Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 03.12.2012 geändert: Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern ab dem 15.11.2012 vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über ihre Klage (Az S 25 AS 4650/12) gegen den Bescheid vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2012, längstens jedoch bis zum 15.05.2013 Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs gemäß § 20 SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren ab 15.11.2012 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M, P, gewährt. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren in beiden Rechtszügen.
Gründe:
I.
Die 1965 geborene Antragstellerin zu 1) und ihre Kinder, die Antragsteller zu 2) und 3) sind italienische Staatsangehörige. Sie verfügen über eine bis 20.07.2013 gültige Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU.
Die Antragstellerin zu 1) lebte von 1982 bis 1996 in der Bundesrepublik und war hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 1987 heiratete sie in P den italienischen Staatsangehörigen E E. Die Antragstellerin zu 2) wurde 1995 in P geboren. 1996 kehrte die Familie nach Italien zurück, wo der Antragsteller zu 3) 1997 geboren wurde. Im Juli 2012 trennte sich die Antragstellerin zu 1) von ihrem Ehemann und reiste anschließend mit den Antragstellern zu 2) und 3) wieder in die Bundesrepublik ein. Die Antragsteller leben seither in P bei einem weiteren Sohn der Antragstellerin zu 1). Für die Antragsteller zu 2) und 3) wird von der Familienkasse Kindergeld gezahlt. Die Antragsteller verfügen nach einer am 22.01.2013 bei Gericht eingegangenen eidesstattlichen Versicherung darüber hinaus über kein Einkommen und Vermögen. Unterhalt wird vom Ehemann bzw. Vater, der in Italien lebt und arbeitslos ist, nicht gezahlt. Zur Überbrückung der Notlage hat sich die Antragstellerin zu 1) Geld von ihrem älteren Sohn geliehen. Die Antragstellerin zu 2) besucht seit September 2012 einen Integrationskurs der Diakonie. Die Rechnungen für die einzelnen Module in bisheriger Gesamthöhe von 500,00 Euro sind noch offen. Die Diakonie hat diesbezüglich eine Mahnung ausgesprochen und die Abmeldung vom Kurs angedroht.
Die Antragsteller haben am 17.08.2012 beim Antragsgegner einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gestellt. Der Antragsgegner hat den Antrag mit Bescheid vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2012 unter Hinweis auf den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II abgelehnt. Hiergegen haben die Antragsteller am 19.11.2012 zum Aktenzeichen S 25 AS 4650/12 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Am 15.11.2012 haben die Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Duisburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und begehrt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlich vorgesehener Höhe ab Antragstellung zu gewähren. Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 03.12.2012, zugestellt am 06.12.2012, abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht, weil deutlich mehr für das Eingreifen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II spreche als dagegen. Die Antragsteller erfüllten die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift. Erhebliche Zweifel daran, dass die Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union, insbesondere mit Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (Unionsbürgerrichtlinie) vereinbar sei, bestünden nicht. Wegen erstmaliger Zuwanderung zur Arbeitssuche dürfe sich der gemeinschaftsrechtliche Anspruch der Antragsteller auf Gleichbehandlung nur auf Gleichheit im Zugang zur Beschäftigung richten. Nur diejenigen Personen, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hätten, könnten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießen wie die inländischen Arbeitnehmer. Hiernach bestehe auch unter Beachtung des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein objektiver Grund, die Antragsteller von den Leistungen auszuschließen. Bei der Antragstellerin zu 1) hätten sich noch keine verfestigten Beziehungen zum deutschen Arbeitsmarkt entwickelt. Auch ein Verstoß gegen Art. 18 EGV sei nicht erkennbar, da das hier normierte Aufenthaltsrecht nicht absolut, sondern vorbehaltlich der im EGV und Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen gelte. So könnten die Mitgliedstaaten nach Art. 1 der Richtlinie 90/364 von den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates verlangen, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügten. Beantrage der Hilfesuchende gerade aus Mangel an Existenzmitteln eine Leistung wie das Arbeitslosengeld II, erwachse ihm entsprechend kein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitze. Es bestehe demnach keine Veranlassung, den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II in der vorliegenden Fallkonstellation europarechtlich in Frage zu stellen oder gar von seiner Anwendung abzusehen, solange jedenfalls keine eindeutigen Hinweise auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung in der Judikative des Bundesverfassungsgerichts bzw. des Europäischen Gerichtshofs gegeben werde.
