Bezüglich des Zeitraumes vom 06.05. bis zum 31.08.2013 wird festgestellt, dass sich der Rechtsstreit erledigt hat. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.04.2013 zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.
Gründe:
I.
Die 1977 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste am 01.05.2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie ist im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/ EU). Die Antragstellerin hat eine am 00.00.1997 geborene Tochter, die bei den Großeltern in Polen lebt und für die sie Kindergeld von der Familienkasse L bezieht.
Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), dies zuletzt mit Bescheid vom 13.07.2012 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 07.08.2012 für den Zeitraum vom 01.08.2012 bis zum 31.01.2013. Einen am 13.08.2012 für den Zeitraum ab 01.09.2012 erteilten Aufhebungsbescheid hob der Antragsgegner auf den Widerspruch der Antragstellerin wieder auf (Bescheid vom 15.10.2012).
Mit Schreiben ebenfalls vom 15.10.2012 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin dazu an, dass er beabsichtige, die Leistungen ab 01.11.2012 einzustellen. Mit Bescheid vom 26.10.2012 hob er den "Bescheid vom 12.07.2012" auf und nahm die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen ab dem 01.11.2012 gem. § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ganz zurück. Die Antragstellerin könne keine Leistungen beanspruchen, weil sie "lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland" habe. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Antragstellerin vom 29.11.2012 wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2013 als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 11.02.2013 Klage zum Sozialgericht Duisburg (SG) zum Aktenzeichen S 35 AS 598/13 erhoben.
Am 05.03.2013 hat die Antragstellerin parallel dazu einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem SG gestellt und zunächst beantragt, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2013 anzuordnen. Mit Schreiben vom 21.03.2013 hat sie diesen Antrag in solchen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) umgestellt und nunmehr Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, hilfsweise als Darlehen, beantragt.
Einen Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin vom 19.03.2013 hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 02.04.2013 ebenfalls unter Hinweis auf die Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II abgelehnt. Über den hiergegen gerichteten Widerspruch der Antragstellerin ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden.
Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 16.04.2013 verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 05.03.2013 bis zum 31.08.2013, längstens jedoch bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 228,00 Euro monatlich zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin habe den für die von ihr begehrte Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG erforderlichen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es bestünden in rechtlicher Hinsicht Zweifel, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben überhaupt anwendbar sei. Diskutiert werde in diesem Zusammenhang insbesondere ein Verstoß gegen Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Wegen der Komplexität der Rechtslage sei eine abschließende Klärung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich und daher aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Die Interessenabwägung gehe vorliegend zugunsten der Antragstellerin aus, da es sich für diese um existenzsichernde Leistungen handele und dabei das auch ausländischen Staatsangehörigen zustehende Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) betroffen sei.
In zeitlicher Hinsicht sei der Anordnungsanspruch zunächst auf die Zeit ab dem 05.03.2013 (Eingang des Eilantrags bei Gericht) beschränkt. Die Antragstellerin habe auch erst im März 2013 einen Fortzahlungsantrag gestellt. Entsprechend der Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II sei der vorläufige Anspruch auf 6 Monate zu begrenzen.
Bezüglich der Anspruchshöhe sei von dem Regelbedarf für Alleinstehende (382,00 Euro) auszugehen und hierauf das der Antragstellerin gezahlte Kindergeld (184,00 Euro) abzüglich der Versicherungspauschale von 30,00 Euro als Einkommen anzurechnen. Kosten der Unterkunft und Heizung fielen nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin derzeit ohnehin nicht an.
Hinsichtlich des von der Antragstellerin ebenfalls geltend gemachten Zuschusses zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung sei ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Ausweislich eines Schreibens ihrer Versicherung würden die Leistungen lediglich ruhen, was gem. § 193 Abs. 6 S. 6 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) Leistungen zur Behandlung akuter Schmerzzustände und Erkrankungen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft nicht ausschließe. Die Antragstellerin habe nicht vorgetragen, dass sie aktuell einer bestimmten Behandlung bedürfe, die von diesem Leistungsumfang nicht erfasst sei.
