Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.05.2014 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der am 00.00.1992 geborene Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem 29.07.2010 in Deutschland auf. Zunächst bewohnte er zusammen mit seiner Mutter eine im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners gelegene Wohnung. Beide bezogen Leistungen nach dem SGB II. Am 15.03.2013 zog die Mutter des Antragstellers in eine eigene Wohnung, die 50 m² groß ist, zwei Zimmer hat und in X liegt. Der Antragsteller verblieb zunächst in der gemeinsam mit seiner Mutter bewohnten Wohnung, die er – nach Mietrückständen und fristloser Kündigung der Vermieterseite – mittlerweile aufgegeben hat. Seither übernachtet der Antragsteller wechselweise bei Freunden und seiner Mutter. Der Antragsteller wurde durch Konferenzbeschluss vom 17.03.2014 von der C Volkshochschule wegen Fehlzeiten aus einem zum Realschulabschluss führenden Lehrgang ausgeschlossen. Leistungen nach dem BAFÖG und die Zahlung von Kindergeld wurden ab April 2014 eingestellt. Nach Absprache mit der Volkshochschule kann der Antragsteller ab August 2014 (Beginn des neuen Schuljahres) den Lehrgang wieder besuchen.
Den am 19.03.2014 gestellten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 10.04.2014 ab. Der Antragsteller halte sich alleine zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf und sei daher von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Über den Widerspruch des Antragstellers gegen diesen Bescheid ist nach Aktenlage bislang nicht entschieden worden.
Am 05.05.2014 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Düsseldorf die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung der Regelleistungen nach dem SGB II beantragt. Der Antragsteller hat am 07.05.2014 eidesstattlich versichert, mittellos zu sein.
Mit Beschluss vom 20.05.2014 hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 05.05.2014 bis zum bestandskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens bzw. rechtskräftigen Abschluss eines evtl. Klageverfahrens, längstens jedoch bis zum 19.08.2014, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 391,00 EUR monatlich zu gewähren. Ob der Leistungsausschluss bei Aufenthalt allein zur Arbeitsuche greife, sei umstritten, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes jedoch nicht abschließend klärbar, weshalb im Wege der Folgenabwägung Leistungen zuzusprechen seien.
Gegen den am 21.05.2014 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 26.05.2014. Der Antragsgegner ist der Überzeugung, dass der Leistungsanspruch nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II wirksam ist und im Falle des Antragstellers auch greift. Insbesondere ergebe sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Brey kein Hinweis darauf, dass der EuGH den Leistungsausschluss europarechtlich in Frage stelle.
Der Antragsteller stützt den angefochtenen Beschluss.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Zutreffend hat das Sozialgericht im Wege der Folgenabwägung im tenorierten Umfang Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zugesprochen.
Den für den Erlass der Regelungsanordnung § 86b Abs. 2 SGG erforderlichen Anordnungsgrund hat der Antragsteller glaubhaft gemacht. Nach Einstellung der Leistungen sowohl nach dem BAFÖG als auch nach dem BKGG verfügt der Antragsteller nicht mehr über die zum Bestreiten seines Lebensunterhalts erforderlichen Mittel.
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt der Antragsteller die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist -soweit dies im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu beurteilen ist trotz seiner Suchterkrankung- erwerbsfähig, hat seine Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Umstritten und fraglich ist, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift, weil sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Es liegt hier nahe, dass ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein zum Zweck zur Arbeitsuche i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU besteht. Dies wäre der Fall, wenn er im streitbefangenen Zeitraum nicht über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht i.S.d. § 2 FreizügG/EU verfügt – wofür keine Anhaltspunkte bestehen – und seine ernsthaft betriebene Arbeitsuche nicht objektiv aussichtslos ist (zu den Anforderungen an ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche ausführlich Urteil des Senats vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13).
