Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 28.9.2012 geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6.2.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2012 verurteilt, den Erlassantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aus beiden Instanzen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist der Erlass einer restlichen Erstattungsforderung.
Der am 00.00.1944 geborene Kläger beantragte im November 2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Dabei gab er (wahrheitswidrig) an, keine geringfügige Beschäftigung auszuüben. Die Beklagte gewährte ab dem 1.2.2004 (vorzeitige) Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Höhe von (zunächst) EUR 1398,52 monatlich netto. Dabei wies sie darauf hin, dass die monatliche Hinzuverdienstgrenze EUR 345 betrage und der Kläger verpflichtet sei, die Ausübung einer Beschäftigung anzuzeigen (Bescheid vom 11.12.2003). Im Rahmen einer Betriebsprüfung stellte die Beklagte fest, dass der Kläger seit Mai 2003 auf dem Schlachthof Essen als Aushilfsfahrer mit einer monatlichen Vergütung von EUR 400 beschäftigt war. Dazu angehört teilte der Kläger (nur) mit, dort ab April 2007 nur noch EUR 350 monatlich zu verdienen.
Die Beklagte hob den Bescheid vom 11.12.2003 für die Zeit vom 1.2.2004 bis zum 31.3.2007 auf, gewährte statt der Vollrente Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Höhe von (nur noch) zwei Dritteln der Vollrente und stellte für den genannten Zeitraum einen Erstattungsanspruch von EUR 17.315,82 fest (Bescheid vom 8.6.2007). Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe auf den Bestand des Bescheides vom 11.12.2003 vertraut und entsprechende Vermögensdispositionen getroffen, insbesondere einen hohen Kredit bei der Citibank aufgenommen. Die Rückforderung von EUR 18.002,61 stehe in krassem Missverhältnis zu dem Betrag von ca. EUR 2.000, den er unwissentlich zu viel verdient habe. Hätte er seinen Nebenverdienst anders auf das Kalenderjahr verteilt, hätte er das Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze vermeiden können. Dass er seinen Hinzuverdienst nicht mitgeteilt habe, beruhe auf Fahrlässigkeit, nicht auf Arglist. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück: Eine Reduzierung der Rückforderungssumme im Rahmen der Ermessensausübung komme nicht in Betracht, es liege keine besondere Härte vor. Dem Kläger seien zwei Drittel seiner Altersrente (EUR 909,62) zuzüglich des Entgelts aus der Aushilfstätigkeit von seinerzeit monatlich EUR 400, also insgesamt EUR 1.300 monatlich verblieben. Die Ehefrau des Klägers verdiene EUR 300 monatlich. Im Übrigen seien wirtschaftliche Gesichtspunkte im Rahmen des Ermessens nicht zu berücksichtigen. Sie könnten (nur) bei der Realisierung der Rückforderung Beachtung finden. Die dagegen beim Sozialgericht (SG) Duisburg erhobene Klage (Aktenzeichen (Az) S 28 KN 171/08) nahm der Kläger zurück und beantragte die Niederschlagung der Rückforderung, hilfsweise deren Stundung. Während des Klageverfahrens wurde über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet (Beschluss des Amtsgerichts Essen vom 17.10.2008).
Die Beklagte lehnte die Niederschlagung ab; Niederschlagen dürfe sie nur, wenn feststehe, dass die Einziehung keinen Erfolg verspreche oder wenn die Kosten der Einziehung außer Verhältnis zur Höhe des Anspruchs stünden. Beides sei hier nicht der Fall. Sie entschied außerdem, in Höhe von monatlich EUR 505, 82 nach § 51 Abs 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) mit den monatlichen Rentenzahlungsanspruch aufzurechnen (Bescheid vom 9.11.2009). Dem Antrag auf Stundung entsprach die Beklagte mit der Auflage, dass vom Kläger monatlich EUR 400 zu tilgen seien, die sie "zur Vereinfachung" von der monatlichen Rentenzahlung einbehalte (Bescheid vom 29.6.2010; Widerspruchsbescheid vom 26.10.2010). Das anschließende Klageverfahren (SG Duisburg, Az S 28 KN 552/10) endete durch gerichtlichen Vergleich. Darin wurden die monatlichen Raten auf EUR 300 abgesenkt. Gleichzeitig verpflichtete sich die Beklagte, unter Berücksichtigung der konkreten Einzelsituation des Klägers, der bereits erfolgten Tilgung und des der Versichertengemeinschaft nur rein formal entstandenen Schadens zu prüfen, ob ein Erlass der Restforderung ab April 2012 in Betracht komme (Vergleich vom 13.1.2012). Die Beklagte lehnte einen solchen Erlass ab: Unbilligkeitsgründe, die einen Erlass begründeten, bestünden nicht (Bescheid vom 6.2.2012; Widerspruchsbescheid vom 14.5.2012).