Der Antragsgegner hat gegen den ihm am 19.04.2013 zugestellten Beschluss am 23.04.2013 Beschwerde erhoben. Zur Begründung vertritt er die Auffassung, die Antragstellerin erfülle bereits nicht die in § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II normierte Leistungsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts. Sie habe nicht glaubhaft gemacht, über einen Aufenthaltstitel zu verfügen, der ihren persönlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik zulasse. Insbesondere sei die Antragstellerin – zumindest für die Zeit ab 05.03.2013 – nicht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Seit ihrer Antragstellung am 17.05.2011 sei sie weder einer selbständigen Tätigkeit nachgegangen noch abhängig beschäftigt gewesen. Das FreizügG/EU lege für die Arbeitssuche zwar keine Frist fest. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei ein arbeitsuchender EU-Bürger jedoch nur so lange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit suche. Das Gemeinschaftsrecht verwehre einem Mitgliedstaat nicht, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates, der sich zum Zweck der Stellensuche in seinem Gebiet aufhalte, auszuweisen, wenn dieser nach 6 Monaten keine Stellung gefunden habe, sofern der Betroffene nicht nachweise, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit suche. Die Antragstellerin habe sich seit ihrer Einreise im Mai 2011, wohl wegen einer von ihr angeführten Beziehung zu einem Deutschen, nicht um einen Arbeitsplatz bemüht und auch nach der Trennung im März 2012 bislang kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Bemühungen um einen konkreten Arbeitsplatz seien nicht ersichtlich, die Antragstellerin sei der deutschen Sprache nicht mächtig.
Der Anordnungsanspruch scheitere aber auch am Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese Ausschlussvorschrift europa- bzw. völkerrechtswidrig sei. Solange jedenfalls keine eindeutigen Hinweise auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in der Judikative des Bundesverfassungsgerichts bzw. EuGH vorlägen, könne diese Norm nicht in Frage gestellt oder gar von ihrer Anwendung abgesehen werden.
Die Antragstellerin hat am 06.05.2013 eine geringfügige Beschäftigung als Housekeeperin aufgenommen (Arbeitsvertrag mit der L Zeitarbeit GmbH vom 02.05.2013). Die Beteiligten haben das Eilverfahren für den Zeitraum ab dieser Arbeitsaufnahme für erledigt erklärt.
Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.04.2013 aufzuheben und den Eilantrag der Antragstellerin für den Zeitraum vom 05.03.2013 bis 05.05.2013 abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig und hat unter Vorlage einer Bescheinigung der L Zeitarbeit GmbH vom 29.04.2013 darauf hingewiesen, dass sie sich schon seit Februar 2013 um eine Arbeitstätigkeit bemüht habe.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Die zulässige Beschwerde, die nach übereinstimmender Erledigungserklärung der Beteiligten bezogen auf den Zeitraum ab 06.05.2013 zeitlich auf den Zeitraum vom 05.03.2013 bis zum 05.05.2013 beschränkt hat, ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit dem angefochtenen Beschluss vom 16.04.2013 zu Recht bezüglich des nur noch streitgegenständlichen Zeitraums zur vorläufigen Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Form der Regelleistung abzüglich des erzielten anzurechnenden Einkommens verpflichtet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 23; Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn. 28). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn. 28).
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B Rn. 5).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 24 f). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 29a).
Der Antragstellerin sind unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfs nach § 20 SGB II abzüglich des erzielten anzurechnenden Einkommens im streitigen Zeitraum vom 05.03.2013 bis 05.05.2013 antragsgemäß zu gewähren.
Eilbedürftigkeit ist gegeben, weil die Antragstellerin für den streitigen Zeitraum glaubhaft vorgetragen hat, über kein ausreichendes eigenes Einkommen sowie Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verfügen und deshalb die vom Sozialgericht gewährten Leistungen nach dem SGB II benötigt hat, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Ob ein über den Anordnungsanspruch hinausgehender Leistungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu entscheiden. Es spricht allerdings viel dafür, dass der von der Antragstellerin glaubhaft gemachte grundsätzliche Leistungsanspruch gem. § 20 SGB II nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist.