Mit ihrer Beschwerde vom 07.12.2012 verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter. Sie sind der Auffassung, dass sie als italienische Staatsbürger vollumfänglich freizügigkeitsberechtigt seien. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass es eine Beziehung zur Bundesrepublik gebe. Die Antragstellerin zu 2) sei hier geboren, die Antragstellerin zu 1) habe lange hier gelebt und ein älterer Sohn lebe gleichfalls hier.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
den Antragsgegner unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Duisburg vom 03.12.2012 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der die Antragsteller betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Das Sozialgericht hat eine einstweilige Anordnung bezogen auf die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form eines Regel- und Mehrbedarfs zu Unrecht abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 23; Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn 28).
Der von den Antragstellern geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B Rn 5).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 24 f). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn 29a).
Den Antragstellern sind unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfs nach § 20 SGB II antragsgemäß zu gewähren.
Bezogen auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfs ist die Eilbedürftigkeit deshalb gegeben, weil die Antragsteller unter Berücksichtigung der eidesstattlichen Versicherung glaubhaft vorgetragen haben, über kein ausreichendes eigenes Einkommen und Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verfügen. Da sie sich nicht selbst zu helfen vermögen, benötigen sie die begehrten Leistungen nach dem SGB II, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu entscheiden. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts spricht viel dafür, dass der von den Antragstellern glaubhaft gemachte grundsätzliche Leistungsanspruch gem. § 20 SGB II nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist.
Die Antragsteller erfüllen nach summarischer Prüfung die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch. Die Antragstellerin zu 1) ist im Jahre 1965 geboren, die Antragstellerin zu 2) im Jahre 1995 und der Antragsteller zu 3) im Jahre 1997 (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Durchgreifende Bedenken gegen ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II bestehen nicht. Nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 SGB II erhebliche gesundheitliche Einschränkungen sind nicht ersichtlich. Der Annahme einer "rechtlichen Erwerbsfähigkeit" der Antragsteller gemäß § 8 Abs. 2 SGB II steht die italienische Staatsbürgerschaft nicht entgegen, da sie sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben zu Einkommen und Vermögen sind die Antragsteller hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II. Mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, ihren Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, haben sie an ihrem jetzigen Wohnort in P ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I; vgl. auch BSG Urteil vom 27.01.1994 – 5 RJ 16/93 Rn 25, 30 zu Verweildauer und -wille und zur sog. Zukunftsoffenheit des Aufenthalts). Weitere Anforderungen in rechtlicher Hinsicht sind an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auch bei Ausländern jedenfalls dann nicht zu stellen, wenn diesen – wie vorliegend – eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügigkeitsG/EU erteilt worden ist und deren Gültigkeit fortbesteht (vgl. BSG Urteil vom 25.01.2012 – B 14 AS 138/11 R Rn 17).
