Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 22.03.2011 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 02.08.2011 bis zur Bestandskraft des angefochtenen Bescheides vom 10.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2011, längstens jedoch bis zum 31.01.2012 (einschließlich) einen Regelbedarf in gesetzlicher Höhe von 364,00 Euro zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
I. Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Weitergewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1959 geborene Antragsteller bezog in den Jahren 2005 bis 2007 und wieder vom 01.07. bis 31.12.2010 Grundsicherungsleistungen vom Antragsgegner. Am 22.11.2010 stellte er einen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab dem 01.01.2011. Der Antragsgegner forderte ihn zur Vorlage weiterer Unterlagen auf. Insbesondere seien die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Frau D A, mit der der Antragsteller eine Wohnung teilt, anzugeben, da Indizien für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft vorlägen. Dieser Annahme widersprach der Antragsteller unter Vorlage von Schreiben der Frau A sowie deren Tochter B.
Mit Bescheid vom 10.01.2011 versagte der Antragsgegner Leistungen für die Zeit ab dem 01.01.2011 auf der Grundlage der §§ 60, 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Der Antragsteller sei seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Den Widerspruch des Antragstellers wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 21.07.2011 zurück.
Am 09.02.2011 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dortmund beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm im Wege des Eilrechtsschutzes Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Ebenfalls hat er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt. Er lebe nicht in eheähnlicher Lebensgemeinschaft mit Frau A. Vielmehr teilten sie sich die Wohnung lediglich aus Kostengründen; "tiefere Interessen" hätten sie aneinander nicht. Frau A, die einer Erwerbstätigkeit nachgehe, bezahle die vollständigen Unterkunftskosten und er gebe ihr seinen Mietanteil in bar. Seit ihrer Scheidung 2009 lebe Frau A im Übrigen in einer neuen Beziehung. Sie nächtige im Schlafzimmer, er selbst aus Platzgründen im Wohnzimmer auf einer Schlafcouch. Tagsüber nutze er zusätzlich ein weiteres Zimmer, welches mit Schreibtisch und Vitrinenschrank ausgestattet sei. Sein Bett habe sich zunächst aus Platzmangel im Keller befunden, sei aber inzwischen in dem weiteren Zimmer aufgestellt worden. Es werde getrennt gewirtschaftet, insbesondere habe jeder seine eigenen Lebensmittel. Keiner habe Verfügungsgewalt über das Konto des Anderen. Das SG hat die Anträge mit Beschluss vom 22.03.2011 abgelehnt. Dem Eilantrag fehle es am Anordnungsgrund. Im Hinblick auf die Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung gem. § 22 SGB II könne ein Anordnungsgrund nur angenommen werden, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung konkret die Wohnungslosigkeit oder eine vergleichbare Notlage drohe. Dies sei hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Soweit der Antragsteller die Gewährung der Regelleistung vor dem 09.02.2011 (Datum der Antragstellung bei Gericht) begehre, stehe dem entgegen, dass eine einstweilige Anordnung zur Regelung von Leistungsansprüchen für die Vergangenheit regelmäßig nicht in Betracht komme. Dem Antragsteller sei insofern zumutbar, das Verwaltungs- und Klageverfahren abzuwarten. Für die Zeit ab dem 09.02.2011 sei ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft, weil dem Antragsteller Mittel zur Verfügung stünden, die zum Bestreiten des Lebensunterhalts ausreichend seien. Der Antragsteller habe am 15.02.2011 Lohn in Höhe von 547,34 Euro erhalten. Dass er davon – wie vorgetragen – seinen Mietanteil entrichtet habe, sei von ihm trotz anwaltlicher Vertretung nicht glaubhaft gemacht. Hinzu komme eine weitere Gehaltszahlung im März 2011, deren Höhe der Antragsteller nicht benannt habe. Die Kammer müsse daher davon ausgehen, dass das Guthaben des Klägers im Februar 2011 (Kontostand am 15.02.2011: 569,05 Euro) und die im März erhaltene Gehaltszahlung ausreichten, um zumindest für die Monate Februar und März den Bedarf in Höhe der Regelleistung zu decken. Darüber hinaus habe der Antragsteller nach eigenen Angaben im November 2010 Zuwendungen in Höhe von 500 Euro von seiner Mutter und Schwester erhalten, deren Verbrauch er nicht glaubhaft gemacht habe. Der Vortrag und die nur lückenhafte Glaubhaftmachung über die wirtschaftliche Situation seien nicht geeignet, die Kammer von einer gegenwärtigen dringenden Notlage im Zeitpunkt der Entscheidung zu überzeugen. Der Antrag auf Bewilligung von PKH sei entsprechend abzulehnen gewesen.
Mit seiner am 20.04.2011 erhobenen Beschwerde gegen den am 22.03.2011 zugestellten Beschluss verfolgt der Antragsteller sein Begehren einer vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB II unter Berufung darauf, dass er und Frau A keine Einstandsgemeinschaft seien, weiter.
Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 22.03.2011 zu ändern und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm ab Entscheidung des Landessozialgerichts vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu zahlen.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Seiner Auffassung nach ist die Vermutung des § 7 Abs. 3a SGB II, die durch das Zusammenleben mit Frau A seit Mai 2005 begründet werde, nicht widerlegt. Dies gelte im Hinblick darauf, dass der Antragsteller mit Frau A im Zeitraum seit 2005 drei aufeinanderfolgende Mietverhältnisse begründet habe und die gemeinsamen Hobbys und Aktivitäten, die Nutzung der gesamten Wohnung ohne "Privatsphäre" und die Vertrautheit nur die Annahme einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft zuließen. Die Mietverträge seien zudem gesamtschuldnerisch geschlossen. Im Übrigen sei auch die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers im Hinblick auf sein erzieltes Einkommen bzw. die erfolgten Zuwendungen durch Mutter und Schwester ungeklärt.
