsbedingten Heilbehandlungskosten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 25.11.1999 sei wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig. Der Beklagte habe durch den Bescheid vom 27.01.1992 den Leistungsantrag seinerzeit zu Recht wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt. Über die rückwirkende Gewährung habe er, nachdem die erforderliche Mitwirkung nachgeholt worden sei, nach Maßgabe der §§ 66, 67 SGB I nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Wenn der Beklagte bei der Ausfüllung des Ermessensspielraums maßgeblich darauf abgehoben habe, ob den Kläger ein Verschulden an der unterbliebenen Mitwirkung treffe, werde dies nicht von §§ 66, 67 SGB I gedeckt. Die Versagung der Leistungen wegen fehlender Mitwirkung sei in erster Linie ein Druck-, kein Sanktionsmittel. Wenn die Mitwirkung nachgeholt werde, sei entscheidend darauf abzustellen, ob der Bedarf, den die Sozialleistung abdecken sollte, noch bestehe und mit ihr befriedigt werden könne. Dabei sei der Umstand der fehlenden Krankenversicherung ebenso zu berücksichtigen wie die ggf. fortwirkende finanzielle Belastung des Klägers, der die Kosten aus eigenen Mitteln aufgebracht habe. Im Übrigen hat das SG die Rechtauffassung des Beklagten, so wie sie im Bescheid vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 und im Bescheid vom 22.06.1999 zum Ausdruck gekommen ist, bestätigt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme seien zusätzliche Schädigungsfolgen nicht ersichtlich. Der GdS der schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen erreiche nicht 25. Das Sozialgericht hat sich den Einwänden der Sachverständigen Dr. E und Dr. C gegen den Inhalt des Gutachtens des nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. B angeschlossen. Es hat die mitgeteilten Befunde im Einzelnen den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" zugeordnet, die Einschätzung des GdS für jede schädigungsbedingte Gesundheitsstörung nachvollzogen und selbst vorgenommen. Anschließend hat es auf der Grundlage der sozialmedizinischen Beurteilung der Sachverständigen, deren Bewertung es sich zu eigen gemacht hat, den Gesamt-GdS festgesetzt.
Gegen das ihm am 26.04.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24.05.2005 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Das Sozialgericht habe zu Unrecht das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung verneint. Die Auswirkungen der bei ihm vorliegenden Beeinträchtigungen seien nicht hinreichend berücksichtigt worden. Dies gelte auch und vor allem für die Folgen der Nierenoperation. Diese seien wie bei einer Nierentransplantation zu bewerten, denn die Niere habe wegen des zerstörten Harnleiters um einige Zentimeter versetzt neu eingepflanzt werden müssen. Allein deswegen hätte Ende 1992 eine MdE (GdS) von 100 v.H., anschließend eine solche von 50 v.H. zugrundegelegt werden müssen. Darüber hinaus hätten die Sachverständigen die schädlichen Auswirkungen der Narben (Stränge) auf den Stütz- und Bewegungsapparat nicht zutreffend gewürdigt. Die Gewährung von Leistungen bereits ab dem ersten Leistungsantrag hält der Kläger u.a. deshalb für geboten, weil die fehlende Mitwirkung seinerzeit den Beklagten nicht gehindert habe, das Verwaltungsverfahren bis zur Entscheidungsreife zu fördern.
Den in der mündlichen Verhandlung vom 20.04.2010 geschlossenen Vergleich hat der Kläger innerhalb der nachgelassenen Frist (31.05.2010) am 27.05.2010 widerrufen.
Nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen beantragt der Kläger sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 04.04.2005 zu ändern und den Beklagten unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 zu verurteilen, eine "posttraumatische Belastungsstörung" und eine "sensible Teilstörung an der Daumenseite des rechten Zeigefingers" als weitere Schädigungsfolgen festzustellen, den Bescheid vom 22.06.1999 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 27.01.1992 zurückzunehmen, den Bescheid vom 25.11.1999 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz ab Stellung des Antrags vom 30.04.1991 nach einem GdS von mindestens 50 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Sachverständigengutachten, die Dr. E, Chefarzt der 1. Chirurgischen Klinik der Kliniken St. B, Akademisches Lehrkrankenhaus für die Universität E, unter dem 20.10.2009 und Dr. W, Chefarzt des Instituts für Neurologie/Psychiatrie desselben Krankenhauses unter dem 29.10.2009 erstellt haben. Die Sachverständigen haben im Wesentlichen das Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme bestätigt. Insbesondere hat der Sachverständige Dr. W ein posttraumatisches Belastungssyndrom ausgeschlossen und alle bestehenden Schädigungsfolgen mit einem GdS von weniger als 25 bewertet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Streitakte und der Verwaltungsakte des Beklagten; dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist im Wesentlichen unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage gegen den Bescheid vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 zu Recht abgewiesen, soweit sie auf die Gewährung von Versorgungsleistungen nach einem GdS von mehr als 25 gerichtet ist. Zu ergänzen war der Bescheid aber um die im Tenor aufgeführte Gesundheitsstörung, die ebenfalls als Schädigungsfolge festzustellen ist.