Der Kläger hat dagegen am 4.6.2012 Klage erhoben. Er könne die monatlichen Raten von EUR 300 nur aufbringen, weil seine Ehefrau ebenfalls erwerbstätig sei. Dies komme einer "Sippenhaft" gleich. Die Beklagte habe zudem nicht beachtet, dass der Arbeitgeber allein entschieden habe, wie der Jahresverdienst auf die Monate des Jahres verteilt werde. Wäre dieser bereit gewesen, ihm jährlich in zwei Monaten Sonderzuwendungen zu gewähren, wäre kein Anspruch der Beklagten entstanden. Die Versichertengemeinschaft erhalte deshalb jetzt Gelder, die ihr materiell nicht zustünden. Es sei überdies zu beachten, dass die Hinzuverdienstgrenze ab 2008 (wieder) in Einklang mit der Höchstgrenze für geringfügige Beschäftigungen gebracht worden sei.
Das SG hat die Klage abgewiesen: Schon die – rechtmäßig vereinbarte – Stundung stehe einem Erlass entgegen. Der Kläger habe sich ausdrücklich mit der Stundung einverstanden erklärt, statt auf einem (Teil-)Erlass zu bestehen. Auch sonst seien die Voraussetzungen für einen Erlass nicht gegeben. Ein Erlass aus Billigkeitsgründen komme nur in Betracht, wenn die Durchsetzung des Anspruchs zu einer Existenzgefährdung führe. Seien die wirtschaftlichen Verhältnisse hingegen – wie hier beim Kläger – insgesamt so ungünstig, dass eine generelle Verbesserung in Zukunft nicht zu erwarten sei, wirke sich ein Billigkeitserlass nicht zu Gunsten des Schuldners, sondern allenfalls zu Gunsten seiner Gläubiger aus. Da keine Unbilligkeit vorliege, komme es auf einen Ermessensfehlgebrauch nicht mehr an (Gerichtsbescheid vom 28.9.2012, zugestellt am 15.10.2012).
Mit seiner Berufung vom 12.11.2012 trägt der Kläger vor, die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs stelle eine unbillige Härte dar, die dem verfassungsrechtlichen Gebot des Schutzes der Familie und der allgemeinen Handlungsfreiheit zuwiderlaufe. Bei der Frage nach einem Erlass dürfe nur auf seine Einkünfte, nicht zusätzlich auf diejenigen seiner Ehefrau abgestellt werden. Die Rückforderung sei persönlich und sachlich unbillig.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 28.9.2012 zu ändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 6.2.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2012 zu verurteilen, mindestens die noch bestehende Restforderung in Höhe eines Betrages von 5400 Euro zu erlassen, hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, den Antrag auf Erlass unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurück zu weisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger bei der Beklagten die Zurücknahme des Bescheides vom 8.6.2007 beantragt. Die Beklagte hat den Antrag abgelehnt (Bescheid vom 7.5.2013).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie die beigezogenen Vorprozessakten des SG Duisburg (S 28 KN 171/08 und S 28 KN 552/10) Bezug genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Wesentlichen begründet.
