Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 24.07.2012 geändert: Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, längstens jedoch bis zum 20.02.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelbedarfs bzw. Sozialgeld unter Berücksichtigung gezahlten Kinder- und Elterngeldes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zur Hälfte.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin zu 1) und deren leibliche Kinder, die Antragsteller zu 2) bis 4) sind bulgarische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) bis 3) reisten im Juni 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein, die Antragstellerin zu 4) ist dort am 00.00.2012 geboren. Am 05.03.2012 beantragten sie die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Antrag wurde durch Bescheid vom 03.05.2012 abgelehnt, der hiergegen gerichtete Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 05.07.2012 als unzulässig zurückgewiesen. Der Antragsgegner wertete den Widerspruch auch als Antrag auf Überprüfung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X); dieser Antrag ist noch nicht beschieden.
Die Antragstellerin zu 1) ist im Besitz einer unbefristeten Freizügigkeitsbescheinigung und einer Arbeitserlaubnis EU für die E GmbH, für die sie vom 27.08. bis 17.11.2011 als Reinigungskraft arbeitete. Die Kündigung durch den Arbeitgeber erfolgte – so die Antragstellerin -, weil sie aus familiären Gründen ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Arbeitsort in C wieder nach L zurückverlegte und in C nicht mehr eingesetzt werden konnte. Die Wiederaufnahme der Beziehung zu ihrem Ehemann in L sei fehlgeschlagen, der Mann sei ausgezogen, sein derzeitiger Aufenthalt sei unbekannt. Eine neue Arbeitsstelle habe sie auch wegen der komplikationsreichen Schwangerschaft nicht finden können.
Zur Begründung ihres am 10.07.2012 gestellten Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Antragsteller vorgetragen, sie bestritten ihren Lebensunterhalt durch das für den Antragsteller zu 3) gezahlte Kindergeld und, so die Antragstellerin zu 1) in einer eidesstattlichen Versicherung vom 10.07.2012, dadurch, dass sie Geld von Freunden bekomme, Flaschen sammle und Pfandgeld sowie Unterstützung von F e.V. erhalte. Das Mietverhältnis sei wegen erheblicher Mietrückstände gekündigt worden. Lebensmittel erhalte sie von der "N", die Antragstellerin zu 4) könne aber nicht ausreichend mit Windeln versorgt werden. Von Freunden des Antragstellers zu 3) hätten sie zuletzt 30 Euro bekommen.
Durch den am selben Tag zugestellten Beschluss vom 24.07.2012 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II könne nicht aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) abgeleitet werden, da Bulgarien nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehöre. Leistungen nach dem SGB II seien nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem europäischen Diskriminierungsverbot sei umstritten. Die Bedenken teile das Gericht bezogen auf die vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger, nicht jedoch auf – wie hier – nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Personen. Bulgarien sei zum 01.01.2007 der EU beigetreten. Neu-Unionsbürger seien nach den Beitrittsbedingungen nur nach Maßgabe der Übergangsbestimmungen freizügigkeitsberechtigt. Habe danach die Antragstellerin zu 1) aufgrund der Gesetzeslage nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, bestehe unter Beachtung des Diskriminierungsverbotes ein objektiver Grund, diese vom Leistungsbezug auszuschließen.
Mit ihrer Beschwerde vom 27.07.2012 machen die Antragsteller geltend, eine einstweilige Anordnung habe zumindest im Rahmen einer Folgenabwägung erfolgen müssen. Die Antragstellerin zu 1) versichert an Eides Statt, dass am 26.07.2012 die Stromversorgung eingestellt worden sei, und legt eine Sperrbenachrichtigung vor, wonach zur Wiederherstellung der Versorgung der Rückstand sowie die Sperr- und Wiederanschlusskosten bei dem Energielieferanten zu zahlen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Beschluss des Senats vom 14.08.2012 in diesem Verfahren verwiesen, mit dem der Senat eine zweimonatige, mit dem 13.10.2012 endende Zwischenregelung getroffen hat.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Das Sozialgericht hat eine einstweilige Anordnung bezogen auf die Zahlung des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu Unrecht abgelehnt, eine Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Zahlung von Kosten der Unterkunft und Heizung hat es zutreffend verneint.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803; Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28 – BVerfGE 93, 1).
Der vom Antragsteller verfolgte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschl v 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23 – Breith 2005, 803). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG a.a.O. Rn 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O. Rn 29, 29a).
Den Antragstellern sind unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung die begehrten Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren.
