Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 08.08.2012 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet, die Kosten für die in der Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum Abschluss des beim Sozialgericht Münster unter dem Aktenzeichen S 16 KR 526/12 anhängigen Hauptsacheverfahrens in Verbindung mit der bei der Antragstellerin erbrachten Chemotherapie durchzuführenden lokoregionalen Tiefenhyperthermie zu übernehmen. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens und die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
I.
Bei der 1966 geborenen Antragstellerin wurde im Februar 2011 ein Adenokarzinom festgestellt. Es erfolgte eine Chemotherapie. Im Mai 2012 wurden Tumorrezidive entdeckt; es wurden nachfolgend multiple Tumore u.a. im Ligamentum gastrocolicum, im Bereich des Dünndarmmesos, der Zwerchfelle, der Leberkapsel und der Gallenblase operativ entfernt. Ab Mitte Juni 2012 erfolgt eine weitere Chemotherapie mit Gemcitabine, Carboplatin und Avastin. Die Chemotherapie wird auf Empfehlung des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L mit einer lokoregionalen Tiefenhyperthermie kombiniert, da diese nach seiner Auffassung "wahrscheinlich die Zystostatika in ihrer Wirkung verstärkt".
Die Antragsgegnerin lehnte die Übernahme der Kosten der Hyperthermiebehandlung im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass diese als neue Behandlungsmethode i.S.d. § 135 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen sei und dass sich auch aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kein Anspruch auf die begehrte Behandlung ergebe. Das dieser Entscheidung folgende Hauptsacheverfahren ist beim Sozialgericht (SG) Münster unter dem Aktenzeichen S 16 KR 526/12 anhängig.
Die Antragstellerin hat am 27.07.2012 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und vorgetragen, sie leide an einer zumindest lebensbedrohlichen Erkrankung, für die als Standbehandlung eine Chemotherapie in Betracht komme. Nicht auszuschließen sei jedoch, dass die ergänzende Durchführung von Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen könne, auch wenn ein Wirksamkeitsnachweis unter Zugrundelegung evidenzbasierter Medizin noch nicht erbracht sei. Aufgrund im Einzelnen benannter Studien spreche Einiges dafür, dass eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf anzunehmen sei. Ohne eine Kostenübernahme sei sie aufgrund ihrer finanziellen Lage dauerhaft nicht in der Lage, die Hyperthermiebehandlung durchführen zu lassen.
Die Antragstellerin hat beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, für sie – die Antragstellerin – die zukünftig anfallenden Kosten einer Hyperthermiebehandlung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.
Das SG Münster hat den Antrag mit Beschluss vom 08.08.2012 abgelehnt. Die Hyperthermie sei von der vertragsärztlichen Versorgung ausgenommen. Ein Anspruch ergebe sich auch nicht nach den Grundsätzen des "Off-Label-Use" bzw. unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Anerkannte Behandlung der Erkrankung der Antragstellerin sei die Chemotherapie; es reiche nicht aus, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die ergänzende Durchführung der Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen könne.
Mit ihrer Beschwerde vom 20.08.2012 verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Die Antragstellerin hat gegen die Antragsgegnerin Anspruch auf Gewährung von ambulanter lokoregionaler Tiefenhyperthermie in Verbindung mit der bei ihr durchgeführten Chemotherapie im Wege einstweiliger Anordnung.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) können einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann erlassen werden, wenn glaubhaft gemacht wird (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung), dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung, insbesondere bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache, wesentliche Nachteile i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG erleiden würde.
Die in tatsächlicher (Glaubhaftmachung) wie in rechtlicher Hinsicht (grundsätzlich summarische Prüfung) herabgesetzten Anforderungen für die Annahme eines Anordnungsanspruchs korrespondieren dabei mit dem Gewicht der glaubhaft zu machenden wesentlichen Nachteile. Drohen im Einzelfall ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen, da sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen haben (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – und vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07 -, jeweils m.w.N.).
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin ab Zustellung dieses Beschlusses (zukünftig) vorläufig bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens die begehrte Tiefenhyperthermie zu gewähren, sofern diese in Verbindung mit einer Chemotherapie durchgeführt wird.