Die Berichterstatterin des Senats hat den Kläger in einem Termin am 12.07.2011 zu seinen Wohn- und Lebensverhältnissen befragt und hierzu ergänzend die Zeuginnen D und B A vernommen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und insbesondere des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Gerichts- und der den Antragsteller betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen; dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedarf besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803; BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1). Der vom Antragsteller geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG a.a.O. Rn 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O. Rn 29, 29a).
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die Gewährung vorläufiger Leistungen an den Antragsteller im Zeitpunkt seiner Entscheidung im März 2011 abgelehnt. Auf die dortigen Gründe wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).
Dem Antragsteller sind jedoch – entsprechend dem von ihm geänderten Antrag in der Beschwerdeinstanz – unter Berücksichtigung seiner grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung für den Zeitraum ab Beschlussfassung des erkennenden Senats vorläufig Regelleistungen zu gewähren.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund hinsichtlich der begehrten Regelleistung glaubhaft gemacht. Eilbedürftig ist die Angelegenheit deshalb, weil der Antragsteller über kein ausreichendes eigenes Einkommen und Vermögen zur Sicherung seines Lebensunterhalts verfügt. Die noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts wohl vorhandenen Geldbeträge sind mittlerweile aufgebraucht. Da der Antragsteller sich nicht selbst zu helfen vermag, benötigt er die Regelleistung, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Eilbedürftig ist die Angelegenheit hingegen weiterhin nicht im Hinblick auf die begehrten Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Dem Antragsteller, der nach seinen Einlassungen im Erörterungstermin die Miete regelmäßig gezahlt hat, drohen derzeit weder eine fristlose Kündigung durch Frau A bzw. erst recht keine Räumungsklage.
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes hingegen nicht abschließend zu entscheiden.
Der Antragsteller gehört nach den bisherigen Feststellungen dem Grunde nach zu dem Personenkreis, für den Leistungen des SGB II vorgesehen sind, weil er das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II), erwerbsfähig ist (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II) und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II). Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist hingegen die Frage, ob der Antragsteller die weitere Voraussetzung des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II erfüllt, d.h. bei ihm Hilfebedarf besteht. Zweifelhaft ist insbesondere, ob sein Anspruch gem. § 9 Abs. 2 S. 1 SGB II unter Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens der Frau D A ermittelt werden muss. Die Frage, ob der Antragsteller und Frau A eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im Sinn von § 7 Abs. 3 SGB II bilden oder es sich – wie von Ihnen vorgetragen – lediglich um eine Zweckgemeinschaft handelt, ist nach dem bisherigen Aktenstand, insbesondere der Beweisaufnahme, nicht abschließend zu beurteilen und bedarf weiterer Ermittlungen. Wenngleich die vom Antragsgegner angeführten Umstände Indizien für eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft sein können, so reichen diese allein jedoch für deren Annahme nicht aus, da andere Aspekte gegen einen Einstandswillen sprechen. Dies gilt insbesondere für eine ca. zweijährige Beziehung der Zeugin A mit einem anderen Partner, für die von Frau A bei ihrer Vernehmung im Erörterungstermin gezeigte Unnachgiebigkeit in Bezug auf Miet- und sonstige Zahlungen trotz des finanziellen Engpasses des Antragstellers und für die vom Antragsteller angegebene unmittelbare Bereitschaft, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, wenn sich eine andere geeignete Wohnung für ihn allein findet.
Ob die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3a SGB II im konkreten Einzelfall des Antragstellers Bestand hat, kann vom Senat nicht zuverlässig abschließend in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren beurteilt werden. Obgleich die Aussagen des Antragstellers und der Zeugin D A in Details erheblichen Bedenken begegnen, fällt die für die begehrte Regelung im Eilverfahren allein entscheidende Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05) zugunsten des Antragsteller aus. Ohne die beantragten Leistungen drohen ihm existentielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht abwenden kann. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren nicht durchdringen sollte. Diese finanziellen Nachteile halten sich zudem dadurch in Grenzen, dass die gesetzliche Regelung des § 43 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und SGB XII v. 24.03.2011 (BGBl I, S. 453) für den Antragsgegner Aufrechnungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, von denen er im Falle seines Obsiegens in der Hauptsache Gebrauch machen kann, wenn der Antragsteller auch weiter im Leistungsbezug bleibt. Scheidet der Antragsteller hingegen aus dem Leistungsbezug aus, weil er eine Arbeitsstelle findet, kann der Antragsgegner seine Rückforderungsansprüche aus dem Arbeitslohn des Antragstellers realisieren.
Leistungen ab dem 01.01.2011 bzw. für den Zeitraum zwischen Antragstellung beim Sozialgericht und Entscheidung im Beschwerdeverfahren hat der Antragsteller auf Anregung des Senats zuletzt nicht mehr begehrt, so dass über diese nicht zu entscheiden war.
Die Leistungen sind in Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II auf längstens 6 Monate befristet, damit der Leistungsfall sachgerecht unter Kontrolle gehalten werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 18.08.2011
Zuletzt verändert am: 18.08.2011