Bezogen auf diese Leistungen haben die Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Eilbedürftig ist die Angelegenheit deshalb, weil sie über kein ausreichendes eigenes Einkommen und Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts verfügen. Da sie sich nicht selbst zu helfen vermögen, benötigen sie diese, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dem Einwand des Antragsgegners, der Bedarf könne über den Bezug anderer Sozialleistungen sichergestellt werden, ist im Tenor des Beschlusses Rechnung getragen worden. Für den Fall, dass die Antragsteller die beantragten Leistungen (Kinder-/Elterngeld) erhalten, sind sie ab Zufluss zu berücksichtigen. Soweit der Antragsgegner darauf verweist, es könnten Unterhaltsansprüche gegen den Vater der Antragsteller zu 2) bis 4) geltend gemacht werden, steht dies der Regelungsanordnung im Eilverfahren deshalb nicht entgegen, weil glaubhaft vorgetragen wurde, dass der Aufenthalt des Vaters unbekannt sei.
Einen Anordnungsgrund sieht der Senat hingegen nicht für die geltend gemachten Kosten der Unterkunft und Heizung. Denn für diese (laufenden) Kosten ist nach der Rechtsprechung des Senats die Eilbedürftigkeit im oben dargelegten Sinn regelmäßig erst dann zu bejahen, wenn konkret Wohnungslosigkeit droht (s. LSG NRW Beschl vom 11.01.2011 – L 6 AS 2084/10 B ER -; vgl auch LSG NRW Beschl v 27.11.2008 – L 9 B 183/08 AS ER – Rn 11 m.w.N.). Die Antragsteller haben vorgetragen, eine Kündigung der Wohnung erhalten zu haben. Die bloße Kündigung begründet nicht die Annahme, dass konkret Wohnungslosigkeit droht.
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes hingegen nicht abschließend zu entscheiden.
Es spricht allerdings viel dafür, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Zuerkennung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in der Person der Antragsteller erfüllt sind. Die Antragstellerin zu 1) ist im Jahre 1976 geboren (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Durchgreifende Bedenken gegen ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 (BGBl I 453) bestehen nicht. Nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 SGB II erhebliche gesundheitliche Einschränkungen sind nicht ersichtlich. Der Annahme der "rechtlichen Erwerbsfähigkeit" der Antragstellerin zu 1) gemäß § 8 Abs. 2 SGB II steht nicht entgegen, dass sie sich als bulgarische Staatsangehörige wegen der Einschränkung im EU-Beitrittsvertrag ihres Landes vom 25.04.2005 (BGBl 2006 II 1146) während einer Übergangszeit bis längstens zum 31.12.2013 auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur eingeschränkt berufen kann. § 8 Abs. 2 S. 1 SGB II n.F. stellt lediglich darauf ab, dass die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Davon ist aufgrund der schon einmal erteilten Arbeitserlaubnis auszugehen. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben zu Einkommen und Vermögen sind die Antragsteller hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II. Mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, ihren Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, haben sie, die sie als Unionsbürger für Einreise und Aufenthalt keiner Erlaubnis bedürfen, an ihrem Wohnort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I); vgl. auch BSG Urt v 27.01.1994 – 5 RJ 16/93 – zu Verweildauer und -wille und zur sog. Zukunftsoffenheit des Aufenthalts).
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist die Frage, ob die Antragsteller deshalb keine Leistungen erhalten können, weil zu ihren Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift.
Dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, mag – trotz auch hier verbleibender rechtlicher Bedenken – unterstellt werden. Es bestehen aber unter verschiedenen rechtlichen Herangehensweisen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss in dieser Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (vgl hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse v. 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER – ; v. 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER – ; LSG Hessen Beschl. v. 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER – ; Beschlüsse des Senates v. 17.05.2011 – L 6 AS 356/11 B ER – und v. 06.06.2012 – L 6 AS 579/12 B ER). Vor diesem Hintergrund ergäbe sich dann aber ein (inhaltsgleicher) Anspruch der Antragsteller unmittelbar aus Art. 4 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit.
Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates, sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist.
Diese Bestimmung ist seit dem 01.05.2010 als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Die VO (EG) hat die VO (EWG) 1408/71 abgelöst und ist seit diesem Zeitpunkt in Kraft (s Art. 91 VO (EG) 883/2004 in Verbindung mit der DurchführungsVO (EG) 987/2009). Die VO (EG) 883/2004 erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden (s Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); BVerfG Beschl v 06.04.2010 – 2 BvR 2261/06 Rn 53; s auch schon EuGH Urt v 15.07.1964 – RS 6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Es spricht viel dafür, dass Art. 4 VO (EG) 883/2004 den Leistungsausschluss verdrängt und die Antragsteller unmittelbar aus dieser Bestimmung Leistungsansprüche ableiten können, wie sie auch deutschen Staatsangehörigen zustehen (vgl. hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse v. 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER – ; v. 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER – ; LSG Hessen Beschl. v. 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER – (bejahend); aA LSG Berlin-Brandenburg Beschl. V. 12.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. V. 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER -).
