Erledigt durch angenommenes Anerkenntnis im Termin beim BSG
Auf die Berufungen des Klägers und der Beigeladenen zu 2) wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29.09.2010 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die im Fall des Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom 23.04.2004 bis 30.07.2010 erbrachten Aufwendungen in Höhe von insgesamt 349.001,65 EUR zu erstatten. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung für die Aufwendungen im Hilfefall des Beigeladenen zu 1) in Höhe von 349.001,65 EUR. Der Beigeladene zu 1), geboren am 00.00.1989, war am 30.09.1997 durch das Jugendamt des Klägers aus dem elterlichen Haushalt herausgenommen und als Notaufnahme im E-heimes e.V. I (später F GmbH) in einer Jungenwohngruppe untergebracht worden. Die Unterbringung des Beigeladenen zu 1) in der Einrichtung E erfolgte aufgrund desolater Familienverhältnisse (massive Gewaltanwendung durch den Vater, Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch den Vater, der später ärztlicherseits bestätigt wurde) und massiver Verhaltensauffälligkeiten des Beigeladenen zu 1) in der Schule für Körperbehinderte (Gewalttätigkeiten gegen Lehrer und Mitschüler, stark sexualisiertes Verhalten). Auf Empfehlung der Schule war der Beigeladene zu 1) bereits Ende 1996 in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität L vorgestellt worden. In dem dortigen Bericht vom 12.02.1997 sind als Diagnosen eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, eine mehrdimensionale Entwicklungsstörung (Sprache, Motorik, Kognitionen), ein Intelligenzniveau im Bereich geistiger Behinderung (IQ-Äquivalent 49 ) und eine hohe psychosoziale Belastung aufgeführt worden. Bei der vorliegenden innerfamiliären Belastung und nicht ausreichender Erziehungskompetenz der Eltern sowie der sicher gegebenen massiven Traumatisierung des Beigeladenen zu 1) sei eine außerhäusliche Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung und zusätzliche Förderung in den Bereichen Logopädie und Ergotherapie indiziert. Mit Bescheid vom 15.10.1997 gewährte der Kläger dem Beigeladenen zu 1) Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34, 36 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Im Hilfeplan des E-heimes vom 09.10.1998 wird ausgeführt, Entwicklungstests in der Schule hätten ergeben, dass bei dem Beigeladenen zu 1) keine geistige Behinderung vorliege. Er sei jedoch massiv lernbehindert. Im psychologischen Bericht von Dipl.- Psych. L1 vom 12.11.1998 wurde berichtet, bei dem Beigeladenen zu 1) bestehe eine Lern- und geistige Behinderung im Grenzbereich. Da der Beigeladene zu 1) im Heim durch aggressives und sexualisiertes Verhalten auffiel, wurde er im Evangelischen Krankenhaus E1 -Kinderschutzambulanz- vorgestellt. Im Bericht vom 16.11.1999 sind folgende Diagnosen dargelegt: körperliche Misshandlungen durch den Vater sowie sexuelle Misshandlungen durch den Vater mit der Folge schwerer Traumatisierung. Die Lernbehinderung des Beigeladenen zu 1) bedeute eine lebensalterbezogene Entwicklungsverzögerung, nicht aber eine geistige oder emotionale Einschränkung, die ihn hinderten, Erlebnisse realitätsgerecht wahrzunehmen, einzuordnen und zu bewerten.