Die Antragstellerin erfüllte nach der hier gebotenen summarischen Prüfung die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch. Sie ist im Jahr 1977 geboren und zählt damit zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II. Bedenken gegen ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II bestehen nicht. Der Annahme einer "rechtlichen Erwerbsfähigkeit" der Antragstellerin gemäß § 8 Abs. 2 SGB II steht ihre ausländische Staatsbürgerschaft nicht entgegen, da die Antragstellerin sich als Unionsbürgerin auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben zu Einkommen und Vermögen ist die Antragsteller hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II.
Die Antragstellerin hat an ihrem Wohnort in Duisburg auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II begründet. Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes ist dabei in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilen. Entscheidend ist, ob die Antragstellerin den örtlichen Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft in der Bundesrepublik hat. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist (BSG Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R Rn. 18), wobei der Domizilwille nur soweit Relevanz hat, wie er mit den tatsächlichen Umständen im streitigen Zeitraum übereinstimmt (BSG Urteil vom 27.01.1994 – 5 RJ 16/93 Rn. 30 m.w.N.). Eine spekulative Abwägung bzw. Prognose zukünftiger Geschehnisse ist unzulässig (BSG a.a.O.). Weitere Anforderungen in rechtlicher Hinsicht sind an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auch bei Ausländern jedenfalls dann nicht zu stellen, wenn diesen – wie vorliegend – eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt worden ist und deren Gültigkeit fortbesteht (vgl. BSG Urteil vom 25.01.2012 – B 14 AS 138/11 R Rn. 17; LSG NRW Beschluss vom 06.06.2013 – L 6 AS 170/13 B ER).
Die Antragstellerin hat mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, ihren Lebensmittelpunkt hierher zu verlegen, einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet und seither nach den aktenkundigen Umständen aufrechterhalten. Sie verfügt über eine (unbefristete) Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist das Tatbestandsmerkmal des gewöhnlichen Aufenthalts im streitigen Zeitraum nicht unter Hinweis darauf zu verneinen, dass die Antragstellerin auch 6 Monate nach ihrer Einreise keine Stellung gefunden und nicht nachgewiesen habe, dass sie weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit suche. Nach der von der Antragstellerin vorgelegten Bescheinigung der L Zeitarbeit GmbH hat sie dort im Februar, März und April 2013 persönliche Vorstellungsgespräche geführt, sich also im streitigen Zeitraum durchaus um Arbeit bemüht. Ihre Bemühungen haben auch Erfolg gezeigt, denn die Antragstellerin hat am 02.05.2013 einen Arbeitsvertrag erhalten. Ob vor diesem tatsächlichen Ablauf von einer fehlenden Aussicht der Arbeitssuche auf Erfolg ausgegangen werden kann, begegnet Bedenken, kann aber dahinstehen. Auch ohne Erfolgsaussichten der Arbeitssuche konnte die Antragstellerin ihr Recht zum Aufenthalt in der Bundesrepublik (weiterhin) aus § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ableiten. Das Aufenthaltsrecht erlischt nach dem FreizügG/EU nicht automatisch dann, wenn die Arbeitssuche über einen längeren Zeitraum ohne Erfolg bleibt und dem Antragsteller ein Aufenthaltsrecht auch nicht aus anderen Umständen zukommt (aA wohl LSG NRW Beschluss vom 18.04.2013, L 19 AS 362/13 B ER). Vielmehr sieht das FreizügG/EU, das die Beendigung bzw. Beschränkung des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern abschließend und umfassend regelt (Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 6 FreizügG/EU Rn. 9; vgl. auch Brinkmann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2010, § 6 FreizügG/EU Rn. 1) einen Verlust des Aufenthaltsrechts nach der Vorschrift des § 6 FreizügG/EU allein dann vor, wenn die zum Vollzug des Gesetzes zuständige (Ausländer-)Behörde eine entsprechende Feststellung trifft (BSG Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R Rn. 20; Dienelt a.a.O. Rn. 11, 59). Erst nach dieser Feststellung wird gem. § 7 FreizügG/EU eine Ausreisepflicht begründet. Die Feststellung, die nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU schriftlich und nach Anhörung des Unionsbürgers (§ 6 Abs. 8 FreizügG/EU) ergeht, stellt einen Verwaltungsakt dar (Dienelt a.a.O. Rn. 60) und kann nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erfolgen (§ 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU). Dabei hat die Behörde gem. § 6 Abs. 3 FreizügG/EU die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Die Entscheidungen oder Maßnahmen, die den Verlust des Aufenthaltsrechts oder des Daueraufenthaltsrechts betreffen, dürfen darüber hinaus nicht zu wirtschaftlichen Zwecken getroffen werden (§ 6 Abs. 6 FreizügG/EU). Nach der gesetzlichen Konzeption des FreizügG/EU und im Hinblick auf das grundgesetzlich verankerte Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) steht den mit Fragen sozialrechtlicher Leistungsansprüche befassten Behörden oder Gerichte ein von der Ausländerbehörde losgelöstes eigenes Recht, den Verlust des Aufenthaltsrechts (inzident) festzustellen, nicht zu.