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist die Frage, ob die Antragsteller deshalb keine Leistungen erhalten können, weil zu ihren Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift. Wenngleich sich die Antragstellerin zu 1) – wohl – im Sinne dieser Vorschrift allein zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhält und damit als italienische Staatsbürgerin die Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für sich und ihre Kinder als Familienangehörige erfüllt, bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Leistungsausschluss in der vom Bundesgesetzgeber gewählten Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (aus der umfangreichen obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. LSG NRW Beschluss vom 09.11.2012 – L 6 AS 1324/12 B ER juris Rn 21; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER juris Rn 4 und Beschluss vom 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER juris Rn 10; LSG Hessen Beschluss vom 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER juris Rn 18 ff.; aA LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER juris Rn 36; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER juris Rn 32). Es spricht vielmehr viel dafür, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II durch Art. 4 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit verdrängt wird und daher keine Anwendung findet. Diese Verordnung, die die VO (EWG) 1408/71 abgelöst hat, ist am 01.05.2010 in der Bundesrepublik in Kraft getreten (s. Art. 91 VO (EG) 883/2004 i.V.m. der DurchführungsVO (EG) 987/2009) und seither als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Sie erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedürfte; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden und begründen somit gegenüber entgegenstehenden nationalrechtlichen Regelungen einen Anwendungsvorrang (s. Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union idF des am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, Abl. EG Nr. C 115 vom 09.05.2008, S. 47 – AEUV -; BVerfG Beschluss vom 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 juris Rn 53; s auch schon EuGH Urteil vom 15.07.1964 – Rechtssache C-6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist eröffnet.
Nach Art. 2 Abs. 1 VO gilt die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und ihre Familienangehörigen, für die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gelten oder galten. Dahinstehen bleiben kann hier, ob die Formulierung des persönlichen Geltungsbereichs eine Begrenzung auf versicherte Personen beinhaltet (ablehnend Frings, ZAR 2012, 317, 319), da die Antragstellerin zu 1) bereits vor ihrer (erneuten) Einreise in die Bundesrepublik hier sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.
Die von den Antragstellern begehrten Leistungen nach dem SGB II werden gem. Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 der Verordnung i.V.m. Anhang X – Deutschland – lit. b) ausdrücklich als besondere beitragsunabhängige Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst.
Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt und sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Bei den nach dem SGB II begehrten Leistungen handelt es sich um Rechtsvorschriften iSv Art. 4 VO. Art. 1 lit. l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff zwar als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". Damit ist aber keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden, weil die VO beitragsunabhängige Leistungen nicht als einen eigenen zusätzlichen Zweig der sozialen Absicherung in den Mitgliedstaaten versteht. Dies verdeutlicht die Formulierung in Art. 70 VO, die ausdrücklich Bezug nimmt auf die Merkmale der in Art. 3 Abs. 1 VO genannten Rechtsvorschriften (vgl Frings, ZAR 2012, 317, 319 m.w.N.). Leistungen nach dem SGB II sind Mischleistungen, die einerseits die in Art. 3 Abs. 1 lit. h) genannten Leistungen bei Arbeitslosigkeit betreffen, für die die VO anwendbar ist, andererseits aber auch Fürsorgeleistungen, für die nach Art. 3 Abs. 5 lit. a) der Geltungsbereich nicht eröffnet wäre. Ihrer Aufnahme in den Katalog der besonderen beitragsunabhängigen Leistungen über Anhang X zu Art. 70 VO (EG) 883/2004 kommt entsprechend konstitutive Wirkung zu (Frings, ZAR 2012, 317, 321).
Nach Art. 4 VO sind die Antragsteller deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen, für die ein Leistungsanspruch besteht. Soweit § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II Leistungen bei anderer Staatsangehörigkeit ausschließt, handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung Eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nur zulässig, wenn die VO sie ausdrücklich zulässt (vgl auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4 VO Rn 5). In der VO (EG) 883/2004 findet sich keine entsprechende Regelung.