Mit gerichtlicher Anordnung vom 14.12.1999 wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht in Bezug auf den Beigeladenen zu 1) auf das Jugendamt des Klägers übertragen. Es wurde eine Kontaktsperre verhängt, der Beigeladene zu 1) konnte nicht mehr zu Besuchen in den elterlichen Haushalt zurückkehren, dies um einer Gefährdung seiner Person durch den Vater vorzubeugen. Der Beigeladene zu 1) wechselte zunächst von der Körperbehindertenschule auf eine Schule für Lernbehinderte, im Jahr 2002 auf eine Schule für Erziehungshilfe und später erneut auf eine Schule für Lernbehinderte. Dr. N, behandelnder Kinder- und Jugendpsychiater des Beigeladenen zu 1) teilte am 04.07.2002 als Ergebnis seiner Untersuchungen mit, der Beigeladene zu 1) sei ein lernbehinderter Junge. Im Bericht der S Kliniken W vom 30.09.2003 wird ausgeführt, bei dem Beigeladenen zu 1) handele es sich um einen Jungen, dessen kognitives Leistungsniveau in den Grenzbereich zwischen mittelgradiger und leichter Intelligenzminderung falle, der Gesamt-IQ (HAWIK-Ill) betrage 49. Mit Schreiben vom 23.4.2004 machte der Kläger bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten des Hilfefalls des Beigeladenen zu 1) rückwirkend ab September 1997 mit der Begründung geltend, im Rahmen der Untersuchung der S Kliniken W sei festgestellt worden, dass bei dem Beigeladenen zu 1) eine geistige Behinderung vorliege. Am 14.11.2004 verzogen die Eltern des Beigeladenen zu 1) nach U. Die Beigeladene zu 2) lehnte die Übernahme des Falles wegen örtlicher Zuständigkeit mit der Begründung ab, die sachliche Zuständigkeit der Jugendhilfe sei noch nicht geklärt. Der Kläger setzte die Leistungsgewährung fort und meldete bei der Beigeladenen zu 2) einen Erstattungsanspruch nach § 89c Sozialgesetzbuch Achtes Buch -Kinder- und Jugendhilfe- (SGB VIII) an. Mit Eintritt der Volljährigkeit gewährte der Kläger dem Beigeladenen zu 1) ab 30.07.2007 unter Bezugnahme auf § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch -Allgemeiner Teil- (SGB I) als unzuständiger Träger Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII in Verbindung mit § 35 a Abs. 2 Satz 4 SGB VIII (Bescheid vom 20.09.2007). Mit Schreiben vom selben Tag machte er bei dem Beklagten Kostenerstattung geltend.
Der Kläger hat am 20.12.2007 Klage erhoben. Er trägt vor, der Beklagte sei für die Gewährung von Eingliederungshilfe für den Beigeladenen zu 1) sachlich und örtlich zuständig. Der Beigeladene zu 1) gehöre zum Personenkreis nach § 53 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch -Sozialhilfe- (SGB XII). Es liege bei ihm eine wesentliche geistige Behinderung seit dem Jahr 1996 vor
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn die im Hilfefall U T1 in der Zeit vom 23.04.2004 bis zum 30.07.2010 erbrachten Aufwendungen zu erstatten.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er macht geltend, dem Kläger stünde keine Erstattung für die erbrachten Aufwendungen zu. Bei den dem Beigeladenen zu 1) gewährten Hilfen habe es sich um typische Maßnahmen der Jugendhilfe und nicht um solche der Eingliederungshilfe gehandelt. Die Aufnahme in die Heimeinrichtung sei notwendig geworden, weil die Eltern mit der Erziehung und Betreuung des Beigeladenen zu 1) überfordert gewesen seien, also ein Erziehungs- und Betreuungsdefizit bestanden habe. Auch sei der Kläger seit dem Umzug der Eltern des Beigeladenen zu 1) nach U nicht mehr örtlich zuständig (§ 86 Abs. 1 SGB VIII). Das gleiche gelte für die ab 30.07.2007 gewährte Hilfe für junge Volljährige. Die Beigeladene zu 2) hat keinen Antrag gestellt. Der Kläger hat ergänzend vorgetragen, der Beklagte verkenne seine vorrangige Zuständigkeit gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII bei Mehrfachbehinderungen. Da die Beigeladene zu 2) sich bis zur Klärung der sachlichen Zuständigkeit weigere, die Leistungen als örtlich zuständiger Träger zu erbringen, sei er gemäß § 86c SGB VIII zur Gewährung der Leistungen verpflichtet und daher klageberechtigt.
Der Beigeladene zu 1) ist zum 15.08.2008 im Alter von 19 Jahren im Rahmen des betreuten Wohnens in eine eigene Wohnung gezogen und hat von dem Kläger die Übernahme von 60 Fachleistungsstunden monatlich erhalten (Kosten 2.922,60 EUR monatlich). Mit Schreiben vom 17.11.2008 wurde dies dem Sozialgericht mitgeteilt, (Bl. 14 Gerichtsakte) und darauf hingewiesen, dass der Beklagte auch hierfür vorrangig leistungspflichtig sei.