Zu Unrecht hat das SG die Klage für unbegründet gehalten. Der Bescheid vom 6.2.2012 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2012, § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) beschwert den Kläger. Der Bescheid ist rechtswidrig, weil die Beklagte bei ihrer Entscheidung ihr Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise gebraucht hat, § 54 Abs 2 S 2 SGG (vgl auch § 39 Abs 1 SGB I). Es besteht allerdings kein Anspruch des Klägers (iS seines Hauptantrags) auf Verurteilung der Beklagten zum Erlass des beantragten Verwaltungsaktes (Erlass der Restforderung), weil die erstrebte Verurteilung nicht (ausnahmsweise) die einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung darstellt. Deshalb ist die Beklagte (nur) zu verpflichten, den Antrag des Klägers auf Erlass der Restforderung (von etwa EUR 5.400) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden, § 131 Abs 2 S 2 iVm Abs 3 SGG. Der Kläger macht seinen Anspruch zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage geltend (Bötticher in JurisPK, SGB IV, § 76 Rdnr 16 mit Verweis auf BSG SozR 3-2400 § 46 Nr 2 S 8). Der Kläger ist auch nach Einleitung des Insolvenzverfahrens weiter prozessführungsbefugt, da es nicht um zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen geht (§ 80 Abs 1 Insolvenzordnung – InsO), sondern um eine Befriedigung durch privilegierte Aufrechnung (§ 51 Abs 2 SGB I) außerhalb des Insolvenzverfahrens (vgl auch § 94 InsO).
Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Beklagte seinen im Vergleich vom 13.1.2012 gestellten Antrag "auf Erlass der Restforderung [ ] ab April 2012" neu bescheidet, weil die Beklagte ihr Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat. Dieser Anspruch folgt aus § 76 Abs 2 S 1 Nr 3 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) iVm § 39 Abs 1 S 2 SGB I.
Nach § 76 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB IV darf ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Diese Vorschrift entspricht § 227 Abgabenordnung (AO), zu deren mit der Regelung des SGB IV wortgleichen Vorgängervorschrift (§ 131 AO) der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden hat, dass der Begriff der Unbilligkeit nicht losgelöst vom Ermessen der Behörde beurteilt werden könne (BVerwGE 39, 355 ff). Die unlösbare Verzahnung zwinge zur Annahme einer einheitlich zu treffenden Ermessensentscheidung. Der Begriff "unbillig" ragt danach in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. Die Entscheidung über den Erlass ist damit eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den weiten unbestimmten (Rechts-)Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (BFH, Urteil vom 03.02.2010, Az II R 25/08; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9.8.2011, Az 1 K 1369/07). Entsprechend dieser finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist – entgegen der Annahme des SG – auch im Rahmen des § 76 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB IV eine sich am Begriff der Unbilligkeit orientierende Ermessensentscheidung zu treffen (BSGE 83, 292; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2005, Az L 8 AL 4537/04; LSG NRW, Urteil vom 27.10.2011, Az L 16 KR 668/10 KL, Rdnr 18) und nicht zunächst der unbestimmte Rechtsbegriff der Unbilligkeit zu bestimmen und danach in einem zweiten Schritt das Ermessen auszuüben (so allerdings wohl: von Boetticher in jurisPK, SGB IV, § 76 Rdnr 31). Von dieser unzutreffenden Rechtsauffassung sind sowohl die Beklagte im Bescheid vom 6.2.2012 als auch das SG im angefochtenen Urteil ausgegangen. Die Beklagte hat im Ausgangsbescheid kein Ermessen ausgeübt, sondern nur – formelhaft – Unbilligkeit geprüft. Dieser Mangel ist auch durch den Widerspruchsbescheid vom 14.5.2012 nicht (vollständig) geheilt worden, § 41 Abs 1 S 1 Ziff 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zwar lässt die Formulierung am Ende von Seite 2 "Nach alledem verbleibt es bei der Ermessenentscheidung dabei, dass die Einziehung nach Lage der Akten nicht unbillig ist" auch die Deutung zu, dass der Beklagten die oben skizzierte Rechtlage bekannt war. Indes übt die Beklagte ihr Ermessen jedenfalls nicht pflichtgemäß aus.
Nach § 39 Abs 1 S 2 SGB I haben Betroffene einen Anspruch auf Ausübung pflichtgemäßen Ermessen, also darauf, dass das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt wird und die gesetzlichen Grenzen des Ermessen eingehalten werden, § 39 Abs 1 S 1 SGB I. Diesen Anspruch erfüllt die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden nicht. Sie berücksichtigt insbesondere absprachewidrig nicht die im Vergleich vom 13.1.2012 einvernehmlich als bedeutsam eingestuften (Billigkeits-) Kriterien im Rahmen ihrer Ermessenbetätigung.