Die Antragsteller unterfallen dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (vgl Art. 2 Abs. 1 der VO). Die hier in Rede stehenden Leistungen nach dem SGB II, jedenfalls aber die zuerkannten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts werden vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst. Es handelt sich auch um Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Art. 1 Buchstabe l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff zwar als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". In Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 ist lediglich die "Arbeitslosenversicherung" als über das SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende – abgesichertes Risiko aufgeführt. Damit ist keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden. Denn die Zuordnung nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfolgt thematisch (s. Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 und Anhang X; VO (EG) 988/2009). Die Frage der Beitrags(un)abhängigkeit ist, wie Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 zeigt, keine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs, sondern – die Anwendbarkeit vorausgesetzt – nur der Anknüpfungspunkt für Frage, ob die Leistung auch in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden kann (s Art. 7 VO (EG) 883/2004).
Stehen den Antragstellern danach aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 die Leistungen nach dem SGB II wie deutschen Staatsangehörigen zu, wird dieser Anspruch aus dem Gleichbehandlungsgebot seinerseits – ungeachtet der Reichweite der Einschränkung – nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG (sog Unionsbürgerrichtlinie) eingeschränkt.
Es gilt im Recht der EU kein grundsätzlicher Vorrang einer VO gegenüber einer Richtlinie. Richtlinie und VO (EG) tragen zudem dasselbe Datum (29.04.2004). Bei unterschiedlichen Regelungsinhalten hätte man eine ausdrückliche Bestimmung oder systematische Verknüpfung erwarten dürfen, wenn eine solche Einschränkung tatsächlich gewollt gewesen wäre.
Ob es ein Rangverhältnis zwischen den geregelten Inhalten "Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit" (VO (EG) 883/2004) einerseits und "Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten" (Unionsbürgerrichtlinie) andererseits gibt, erscheint nicht ausgeschlossen (vgl Sozialgericht Duisburg Beschl v 24.09.2012 – S 3 AS 3413/12 ER – unter Hinweis auf Art. 48 AEUV, wonach die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit "für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer" notwendigen Maßnahmen beschlossen werden sollen). Selbst wenn aber das europäische Sozialrecht im Sinne eines "freizügigkeitsspezifischen Sozialrechts" (Fuchs Europäisches Sozialrecht (2010) 29) dazu bestimmt sein sollte, der Grundfreiheit "Freizügigkeit" zu dienen, steht doch der mit Blick auf die Leistungsansprüche übergreifende Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 nicht ersichtlich hinter Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie zurück. Gegen den Vorrang der Unionsbürgerrichtlinie als lex specialis spricht auch der Umstand, dass Art. 4 VO (EG) 883/2004 eine Ausnahme von dem dortigen Gleichbehandlungsgebot nur vorsieht, sofern "in dieser Verordnung" nichts anderes bestimmt ist, die Gleichbehandlung nach Art. 24 Abs. 1 Unionsbürgerrichtlinie hingegen vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich "im Vertrag und im abgeleiteten Recht" vorgesehener Bestimmungen erfolgen soll.
Folgt man dieser hier dargelegten Rechtsauffassung, ist die vom Sozialgericht in den Vordergrund gestellte Unterscheidung zwischen vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten (Alt-)Unionsbürgern und den nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigte (Neu-)Unionsbürgern, die nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben, nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung. Der Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 883/2004 jedenfalls gebietet es nicht, nationale Gesetzgebung daraufhin zu prüfen, ob unter Beachtung des Diskriminierungsverbotes ein objektiver, rechtfertigender Grund gesehen wird, bestimmte Unionsbürger vom Leistungsbezug auszuschließen.
Aufgrund der Vielzahl der aufgezeigten, in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen, die der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zuverlässig abschließend beurteilen kann, kommt er im Rahmen der danach entscheidenden Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -) zu der aus dem Tenor ersichtlichen einstweiligen Regelung zugunsten der Antragsteller.
Ohne die beantragten Leistungen drohen ihnen existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden können. Dabei hat der Senat insbesondere berücksichtigt, dass die Antragstellerin zu 4) erst am 13.06.2012 vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin geboren wurde und im Haushalt der Antragstellerin zu 1) ein weiteres minderjähriges Kind lebt. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollten. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand trägt der Senat bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem er die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners inhaltlich und zeitlich begrenzt. Der Antragsgegner, der nicht verpflichtet worden ist, Kosten der Unterkunft zu übernehmen, wird durch die zu erwartende Zahlung weiterer bereits beantragter Sozialleistungen entlastet und wird die verbleibende Zeit des Leistungszeitraums nutzen können, um die Realisierung von Unterhaltsansprüchen zu prüfen. In Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II ist der Leistungszeitraum unter Einbeziehung auch der getroffenen Zwischenregelung auf (längstens) 6 Monate befristet worden.
Die Beiladung des Sozialhilfeträgers hält der Senat jedenfalls deshalb nicht für geboten, weil dieser mit der Angelegenheit noch nicht befasst war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kostenentscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass dem Begehren der Antragsteller nur bezüglich der Regelleistung und des Sozialgeldes stattgegeben wurde, nicht jedoch in Bezug auf die beantragten vorläufigen Leistungen für Unterkunft und Heizung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 22.10.2012
Zuletzt verändert am: 22.10.2012