Der Kläger hat verschiedene ärztliche Gutachten bzw. Berichte über den Beigeladenen zu 1) zu den Gerichtsakten gereicht. Im psychologische Gutachten des Dipl. Psych. L2 aus E vom 12.03.2009 und im psychiatrischen Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie T aus M vom 11.07.2007 werden eine geistige bzw. leichte geistige Behinderung des Beigeladenen zu 1) vertreten. In dem Bericht des Ev. Krankenhauses E1 -Kinderschutzambulanz- vom 20.05.2003 werden als Diagnosen aufgeführt: aggressive Verhaltensstörung, Z.n. multipler traumatisierender Gewalterfahrung und Missbrauch. Es wird mitgeteilt, dass bei der am 20.10.2000 durchgeführten Grundintelligenzeinschätzung ein IQ-Äquivalentwert von 85 (CFG 20) vom Beigeladenen zu 1) erreicht worden sei. Es werde eine psychotherapeutische Behandlung bei einem männlichen Therapeuten empfohlen. Im Bericht der S Kliniken W vom 06.01.2004 werden eine Störung des Sozialverhaltens, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradige Intelligenzminderung im Grenzbereich zu einer leichten Intelligenzminderung beschrieben. Es wird ein Gesamt-IQ von 49 (HAWIK III) (Untersuchung am 30.09.2003) mitgeteilt. Der Beigeladene zu 1) solle auf einer Schule für geistig Behinderte unterrichtet werden. Das Sozialgericht hat von Amts wegen Dr. C, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus T mit der Untersuchung des Beigeladenen zu 1) beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 25.01.2010 folgende Diagnosen dargelegt: – primäre Minderbegabung (IQ 70), faktischer Analphabetismus mit hochgradiger Rechen-, Lese- und Schreibschwäche , – psychosexuelle Retardierung und geringe soziale Kompetenzen auf dem Boden schwerer psychosexueller Traumatisierung in der Kindheit. Es bestehe bei dem Beigeladenen zu 1) eine hochgradige psychische Beeinträchtigung mit Ängstlichkeit, fehlendem Selbstbewusstsein, geringer sozialer Kompetenz, die die Anbindung an eine bekannte Vertrauensperson unabdingbar mache, die intellektuelle Minderbegabung zwinge zu einer lebensbegleitenden Betreuungsperson. Es handele sich um eine Mehrfachbehinderung. Die Aufnahme in der Heimeinrichtung sei notwendig gewesen, um Fehlentwicklungen wie soziale und körperliche Verwahrlosung und Delinquenz vorzubeugen. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger mitgeteilt, dass er zum 30.7.2010 die Hilfegewährung an den Beigeladenen zu 1) eingestellt hat.
Mit Urteil vom 29.09.2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Beklagten nach § 10 Abs. 4 SGB VIII bestehe nicht. Es bestehe vielmehr die vorrangige Zuständigkeit des Klägers bzw. des Beigeladenen zu 2) als Jugendhilfeträger. Bei den dem Beigeladenen zu 1) gewähren Hilfen in Form der vollstationären Heimunterbringung, der Hilfe für junge Erwachsenen und des betreuten Wohnens handele es sich um Hilfe zur Erziehung bzw. um Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, die dem Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII ff vorgingen. Ein Anspruch des Beigeladenen zu 1) auf Eingliederungshilfe wegen einer wesentlichen geistigen Behinderung könne das Gericht nicht feststellen. Von einer wesentlichen geistigen Behinderung des Beigeladenen zu 1) könne sich das Gericht nicht überzeugen. Es bestehe lediglich eine Lernbehinderung bzw. eine leichte geistige Behinderung des Beigeladenen zu 1), die keine Aufsichts-, Betreuungs- oder Hilfebedürftigkeit in Bezug auf die Verrichtungen des täglichen Lebens bewirke. Die dem Beigeladenen zu 1) gewährte Hilfe in Form der Heimbetreuung des betreuten Wohnens sei wegen seiner wesentlichen seelischen Behinderung und wegen der bestehenden erzieherischen Probleme geleistet worden. Wegen des genauen Wortlauts der Urteilsgründe wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Das Urteil ist dem Kläger am 19.10.2010 und dem Beigeladenen zu 2) am 20.10.2010 zugestellt worden. Am 18.11.2010 hat der Beigeladene zu 2), am 19.11.2010 der Kläger Berufung eingelegt.