Die Hyperthermie (u.a. Ganzkörperhyperthermie, Regionale Tiefenhyperthermie, Oberflächenhyperthermie, Hyperthermie in Kombination mit Radiatio und/oder Chemotherapie) ist eine i.S.d. § 135 Abs. 1 SGB V "neue" Behandlungsmethode, die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) durch Beschluss vom 14.05.2005 (BAnz. 2005, S. 7485) von der vertragsärztlichen Versorgung ausgenommen hat (vgl. Anlage II Nr. 42 der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung (RL-MvV) i.d.F. v. 17.01.2006, BAnz. 2006, S. 1523). Sie ist damit grundsätzlich nicht Gegenstand des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Gleichwohl besteht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zumindest derzeit ein Anspruch auf diese Behandlung. Das folgt aus einer verfassungskonformen Auslegung der leistungsrechtlichen Regelungen des SGB V. Danach ist es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende, Behandlungsmethode nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (BVerfGE, Beschlüsse vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98 – und vom 19.03.2009 – 1 BvR 316/09 -). Dass der GBA die streitige Methode der Anlage II der RL-MvV zugeordnet hat, und diese mithin grundsätzlich nicht im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung erbracht werden darf, steht einem möglichen Leistungsanspruch aufgrund verfassungskonformer Auslegung nicht entgegen (vgl. auch § 2 Abs. 2 RL-MvV i.d.F. vom 20.01.2011 – BAnz. Nr. 56 vom 08.04.2011, S. 1342; Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 22.07.2007 – L 5 B 8/07 KR ER – und vom 18.10.2011 – L 5 KR 442/ 11 B ER -).
Die Antragstellerin leidet unter einer zumindest lebensbedrohlichen Erkrankung; insoweit wird auf die Ausführungen von Dr. I in dem Sozialmedizinischen Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Westfalen-Lippe vom 21.06.2012 wird verwiesen.
Als Standardbehandlung für die vorliegende Krebserkrankung kommt, wie ebenfalls unstreitig ist und schlüssig in den Gutachten des MDK dargelegt wird, die auch tatsächlich durchgeführte Chemotherapie in Betracht.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass nicht schlechterdings auszuschließen ist, dass die – ergänzende – Durchführung von Hyperthermie einen Zusatznutzen aufweisen kann, auch wenn ein "Wirksamkeitsnachweis" unter Zugrundelegung der Maßstäbe evidenzbasierter Medizin noch nicht erbracht ist. Insoweit schließt sich der Senat der Auffassung des 5. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen (vgl. Beschlüsse vom 02.12.2008 – L 5 KR 170/08 ER – und vom 18.10.2011 a.a.O.) an, dass jedenfalls in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein solcher Sachverhalt dem Fehlen einer Standardtherapie gleichzustellen ist. Auch die Antragsgegnerin hat im Übrigen bezogen auf die Hyperthermiebehandlung keine alternative Therapie zu benennen vermocht (Sozialmedizinisches Gutachten von Dr. X vom 05.10.2012). Gleichfalls ist zumindest im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, das umfangreiche Ermittlungen ausschließt, und in Ermangelung sonstiger gesicherter Erkenntnissen den weiteren Feststellungen des 5. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 18.10.2011 a.a.O. zu folgen:
"Nach der von dem Sachverständigen Prof. Dr. T in seinem Gutachten vom 16.06.2011 (Seite 5) referierten Pilotstudie (Fotopoulou et al.) mit 36 unter einem rezidivierenden Ovarialkarzinom leidenden Teilnehmerinnen, im Rahmen derer eine regionale Tiefenhyperthermie in Kombination mit etablierten Chemotherapien geprüft wurde, blieb der Nutzen einer solchen Kombinationstherapie zwar unklar. Überdies existiert, wie Prof. Dr. T in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07.07.2011 ausgeführt hat, keine wissenschaftlich begründete Evidenz, die einen Vorteil zusätzlicher Hyperthermie zu einer Chemotherapie belegt. Gleichwohl sprachen sich die Autoren der zitierten Studie dafür aus, den Nutzen dieser Kombinationsbehandlung im Rahmen einer sog. Phase III Studie zu überprüfen. Wenn jedoch die Durchführung einer Phase III Studie, die die Überprüfung eines signifikanten Wirkungsnachweises eines Arzneimittels oder einer Behandlungsmethode zum Gegenstand hat, empfohlen wird, spricht dies nach vorläufiger Einschätzung dafür, eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung des BVerfG anzunehmen."
Angesichts dessen ist im Rahmen einer Folgenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin zu entscheiden. Auf Seiten der Antragstellerin ist das Rechtsgut Leben bedroht, wohingegen es auf Seiten der Antragsgegnerin lediglich um begrenzte finanzielle Folgen für einen beschränkten Zeitraum geht. Dass hierbei dem Rechtsgut Leben der Vorrang einzuräumen ist, bedarf keiner Erörterung (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 22.02.2007 – L 5 B 8/07 KR ER -, vom 18.10.2011 und vom 02.12.2008 beide a.a.O.).
Die Antragstellerin ist nach ihren glaubhaften Darlegungen im Übrigen auch nicht in der Lage, weiter die Kosten der Hyperthermiebehandlung zu tragen. Von ihren monatlichen Einnahmen i.H.v. 2.043,20 EUR verbleiben ihr nach Abzug der fortlaufenden Festkosten i.H.v. 1.013,50 für den allgemeinen Lebensunterhalt EUR 1.029,70 EUR, die von den durchschnittlichen Kosten der Hyperthermiebehandlung i.H.v. 812,78 EUR nahezu aufgezehrt würden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 19.12.2012
Zuletzt verändert am: 19.12.2012