In diesem vor dem SG Duisburg geschlossenen Vergleich vom (Az S 28 KN 552/10) hat die Beklagte sich ausdrücklich verpflichtet, auf der Hand liegende, konkret fallbezogene Umstände "pflichtgemäß" zu berücksichtigen ("konkrete Einzelsituation des Klägers", "bereits erfolgte Tilgung" und "der Versichertengemeinschaft nur rein formal entstandener Schaden"). Es kann offenbleiben, in welchem Umfang eine solche Vereinbarung wegen der Bindung an Recht und Gesetz wirksam getroffen werden kann, §§ 53, 54 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Jedenfalls bestehen aus Rechtsgründen keine Bedenken gegen eine Vereinbarung, mit der offensichtlich bedeutsame Gesichtspunkte in die Ermessenabwägung einbezogen werden. An diese Vereinbarung hat sich die Beklagte nicht gehalten und allein deshalb ihr Ermessen nicht pflichtgemäß (nämlich gemäß ihrer am 13.1.1.2012 eingegangenen Verpflichtung) ausgeübt. Sie hat die im Vergleich festgehaltenen Tatsachen im Widerspruchsbescheid zwar erwähnt (wiedergegeben), sie bei ihrer Ermessensbetätigung aber erkennbar nicht berücksichtigt. Insbesondere fehlen (vom Kläger zu Recht erwartete) Ausführungen dazu, wieso trotz der im Vergleich vom 13.1.2012 ausdrücklich genannten, zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen ein (teilweiser) Erlass nicht in Betracht kommt. Stattdessen hat die Beklagte – jedenfalls auch – die rechtsirrige Ansicht vertreten, sie dürfe die Restschuld nur (teilweise) erlassen, wenn eine Stundung nicht mehr in Betracht komme. Das ist zumindest im konkreten Fall falsch: Dass eine Stundung (weiter; hilfsweise) in Betracht kommt, war den Beteiligten bereits im Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs vom 13.1.2012 bewusst. Sie haben explizit eine Änderung der Stundungsvereinbarung zum Gegenstand des Vergleichs gemacht. Wenn sie gleichzeitig vereinbaren zu prüfen, ob die Restforderung erlassen werde, und bei der danach zu treffenden Entscheidung besonders zu berücksichtigende Gesichtspunkte vereinbart werden, kann dies nur bedeuten, dass zumindest im konkreten Fall die Stundungsmöglichkeit (jedenfalls ab 1.4.2012) dem Erlass nicht mehr entgegenstehen soll, die Beklagte also auf diese Einwendung – bestünde sie – verzichtet. Das wird die Beklagte bei der neu zu treffenden Entscheidung über den Erlass zu beachten haben.
Daneben wird sie zu Gunsten des Klägers die ausdrücklich genannten sachlichen Gesichtspunkte im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu berücksichtigen haben, also entsprechend dem Vergleich davon auszugehen, dass die zwischen den Beteiligten – sogar kraft Vereinbarung – als "ermessensrelevant" eingestuften für den Kläger sprechenden Gesichtspunkte in der Regel zu einem (teilweisen) Erlass führen müssen.
Das bedeutet im Einzelnen: Sie muss in Rechnung stellen, "dass der Versichertengemeinschaft nur rein formal ein Schaden entstanden ist", dh dass der Kläger bei einer anderen, rechtlich zulässigen Verteilung seines Jahresverdienstes keinem Rückforderungsanspruch ausgesetzt wäre. Zugunsten des Klägers wird die Beklagte weiter die "bis April 2012 bereits erfolgte Tilgung" (fast 50%) zu berücksichtigen haben. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Umstand zu, dass diese Tilgung nur dadurch möglich wurde, dass sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau (diese bei krankheitsbedingter Leistungseinschränkung) ohne rechtliche Verpflichtung und trotz laufenden Insolvenzverfahrens einer Beschäftigung nachgegangen sind, obwohl sie (anders als die Beklagte) wirtschaftlich davon kaum profitierten. Das bedeutet, dass der Kläger und seine Ehefrau bis zum 31.3.2012 überobligatorisch zugunsten der Versichertengemeinschaft an einer Rückführung überzahlter Leistungen mitgewirkt haben.