Der Kläger begehrt für die Zeit vom 23.04.2004 (Anzeige gegenüber Beklagtem) bis 30.07.2010 (Einstellung der Leistungen an den Beigeladenen zu 1) die Erstattung der geleisteten Aufwendungen in Höhe von insgesamt 349.001,65 EUR. Hiervon entfällt ein Betrag von 280.411,20 EUR auf die Zeit bis 14.08.2008 (Wechsel ins betreute Wohnen) bzw. ein Betrag von 203.923,16 EUR auf die Zeit bis zur Volljährigkeit am 30.07.2007.
Der Kläger vertritt die Auffassung, dass beim Beigeladenen zu 1) eine wesentliche geistige Behinderung vorliege, was schon der festgestellte IQ von 49 nahelege. Auf die Frage, ob diese geistige Behinderung die Aufnahme ins Heim erforderlich gemacht habe, komme es nicht an. Liege eine wesentliche geistige Behinderung vor, sei der Beklagte nach § 10 Abs. 4 SGB VIII vorrangig leistungspflichtig.
Die Beigeladene zu 2) vertritt die gleiche Rechtsansicht wie der Kläger und hält den Beklagten für zuständig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29.09.2010 zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen, wobei nunmehr die erbrachten Aufwendungen konkretisiert werden durch den Betrag von 349.001,65 EUR.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und hilfsweise die Revision zuzulassen.
Der Beigeladene zu 2) ist dem Antrag des Klägers beigetreten.
Der Beigeladene zu 1) hat keinen Antrag gestellt.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine ins Gewicht fallende geistige Behinderung des Beigeladenen zu 1) sei nicht ersichtlich. Jedenfalls sei eine geistige Behinderung nicht ursächlich für die Leistungserbringung gewesen. Die Heimaufnahme sei allein wegen der seelischen Behinderung erfolgt.
Aber selbst wenn man einmal von der Zuständigkeit des Beklagten ausgehe, so sei er nicht in voller Höhe zur Erstattung verpflichtet. Die Eltern des Beigeladenen seien am 14.11.2004 nach U verzogen. Ab diesem Tag sei der Beigeladene zu 2) gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig geworden. Der Kläger könne auf den Erstattungsanspruch gegenüber dem Beigeladenen zu 2) verwiesen werden. Für die Zeit bis zum 13.11.2004 seien lediglich 30.044,41 EUR an Leistungen angefallen, wie sich aus Blatt 321 der Gerichtsakte ergebe.
Sollte man auch diese Auffassung nicht teilen, so beschränke sich die Erstattungspflicht des Beklagten jedenfalls auf die Zeit bis 15.08.2008, ab dem Leistungen des betreuten Wohnens in Höhe von 60 Fachleistungsstunden erbracht worden seien. Ein Erstattungsanspruch für die Leistungen sei nicht geltend gemacht worden. Ab 15.08.2008 habe der Kläger eine ganz andere Leistung erbracht, für die ein erneuter Erstattungsanspruch hätte geltend gemacht werden müssen. Ein Erstattungsanspruch sei seitens des Klägers zunächst mit Schreiben vom 23.04.2004 geltend gemacht worden. Ferner sei mit Eintritt der Volljährigkeit ab 30.07.2007 Hilfe für junge Volljährige gewährt worden. Auch hierfür habe der Kläger mit ausdrücklichem Schreiben vom 20.09.2007 einen Erstattungsanspruch geltend gemacht. Für die ab 15.08.2008 erbrachten Leistungen liege kein Erstattungsanspruch vor. Das Schreiben vom 17.11.2008 an das Sozialgericht stelle keine erneute formelle Anmeldung eines Erstattungsanspruchs dar. Das Schreiben genüge nicht den Anforderungen an die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen, weil es kein ausdrückliches Erstattungsverlangen beinhalte.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Aktengutachtens von Prof. Dr. M, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Physiotherapie des Kindes- und Jugendalters, vom 02.02.2012 zu der Frage, ob eine wesentliche geistige Behinderung im Zeitraum vom 23.04.2004 bis 30.07.2010 beim Beigeladenen zu 1) festgestellt werden könne. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass in der gesamten Zeit durchgehend eine ins Gewicht fallende geistige Behinderung beim Beigeladenen zu 1) bestanden habe. Diese geistige Behinderung gehe eindeutig über eine bloße Lernminderung hinaus. Die unterschiedlichen Ergebnisse der Intelligenztestungen in der Vergangenheit erklärten sich durch die unterschiedlich zugrunde liegenden Intelligenzmodelle der Tests und damit ihrer Eignung und Validität zur Feststellung von Intelligenzminderungen. Die Schlussfolgerung des Sozialgerichts, dass bei einem IQ von 70 nicht von einer geistigen Behinderung, sondern allenfalls von einer Lernbehinderung gesprochen werden könne, sei in dieser Form nicht zutreffend. Erstens liege ein IQ von 70 genau im Grenzbereich von Lern- und geistiger Behinderung und es müssten weitere Befunde zur Klärung herangezogen werden. Zweitens wurde hier der IQ von 70 nicht mittels eines klassischen Intelligenztests, sondern mittels eines Tests zur diagnostischen Abklärung organischer Hirnschädigungen gemessen. Drittens sei für die Einschätzung der Unterscheidung von Lernbehinderung und geistiger Behinderung nicht alleine der Intelligenzquotient ausschlaggebend, sondern auch die lebenspraktischen Fähigkeiten wie Schreiben, Lesen, Rechnen und Aspekte wie selbständiges Busfahren, benötigte Hilfen bei finanzieller Art und Umgang mit Behörden. Diese sprächen in dem vorliegenden Fall des Beigeladenen zu1) eindeutig für eine geistige Behinderung und gingen über eine bloße Lernbehinderung hinaus.
Der Kläger und der Beigeladene zu 2) sehen sich durch das Gutachten in ihrer Auffassung bestätigt. Eine geistige Behinderung sei eindeutig festgestellt worden beim Beigeladenen zu 1), was ausreichend sei.
Der Beklagte meint, dass auch nach dem Sachverständigengutachten nicht festgestellt werden könne, dass die geistige Behinderung wesentlich für die Leistungserbringung gewesen sei.
Der Kläger weist noch darauf hin, dass der Beigeladene zu 2) nach dem Umzug der Eltern nach U es abgelehnt habe, den Leistungsfall zu übernehmen. Er, der Kläger, habe daher weiterhin leisten müssen und könne nicht auf einen eventuellen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beigeladenen zu 2) verwiesen werden.
Ein Erstattungsanspruch bezüglich des betreuten Wohnens sei in dem Schreiben vom 17.11.2008 an das Sozialgericht zu sehen. In diesem Schreiben sei hinreichend deutlich gemacht worden, welche Leistung man erbracht habe, welche Kosten entstanden seien und dass eine Erstattung begehrt werde.
Nach anfänglichen Zweifeln hat der Beklagte mitgeteilt, dass er die Höhe der geltend gemachten Aufwendungen in Höhe von 349.001,65 EUR für sachgerecht halte und diesen Betrag der Höhe nach nicht anzweifele.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere bezüglich des genauen Wortlauts der gewechselten Schriftsätze, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten und des Beigeladenen zu 2) Bezug genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässigen Berufungen sind begründet. Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten zu erstatten, die diesem für die Heimunterbringung des Beigeladenen zu 1) als Jugendlicher und junger Erwachsener sowie für die Zeit des betreuten Wohnens entstanden sind. Der Beklagte ist wegen der bestehenden geistigen Behinderung des Beigeladenen zu 1) der für die Leistungsgewährung vorrangige Leistungsträger.