Begründet wendet sich der Kläger gegen die nach Klageerhebung erlassenen Bescheide vom 22.06.1999 und 25.11.1999, die nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sind: Der Bescheid vom 22.06.1999 hält der gerichtlichen Überprüfung nicht stand, da der Beklagte verpflichtet ist, den Bescheid vom 27.01.1992 zurückzunehmen. Ist dieser Bescheid schon nach § 44 SGB X zurückzunehmen, ist für die vom Sozialgericht angenommene Ermessensentscheidung, die der Beklagte durch den Bescheid vom 25.11.1999 getroffen hat, kein Raum.
Der Bescheid vom 22.06.1999 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, den Bescheid vom 27.01.1992 zurückzunehmen. Dazu war er nach Maßgabe des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X verpflichtet.
Erlassen worden ist der Bescheid vom 27.01.1992 erst am 17.12.1996, da er bis dahin nicht bekannt gegeben wurde: jedenfalls lässt sich ein früherer Zeitpunkt der Bekanntgabe nicht gesichert feststellen. Die Annahme des Sozialgerichts, der Bescheid vom 27.01.1992 sei unmittelbar gegenüber dem damaligen Bevollmächtigten, Rechtsanwalt O, bekanntgegeben worden, hat zwar Einiges für sich. Angesichts des von Klägerseite bestrittenen Zugangs ist der gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 SGB X vom Beklagten zu führende Nachweis aber hier nicht erbracht. Wenngleich das Sozialgericht zutreffend darauf hinweist, dass ein "einfaches" Bestreiten die Zugangsvermutung des § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X nicht widerlegt (vgl. auch Engelmann in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 37 Rn 13), so ergeben sich sachlich begründete Zweifel an dem üblicherweise zu erwartenden Zugang jedoch aus dem aktenkundigen Sachverhalt. Danach hat der (zweite) Bevollmächtigte des Klägers, Rechtsanwalt U, im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 19.02.1996 telefonisch um Übersendung des Bescheides vom 27.01.1992 gebeten, da ihm dieser in seinen Akten nicht vorliege. Da Rechtsanwalt U zuvor mit dem (ersten) Bevollmächtigten des Klägers, Rechtsanwalt O eine Gemeinschaftskanzlei geführt und ihm demzufolge die Akten des Klägers zur Verfügung gestanden haben, erscheint es gut möglich, dass der Bescheid vom 27.01.1992 Rechtsanwalt O tatsächlich nicht zugegangen ist. Wegen der hierdurch begründeten Zweifel an der Zugangsvermutung konnte ein Zugang des Bescheides Anfang 1992 nicht angenommen werden. Die Bekanntgabe des Bescheides ist vom Beklagten mit dem dokumentierten Versand der Bescheidkopie am 14.12.1996 und Zugang am 17.12.1996 (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X) nachgeholt worden. Dass hier ein Bescheid nicht noch einmal erstellt und zugesandt wurde, hindert die Bekanntgabe nicht. Die Übersendung einer Kopie ist ausreichend, denn für die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes ist es erforderlich, aber auch genügend, dass die Behörde dem Adressaten willentlich von seinem Inhalt Kenntnis verschafft (Engelmann in von Wulffen, a.a.O., § 37 Rn 3 m.w.N.). Die (gewollte) Bekanntgabe des Inhalts erfolgte hier durch den zuständigen Sachbearbeiter.
Im Zeitpunkt der Bekanntgabe und damit des Erlasses des Bescheides am 17.12.1996 mangelte es nicht (mehr) an der erforderlichen Mitwirkung des Klägers, denn die notwendigen Mitwirkungshandlungen waren zuvor am 07.07.1995 nachgeholt worden. Zu diesem Zeitpunkt lagen Meldebescheinigung, behördliche Antragsvordrucke und Vollmacht vor.
Ohne den Erlass des rechtswidrigen Bescheides vom 27.01.1992 hätte der Beklagte über den noch offenen Erstantrag vom 30.04.1991 noch entscheiden müssen, so wie er es für die Zeit ab 01.01.1995 mit Bescheid vom 19.02.1996 und Widerspruchsbescheid vom 11.09.1997 getan hat. Der Kläger hat dadurch jedenfalls die Heilbehandlungskosten, wie sie ihm durch Bescheid vom 09.09.1999 für die Zeit ab dem 01.01.1995 zuerkannt worden sind, zu Unrecht nicht erhalten.