Soweit die Beteiligten daneben die besondere Berücksichtigung der "Einzelsituation des Klägers" bei der erneut zu treffenden Ermessensentscheidung vereinbart haben, ist nicht klar erkennbar, ob davon sonstige (nicht ausdrücklich bezeichnete) Umstände erfasst werden oder – was näher liegt – ob das Zusammenwirken der genannten Umstände nochmals als besondere Ermessensüberlegung berücksichtigt werden soll.
Die Beklagte wird bei der nun zu treffenden Ermessensentscheidung allerdings zugunsten des Klägers einen weiteren Umstand zu beachten haben. Das SG hat seinen Vergleichsvorschlag ausweislich der Sitzungsniederschrift ua damit begründet, dass die Hinzuverdienstgrenzen inzwischen "reformiert" seien und Rentnern damit ein "wesentlicher höherer Hinzuverdienst" ermöglicht werde. Damit gemeint ist offenbar der ab Januar 2008 vom Gesetzgeber wieder hergestellte Einklang zwischen steuer- und sozialversicherungsrechtlichem Grenzbetrag für eine geringfügige Beschäftigung einerseits und der Hinzuverdienstgrenzen des § 34 Abs 3 SGB VI andererseits (stufenweise Anhebung der Hinzuverdienstgrenze bei der Vollrente wegen Alters von zunächst EUR 325 im Jahr 2002 bis auf EUR 400 zum 1.1.2008, seit 2013: EUR 450). Der Kläger hat die (seit 2008 wieder der Grenze für eine geringfügige Beschäftigung iS von § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV entsprechende) Hinzuverdienstgrenze von EUR 400 niemals überschritten. Die Beklagte hat sich mit dem Abschluss des Vergleichs auf dieser Basis konkludent verpflichtet, (auch) diese Überlegung bei der Ermessenbetätigung zu berücksichtigen.
Eine Verurteilung der Beklagten zum vollständigen Erlass oder zumindest zu einem konkret bezifferbaren Teilerlass kommt dagegen (noch) nicht in Betracht. Dies setzte voraus, dass angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls aus Rechtsgründen nur eine einzige Entscheidung ergehen kann (sog. Ermessensreduzierung auf null). Dies ist (noch) nicht der Fall, weil noch offen ist, ob bei pflichtgemäßer Abwägung aller Ermessensgesichtspunkte ein vollständiger oder nur ein teilweiser Erlass der im April 2012 noch bestehenden Restforderung auszusprechen ist. Der Beklagten verbleibt noch ein (Rest-)Ermessen, bei dem sie das zum Rückforderungsbetrag führende Verhalten des Klägers, seine wirtschaftlichen Verhältnisse und das generelle Interesse der Versichertengemeinschaft an einer möglichst umfassenden Rückholung überzahlter Renten (mit-)berücksichtigen darf. Auch unter (Mit-)Berücksichtigung dieser Interessen ist allerdings ein vollständiger Erlass keinesfalls ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 S 1, 193 Abs 1 S 1 SGG. Obwohl der Kläger mit seiner Klage zum Teil unterliegt (Hauptantrag), hat die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers nach dem Veranlassungsprinzip vollständig zu erstatten. Denn sie hat mit ihrer offensichtlich ermessensfehlerhaften Entscheidung den Rechtsstreit maßgeblich, wenn nicht ausschließlich veranlasst. Daneben ist zu berücksichtigen, dass eine Ermessensfehlerfreie Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, dass dem Kläger – wenn schon nicht die gesamte, so doch – ein ganz erheblicher Teil der am 1.4.2012 noch bestehenden Erstattungsforderung erlassen wird.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG. Die Rechtssache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung, weil die Entscheidung im Wesentlichen auf einer Würdigung von Tatsachen des Einzelfalls beruht.
Erstellt am: 30.10.2013
Zuletzt verändert am: 30.10.2013