Stehen den Antragstellern danach aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 grundsätzlich die zuerkannten Leistungen nach dem SGB II wie deutschen Staatsangehörigen zu, wird dieser aus dem Gleichbehandlungsgebot erwachsene Anspruch seinerseits nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Unionsbürgerrichtlinie eingeschränkt. Es gilt im Recht der EU keine formalrechtliche Rangordnung zwischen Verordnungen und Richtlinien. Auch im konkreten Verhältnis zwischen Unionsbürgerrichtlinie und der VO (EG) 883/2004 kann ein Vorrang der Unionsbürgerrichtlinie nicht angenommen werden. Zum einen sind die Anwendungsbereiche unterschiedlich. Während die Unionsbürgerrichtlinie Regelungen der Freizügigkeit beinhaltet, dient die VO (EG) 883/2004 der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Selbst wenn man aber das europäische Sozialrecht als "freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht" (Fuchs, Europäisches Sozialrecht 2010, 29) interpretiert, das dazu bestimmt ist, der Grundfreiheit "Freizügigkeit" zu dienen, ermöglicht die systematische Ausprägung von VO und Richtlinie einen Anwendungsvorrang letzterer nicht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass Richtlinie und Verordnung am selben Tag (29.04.2004) ohne jeden Bezug aufeinander erlassen worden sind. Wäre eine Einschränkung der VO durch die Richtlinie gewollt gewesen, hätte man eine ausdrückliche Bestimmung oder systematische Verknüpfung erwarten dürfen. Art 4 VO (EG) 883/2004 trifft in seinem Wortlaut jedoch die klare und ausdrückliche Bestimmung, dass Ausnahmen allein in der Verordnung selbst begründet sein können ("soweit in dieser VO nichts anderes bestimmt ist"). Auch in der Unionsbürgerrichtlinie wird ein Bezug zur Verordnung nicht hergestellt. Schließlich ist auch fraglich, ob der Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie in Art. 24 Abs. 2 konkret bezogen auf SGB II-Leistungen überhaupt eröffnet ist, da begrifflich allein "Leistungen der Sozialhilfe" erfasst werden. Ob es sich bei Leistungen nach dem SGB II um "Leistungen der Sozialhilfe" im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie handelt, ist jedoch fraglich (vgl zB LSG NRW Beschluss vom 26.02.2010 – L 6 B 154/09 AS ER juris Rn 19 mwN).
Aufgrund der Vielzahl der aufgezeigten, in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen, die der Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilen kann, kommt er im Rahmen der danach entscheidenden Folgenabwägung zu der einstweiligen Regelung zugunsten der Antragsteller. Ohne die beantragten Leistungen drohen ihnen existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden können. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollten. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand trägt der Senat bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem er die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners zeitlich begrenzt. Aus diesem Grund hat der Senat die den Antragstellern vorläufig gewährten Leistungen in Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II auf einen Zeitraum von 6 Monaten begrenzt. Der Antragsgegner kann den Leistungsumfang dadurch möglichst gering halten, dass er die Antragstellerin zu 1), die versucht, eine Arbeitsstelle zu finden, sogleich beginnend in diesen Bemühungen unterstützt.
Einem Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller zu 2) und 3) für die Durchführung des Eilverfahrens steht im Übrigen nicht entgegen, dass sich die ablehnende Entscheidung des Antragsgegners vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2012 ausdrücklich nur auf die Antragstellerin zu 1) bezieht, hingegen die Antragsteller zu 2) und 3) unberücksichtigt lässt. Wenngleich es noch an einer an sie gerichteten Verwaltungsentscheidung fehlt, ist den Antragstellern zu 2) und 3) ein weiteres Abwarten nicht zumutbar. Aus dem Verhalten des Antragsgegners im Verwaltungs- und Eilverfahren geht klar hervor, dass nach seiner Auffassung auch den Antragstellern zu 2) und 3) keine Leistungen zu bewilligen sind.
Da das Eilverfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erschien und die Antragsteller hilfebedürftig waren, war ihnen gem. § 73a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) die im erstinstanzlichen Verfahren beantragte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten zu bewilligen.
Die Kostenentscheidung bzgl. des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens beruht auf § 193 SGG. Ansonsten werden im Beschwerdeverfahren keine Kosten erstattet, vgl. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 05.02.2013
Zuletzt verändert am: 05.02.2013