Der Bescheid vom 25.11.1999, mit dem der Bescheid vom 27.01.1992 teilweise aufgehoben worden ist, ist ebenfalls rechtswidrig. Da der Bescheid vom 27.01.1992 bereits mit Bescheid vom 22.06.1999 nach § 44 SGB X zurückzunehmen war, war im November 1999 kein Raum mehr für eine Entscheidung nach §§ 66, 67 SGB I über die Rücknahme dieses Bescheides und die Gewährung der Leistungen ab Erstantragstellung als Ermessensleistung.
Der Bescheid vom 19.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1997 ist insoweit rechtswidrig als eine "sensible Teilstörung an der Daumenseite des rechten Zeigefingers" als zusätzliche Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Ein Anspruch des Klägers auf Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen sowie der Gewährung von Versorgungsrente besteht nicht.
Als Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass die oben angeführte Gesundheitsstörung auf die Gewalttat vom 28.04.1990 zurückzuführen ist. Der Kläger hat gegenüber der Sachverständigen Dr. E über entsprechende Beschwerden geklagt, diese – möglicherweise wegen ihrer Geringfügigkeit – aber etwa vor dem Sachverständigen Dr. C nicht wiederholt. Die sensible Störung lässt sich nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. W und Dr. C, dies sehen die Beteiligten auch übereinstimmend so, zwanglos den erlittenen Verletzungen im Bereich der rechten Hand zuordnen.
Für die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen lässt das Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Raum. Weder der Sachverständige Dr. C in seinem für das Sozialgericht erstatteten Gutachten, noch die Sachverständigen Dr. W und Dr. E im Berufungsverfahren haben jeweils auf ihrem Fachgebiet Gesundheitsstörungen diagnostiziert, die sie mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf die Gewalttat vom 28.04.1990 zurückführen. Ein posttraumatisches Belastungssyndrom, wie es fachfremd von dem nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. B angegeben wurde, schließen Dr. C und Dr. W ausdrücklich aus. Die hierfür typischen Symptome wie eine anhaltend gesteigerte vegetative Erregung oder Anspannung, situationsbedingte Angst- und Unruhezustände mit Vermeidungsverhalten haben sie übereinstimmend nicht festgestellt. Hinweise auf einen erlebnisbedingten Persönlichkeitswandel gibt es entweder nicht oder doch allenfalls in der Form einer Neurose, für die – da persönlichkeits-/anlagebedingt – die Gewalttat nur der Auslöser, nicht aber die zumindest annähernd gleichwertige (Mit-)Ursache war. Beide Sachverständigen verweisen darauf, dass der Kläger nicht neurologisch-psychiatrisch behandelt wurde, so dass schon dieser Umstand eine gravierende psychische Erkrankung ausschließt; eine solche unterstellt könnte sie jedenfalls mangels Brückensymptomen auch nicht der Gewalttat zugerechnet werden.
Da die zusätzliche Schädigungsfolge keinen Einzel-GdS von 10 bedingt, führt dies nicht zu einer Erhöhung des GdS insgesamt. Es bleibt bei einem schädigungsbedingten GdS von weniger als 25, so dass die Zahlung einer Versorgungsrente ausscheidet. Der Senat schließt sich den Ausführungen des Sozialgerichts an, das das Ergebnis der Beweisaufnahme zutreffend gewürdigt hat. Es hat die Feststellungen der Sachverständigen richtig den maßgeblichen "Anhaltspunkten" zugeordnet, die – soweit es um die hier in Rede stehenden Beeinträchtigungen geht – in die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) übernommen worden sind. Die danach erfolgten Einzelbewertungen und Bewertungen für die Organsysteme bedingen keinen GdS von mehr 10, so dass in der Gesamtschau ein GdS von 20 nicht erreicht wird, jedenfalls aber nicht überschritten werden kann. Die Sachverständigen Dr. W und Dr. E haben die Feststellungen der Sachverständigen Dr. E und Dr. C und deren sozialmedizinische Beurteilung ausdrücklich bestätigt, so dass mit Ausnahme der zusätzlichen Schädigungsfolge auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen wird (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kläger bezogen auf sein Klagebegehren nur zu einem geringen Teil mit der Klage durchgedrungen ist und das hier gewonnene Ergebnis nach ausführlicher Erörterung der Sach- und Rechtslage auch ohne streitige Entscheidung hätte erreichen können.
Der Senat hat keine Anhaltspunkte gesehen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG).
Erstellt am: 07.06.2011
Zuletzt verändert am: 07.06.2011