Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 01.04.2014 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem glaubhaft gemachten Fehlen von Eigenmitteln. Verbleibende Zweifel sind der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt der Antragsteller die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hat seine Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Umstritten und fraglich ist jedoch, ob zu seinen Lasten der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift, weil sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Offen ist, ob die vom Antragsteller im Jahr 2013 ausgeübte Tätigkeit ein anderes Aufenthaltsrecht i.S. der Vorschriften des FreizügG/EU begründet. Insoweit nimmt der Senat auf Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).
Wenn unterstellt wird, dass allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gegeben ist, ist im Hinblick auf die nicht geklärte Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht sowie der ungeklärten Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik zum Europäischen Fürsorgeabkommen betreffend die Leistungen nach dem SGB II (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER mit Wiedergabe des Meinungsstandes) fraglich, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB eingreift.
Auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist grundsätzlich aufgrund einer abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage zu entscheiden. Ist dies jedoch nicht möglich, ist nach allgemeiner Auffassung, einhelliger Rechtsprechung aller für das Leistungsrecht des SGB II zuständigen Senate des LSG Nordrhein-Westfalen (hierzu nur Beschlüsse des Senats vom 10.03.2014 – L 19 AS 2336/13 B ER, vom 18.02.2014 – L 19 AS 139/14 B ER und vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER; abweichend LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 26.03.2014 – L 15 AS 16/14 B ER und 18.03.2014 – L 13 AS 363/14 B ER) und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfG Beschlüsse vom 12.05.2005 – B 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12) im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind.
Eine abschließende Klärung der seit Jahren und in mehrerlei Hinsicht umstrittenen Frage, ob der Leistungsausschluss für Ausländer, die sich ausschließlich zur Arbeitsuche im Inland aufhalten, rechtmäßig und anzuwenden ist, ist im vorliegenden Verfahren nicht möglich. Angesichts vielfältiger Rechtsprechung mit einem kaum noch überschaubaren Meinungsspektrum, mehrerer beim Bundessozialgericht noch anhängiger Revisionsverfahren (B 4 AS 24/14 zum Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.11.2013 – L 6 AS 130/13; B 4 AS 64/13 R zum Urteil des Senats vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13; B 14 AS 16/13 R zum Urteil des SG Berlin vom 14.12.2012 – S 82 AS 17717/11; B 14 AS 51/13 R zum Urteil des Bayerischen LSG vom 19.06.2013 – L 16 AS 847/12; zum Meinungsstand in der Literatur vgl. nur Greiser, Europarechtliche Spielräume des Gesetzgebers bei der Verhinderung sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen, ZESAR 2014, 18; Fuchs, Freizügiger Sozialtourismus?, ZESAR 2014, 103) und zweier Vorlagen an den EuGH nach Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV (SG Leipzig Vorlagebeschluss vom 03.06.2013 – S 17 AS 2198/12 = EuGH C-333/13 (Dano); BSG Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 – B 14 AS 9/13 R) kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung erfolgen.
Bei dieser Folgenabwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers am einstweiligen Bezug existenzsichernder Leistungen das fiskalische Interesse des Antragsgegners, an den Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage keine finanziellen Aufwendungen erbringen zu müssen. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des Sozialgerichts.
Ergänzend hat der Senat bei der Abwägung berücksichtigt, dass der Antragsgegner seine finanziellen Belange durch die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs nach § 102 ff SGB X beim örtlichen Sozialhilfeträger wahren kann. Denn bei einem Eingreifen des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. S. 2 Nr. 2 SGB II kommt ein Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Betracht (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER m.w.N.). § 21 SGB S. 1 XII greift bei Hilfebedürftigen, die von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, nicht ein (Beschlüsse des Senats vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER m.w.N. und 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER m.w.N.; LSG Hamburg Beschluss vom 14.01.2013 – L 4 AS 332/12 B ER; siehe auch BSG Urteil vom 16.05.2011 – B 4 AS 105/11 R; kritisch hierzu LSG Beschluss des Senats vom 15.05.2013 – L 9 AS 466/13 B ER).
§ 23 SGB XII ist auf Staatsangehörige eines Mitgliedstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens – wozu der Antragsteller als portugiesischer Staatsangehöriger gehört – nicht anwendbar.
Im Hinblick darauf, dass der Antragsgegner seine fiskalischen Interessen durch die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs beim örtlich zuständigen Sozialhilfeträger wahren kann und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des übrigen für Angelegenheiten nach dem SGB II zuständigen Senate des LSG Nordrhein-Westfalen sieht der Senat von einer Beiladung der Stadt Aachen als örtlichem Sozialhilfeträger ab.
Ungeachtet der einstweiligen Verpflichtung des Antragsgegners im vorliegenden Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Antragsgegner gehalten ist, bei Ablehnung eines Leistungsanspruchs wegen der Annahme eines Leistungsausschlusses die entsprechenden Anträge nach § 16 Abs. 2 SGB I unverzüglich zur Bearbeitung an den örtlichen Sozialhilfeträger weiterzuleiten. Nach dieser Vorschrift sind Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten. Wenn ein Antrag nach SGB II gestellt wird, erklärt der Antragsteller, dass Hilfebedürftigkeit besteht. Falls Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, kommt ein Anspruch nach dem SGB XII in Betracht, für dessen Prüfung ausschließlich der Sozialhilfeträger zuständig ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 22.05.2014
Zuletzt verändert am: 22.05.2014