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist die Frage, ob die Antragstellerin im streitigen Zeitraum deshalb keine Leistungen erhalten kann, weil zu ihren Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift. Wenngleich sie sich im Sinne der Vorschrift zumindest seit der Trennung von ihrem Lebensgefährten allein zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufgehalten und damit als polnische Staatsbürgerin die Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II erfüllt hat, bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Leistungsausschluss in der vom Bundesgesetzgeber gewählten Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (aus der umfangreichen obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. LSG NRW Beschluss vom 31.01.2013 – L 2 AS 2457/12 B ER juris Rn. 20; Beschluss vom 09.11.2012 – L 6 AS 1324/12 B ER juris Rn. 21; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER juris Rn. 4 und Beschluss vom 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER juris Rn. 10; LSG Hessen Beschluss vom 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER juris Rn. 18 ff.; aA LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER juris Rn. 36; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER juris Rn. 32). Es spricht vielmehr viel dafür, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II durch Art. 4 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit verdrängt wird und daher keine Anwendung findet. Diese Verordnung, die die VO (EWG) 1408/71 abgelöst hat, ist am 01.05.2010 in der Bundesrepublik in Kraft getreten (s. Art. 91 VO (EG) 883/2004 i.V.m. der DurchführungsVO (EG) 987/2009) und seither als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Sie erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedürfte; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden und begründen somit gegenüber entgegenstehenden nationalrechtlichen Regelungen einen Anwendungsvorrang (s. Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union idF des am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, Abl. EG Nr. C 115 vom 09.05.2008, S. 47 – AEUV; BVerfG Beschluss vom 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 juris Rn. 53; s. auch schon EuGH Urteil vom 15.07.1964 – Rechtssache C-6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist eröffnet.
Nach Art. 2 Abs. 1 VO gilt die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und ihre Familienangehörigen, für die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gelten oder galten. Dahinstehen bleiben kann hier, ob die Formulierung des persönlichen Geltungsbereichs eine Begrenzung auf versicherte Personen beinhaltet (ablehnend Frings, ZAR 2012, 317, 319), da die Antragstellerin bereits aufgrund des Bezugs von Kindergeld den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland unterliegt.
Die von der Antragstellerin begehrten Leistungen nach dem SGB II werden gem. Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 der Verordnung i.V.m. Anhang X – Deutschland – lit. b) ausdrücklich als besondere beitragsunabhängige Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst (vgl. hierzu ausführlich z.B. LSG NRW Beschluss vom 31.01.2013 – L 2 AS 2457/12 B ER).
Aufgrund der Vielzahl der aufgezeigten, in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen hat das SG zutreffend im Rahmen der danach entscheidenden Folgenabwägung die einstweilige Regelung zugunsten der Antragstellerin getroffen. Auf die entsprechenden Ausführungen, auch zur Höhe des Leistungsanspruchs, wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
Die Kostenentscheidung bzgl. des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 17.10.2013
Zuletzt verändert am: 17.10.2013