Bei dem Beigeladenen zu 1) besteht auch eine wesentliche geistige Behinderung. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. M vom 02.02.2012 fest. Danach hat bei dem Beigeladenen zu 1) in der gesamten hier streitigen Zeit durchgehend eine ins Gewicht fallende geistige Behinderung bestanden, die eindeutig über eine bloße Lernbehinderung hinausgeht. Es haben starke Beeinträchtigungen in allen lebenspraktischen Bereichen bestanden. Der Sachverständige hat sich mit dem Gutachten von Dr. C auseinandergesetzt und hat für den Senat nachvollziehbar dargelegt, dass aus dem Punktwert des Intelligenzquotienten nicht allein auf das Vor- oder Nichtvorliegen einer geistigen Behinderung geschlossen werden kann. Da der Beigeladene in allen lebenspraktischen Fähigkeiten wie Schreiben, Lesen, Rechnen, selbständiges Busfahren, Umgang mit Geld und mit Behörden auf Hilfe angewiesen ist, liegt bei ihm eine ins Gewicht fallende geistige Behinderung vor. Die Auffassung des Sozialgerichts, dass bei einem Intelligenzquotienten von 70 grundsätzlich nicht von einer geistigen Behinderung gesprochen werden kann, hat der Sachverständige überzeugend als so nicht in dieser Allgemeinheit zutreffend dargelegt. Der Senat geht deshalb mit dem Sachverständigen Prof. Dr. M von einer ins Gewicht fallenden geistigen Behinderung bei dem Beigeladenen zu 1) aus.
Nach Auffassung des Senats kommt es nicht darauf an, ob diese geistige Behinderung zunächst der Grund für das Tätigwerden des Klägers gewesen ist. Der Senat geht mit dem Sozialgericht davon aus, dass die unstreitig bei dem Beigeladenen zu 1) bestehenden seelischen Behinderungen und die bestehenden erzieherischen Probleme den Anstoß für das Eingreifen des Klägers gegeben haben. Einer nachträglichen Aufklärung, ob auch die festgestellte geistige Behinderung Anlass für die Unterbringung im E-heim hätte sein können, bedarf es nach Auffassung des Senats nicht. Dem diesbezüglichen Beweisantrag des Beklagten brauchte daher nicht nachgegangen zu werden.
Der Kläger hat den geltend gemachten Erstattungsanspruch, da dem Beigeladenen zu 1) wegen seiner geistigen Behinderung sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zu gewähren war, die der Jugendhilfe vorgeht. Aus der Zuständigkeitsabgrenzung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ergibt sich, dass es sich vorliegend um eine Leistung der Eingliederungshilfe handelt. Zwar ist der Beigeladene zu 1) auch seelisch behindert. Der sich daraus aus § 35 a Abs. 1 SGB VIII ergebende Anspruch ist jedoch nachrangig, da nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII Leistungen nach dem SGB VIII dem des SGB XII vorgehen. Satz 2 der letztgenannten Vorschrift bestimmt für körperlich oder geistig behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen eine Ausnahme dahingehend, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII den Leistungen nach dem SGB VIII vorgehen. Der vorrangige Anspruch des zu diesem Personenkreis gehörenden Beigeladenen zu 1) auf stationäre Heimunterbringung als Maßnahme der Eingliederungshilfe ergibt sich aus § 53 Abs. 1 SGB XII. Leistungen der Eingliederungshilfe sind gemäß § 54 SGB XII u. a. die Leistungen nach den § 26, 33, 41 und 55 SGB IX. Als Leistungen zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft werden gemäß § 55 SGB IX die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder sichern. Die nähere Ausgestaltung der Eingliederungshilfe ist in der Eingliederungsverordnung geregelt. Menschen sind gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 SGB XII sind Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilnahme am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Zuständig für Leistungen nach § 53 SG XII ist der Beklagte als überörtlicher Sozialhilfeträger. Der Beigeladene zu 1) ist zur Überzeugung des Senats, wie oben dargelegt, geistig (wesentlich) behindert. Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen der Jugendhilfe für seelisch behinderte Kinder oder Jugendliche unter der Eingliederungshilfe für geistig behinderte Kinder oder Jugendliche anhand des § 10 Abs. 4 SGB VIII ist allein die Frage, ob der Beigeladene auch geistig behindert ist. Dies ist hier – wie dargelegt – der Fall. Die vom Beklagten vorgenommenen Erwägungen, bei Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung die Zuständigkeit danach zu bestimmen, auf welcher Komponente das Verhalten und die daraus notwendige Heimunterbringung beruht, ist nur mit erheblichem Aufwand möglich und für eine formale Zuständigkeitsabgrenzung nicht zeitnah durchführbar. Es ist nur mit größtem medizinischem Aufwand feststellbar, wie ein Jugendlicher, der durch eine geistige Behinderung seine ihm auch noch widerfahrende seelische Behinderung noch schlechter aufarbeiten kann, hypothetisch betrachtet als ein geistig gesunder Jugendlicher die gleiche seelische Behinderung verarbeiten würde und ob sein Verhalten auch dann eine Heimunterbringung erforderlich machen würde. Eine solche Auslegung der Norm über die Zuständigkeitsabgrenzung ist weder erforderlich noch geboten, da der Wortlaut des § 10 Abs. 4 SGB VIII lediglich das Vorliegen einer geistigen Behinderung und keine komplizierte Abgrenzungsmethode verlangt, insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt der Kausalität (so bereits der erkennende Senat im Urteil vom 14.12.2011 – L 12 SO 482/10 -). Die vorrangige Anspruchsgrundlage des § 53 SGB XII ist dem Grunde nach bei jeder Art der Behinderung erfüllt, also sowohl bei rein geistiger als auch bei rein seelischer Behinderung. Die Stationierung seelischer behinderter Jugendlicher ist also immer eine voll konkludente Teilmenge des Anwendungsgebietes des § 53 SGB XII. Bei rein seelisch behinderten Jugendlichen richtet sich Zuständigkeit nach der Jugendhilfe, wie sich aus der allgemeinen Bestimmung des § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB XII ergibt. Bei Vorliegen auch einer geistigen oder einer körperlichen Behinderung richtet sich die Zuständigkeit aufgrund des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nach dem SGB XII.
Bereits in seinem oben zitierten Urteil vom 14.12.2011 hat der Senat hinsichtlich der vom Gesetzgeber in Satz 1 und 2 des § 10 Abs. 4 SGB VIII getroffenen Regelungen darauf hingewiesen, dass Folge der vorrangigen Zuordnung der Leistungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen zur Kinder- und Jugendhilfe ist, dass der Vorrang der Sozialhilfe für Maßnahme der Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen nach Satz 2 bestehen bleibt. Dabei handelt es sich nicht um eine Ausnahme vom Grundsatz nach Satz 1, sondern um eine klarstellende Regelung, da das SGB VIII keine Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von seiner solchen Behinderung bedroht sind, bereit stellt, ein Fall der Leistungskongruenz deshalb gar nicht auftritt. Wenn dann das Gesetz darüber hinaus nur von einer geistigen Behinderung spricht, kann der Beklagte nicht damit gehört werden, es müsse hier das Vorliegen einer wesentlichen geistigen Behinderung im Sinne der Kausalität für die Unterbringung festgestellt werden. Der Wortlaut des Gesetzes und dessen eingangs zitierte Systematik geben dafür nichts her. Leistungen nach den § 53 ff SGB XII sind auch vorrangig, wenn die Leistung zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger und/oder körperlicher Behinderung eingeht. Auf den Schwerpunkt der Behinderung kommt es bei der Abgrenzung nicht an. Die Argumentation, der junge Mensch sei nicht wesentlich geistig gehindert, ist – abgesehen davon, dass eine isolierte Feststellung regelmäßig unstatthaft ist – unzulässig, wenn eine wesentliche Behinderung vorliegt. Diese Voraussetzung ist hier gegeben, da bei dem Beigeladenen zu 1) insgesamt eine (wesentliche) geistige Behinderung vorliegt. Der Senat hält an seiner oben zitierten Rechtsauffassung fest.
Ausgehend von dem Umstand, dass der Beklagte der vorrangige Leistungsträger ist, hat er den Erstattungsanspruch in vollem Umfang, also in Höhe von 349.001,65 EUR, zu befriedigen.
Dass die Aufwendungen für den Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom 23.04.2004 bis 30.07.2010 dem Grunde und der Höhe nach angemessen waren und tatsächlich angefallen sind, wird vom Beklagten mit Schriftsatz vom 14.08.2012 nach vorangegangener Prüfung ausdrücklich bestätigt. Der Senat folgt daher der Aufstellung des Klägers und geht von einem erstattungsfähigen Betrag in Höhe von 349.001,65 EUR aus.
Der Erstattungsanspruch ist auch wirksam und rechtzeitig im Sinne von § 111 SGB X angemeldet worden. Der Erstattungsanspruch für die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe wurde mit Schreiben vom 23.04.2004 (Blatt 327 Gerichtsakte) geltend gemacht. Da im vorliegenden Rechtsstreit keine Leistungen für die Zeit davor geltend gemacht werden, liegt jedenfalls für die Zeit ab 23.04.2004 eine wirksame Geltendmachung vor. Für die Zeit ab 30.07.2007 hat der Kläger Leistungen für junge Volljährige gewährt und den Erstattungsanspruch am 20.09.2007 (Blatt 328 Gerichtsakte), also innerhalb der Jahresfrist des § 111 SGB X, geltend gemacht. Aber auch für die Zeit ab dem 15.08.2008 (Leistungen für betreutes Wohnen) liegt eine wirksame Geltendmachung vor. Diese ist im Schreiben vom 17.11.2008 an das Sozialgericht Köln (Blatt 331 Gerichtsakte) im laufenden Gerichtsverfahren zu sehen. In diesem Schreiben werden konkret die Leistungen beziffert und beschrieben, die dem Beigeladenen zu 1) ab dem 15.08.2008 gewährt werden und es wird im letzten Satz auch zum Ausdruck gebracht, dass hier der Beklagte für zuständig gehalten wird. Diese Geltendmachung im Rahmen des bereits laufenden Erstattungsstreites hält der Senat für ausreichend. Es wird hinreichend deutlich, dass eine Erstattung auch für die neue Leistung begehrt wird. Sie ist ausreichend beziffert. Dass ein Ende noch nicht absehbar ist, wird im Schreiben vom 17.11.2008 deutlich gemacht. Der Beklagte konnte somit sehr wohl prüfen, in welcher Höhe Leistungen auf ihn zukommen. Der Erstattungsanspruch ist somit nicht auf die Zeit bis zum 14.08.2008, also auf einen Betrag von 280.411,20 EUR beschränkt.
Der Erstattungsanspruch ist auch nicht auf die Zeit bis zum Tag vor dem Umzug der Eltern des Beigeladenen zu 1) nach U (= 13.11.2004) beschränkt. Es steht nach der oben geschilderten Auffassung des Senats fest, dass der Beklagte für die Aufwendungen für den Beigeladenen zu 1) der zuständige erstattungspflichtige Träger ist. Der Senat hält es aus prozessökonomischen Gründen nicht für geboten, den Kläger zunächst auf einen Erstattungsanspruch gegen den Beigeladenen zu 2) zu verweisen. Insbesondere hat das vom Beklagten zitierte OVG Lüneburg in seiner Entscheidung vom 25.07.2007 (4 LB 90/07) nicht ausgesprochen, dass der Erstattungsanspruch des vorleistenden Jugendhilfeträgers gegenüber dem an sich zuständigen vorrangig sei. Das OVG Lüneburg hat lediglich darauf hingewiesen, dass es der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nach § 89 c in Verbindung mit § 86 c SGB VIII nicht im Wege steht, wenn man es vorher unterlassen hat, den Erstattungsanspruch gegen den Träger der Sozialhilfe geltend zu machen. Den Kläger auf einen Umweg zu verweisen, wenn klar ist, wer letztlich zahlungspflichtig ist, ist aus Gründen der Prozessökonomie nicht angezeigt.
Das angefochtene Urteil war somit abzuändern und der Beklagte im beantragten Umfang zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil sein Urteil vom 14.12.2011 – L 12 SO 482/10 -, auf welches der Senat die Leistungspflicht des Beklagten stützt, mit der Revision angefochten worden ist und dort beim Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 8 SO 21/12 R geführt wird. Die Sache hat somit grundsätzliche Bedeutung.
Erstellt am: 22.08.2014
Zuletzt verändert am: 22.08.2014