Wenn unterstellt wird, dass allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gegeben ist, ist im Hinblick auf die nicht geklärte Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht fraglich, ob der Leistungsausschluss eingreift. Zwar ist auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich aufgrund einer abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage zu entscheiden. Ist dies jedoch nicht möglich, muss nach allgemeiner Auffassung, einhelliger Rechtsprechung der für das Leistungsrecht des SGB II zuständigen Senate des LSG Nordrhein-Westfalen (hierzu nur Beschlüsse des Senats vom 10.03.2014 – L 19 AS 2336/13 B ER, vom 18.02.2014 – L 19 AS 139/14 B ER und vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 17.04.2014 – L 6 AS 239/14 B ER) und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfG Beschlüsse vom 12.05.2005 – B 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12) im Wege der Folgenabwägung entscheiden werden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange des Antragstellers einzustellen sind (so auch LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 30.06.2014 – L 25 AS 1511/14 B; LSG Bayern, Beschluss vom 27.05.2014 – L 16 AS 344/14 B ER; LSG Thüringen Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 3067/14 B ER, LSG Sachsen Beschluss vom 14.04.2014 – L 7 AS 239/14 B ER; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 01.11.2013 – L 2 AS 889/13 B ER; abweichend LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 26.03.2014 – L 15 AS 16/14 B ER und vom 18.03.2014 – L 13 AS 363/14 B ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 20.03.2014 – L 29 AS 514/14 B ER).
Eine abschließende Klärung der seit Jahren und in mehrerlei Hinsicht umstrittenen Frage, ob der Leistungsausschluss für Ausländer, die sich ausschließlich zur Arbeitsuche im Inland aufhalten, rechtmäßig und anzuwenden ist, ist im vorliegenden Verfahren nicht möglich. Angesichts vielfältiger Rechtsprechung mit einem kaum noch überschaubaren Meinungsspektrum, mehrerer beim Bundessozialgericht noch anhängiger Revisionsverfahren (B 4 AS 64/13 R zum Urteil des Senats vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13; B 14 AS 16/13 R zum Urteil des SG Berlin vom 14.12.2012 – S 82 AS 17717/11; B 14 AS 51/13 R zum Urteil des Bayerischen LSG vom 19.06.2013 – L 16 AS 847/12; B 4 AS 59/13 R zum Urteil des LSG Hessen vom 20.09.2013 – L 7 AS 474/13; B 14 AS 18/14 R zum Urteil des LSG Hessen – L 6 AS 726/11; B 14 AS 15/14 R zum Urteil des LSG Hessen vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12; B 4 AS 24/14 R zum Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.11.2013 – L 6 AS 130/13; zum Meinungsstand in der Literatur vgl. nur Greiser, Europarechtliche Spielräume des Gesetzgebers bei der Verhinderung sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen, ZESAR 2014, 18; Fuchs, Freizügiger Sozialtourismus?, ZESAR 2014, 103; Frerichs, Verfassungsrechtliche Spielräume des Gesetzgebers bei der Verhinderung sozialleistungsmotiverter Wanderbewegungen, ZESAR 2014, 280) und von zwei Vorlagen an den EuGH nach Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV (SG Leipzig Vorlagebeschluss vom 03.06.2013 – S 17 AS 2198/12 = EUGH C-333/13 (Dano); BSG Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R = EUGH C-67/14 (Alimanovic)) zur Wirksamkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (siehe auch Vorlagebeschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.05.2014 – L 7 AS 2136/13 zur Wirksamkeit des Leistungsauschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II) hat eine Folgenabwägung zu erfolgen.
Bei dieser Folgenabwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers am einstweiligen Bezug existenzsichernder Leistungen das fiskalische Interesse des Antragsgegners, an den Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage keine finanziellen Aufwendungen erbringen zu müssen. In die Abwägung hat der Senat die Überlegung eingestellt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH im nationalen einstweiligen Rechtsschutz sicherzustellen ist, dass bis zur Klärung einer europarechtlichen Frage im Vorabentscheidungsverfahren die europarechtlichen Normen vorrangig gelten, wenn "unter Umständen" innerstaatliche Vorschriften entgegenstehen (EuGH Urteil vom 19.06.1990 – C-213/89) also der Vollzug eines nationalen Gesetzes ausgesetzt wird (vgl. zu den Anforderungen an eine Folgenabwägung im einstweiligen Rechtschutzverfahren betreffend die Nichtanwendung eines Gesetzes auch BVerfG Beschluss vom 17.02.2009 – 1 BvR 2492/08). Bei der Folgenabwägung hat der Senat auch berücksichtigt, dass das BSG hat als letztinstanzliches Gericht i.S.d. Art. 267 Abs. 3 AEUV den EuGH um eine Vorabentscheidung hinsichtlich der Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs.1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften ersucht hat und auch innerhalb der europäischen Institutionen die Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften umstritten (bejahend für den Fall der Ersteinreise eines Unionsbürgers zum Zwecke der Arbeitsuche oder des Sozialhilfebezuges mit Fehlen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Gebiet der Bundesrepublik und einer Integration in diesen Schlussantrag des Generalanwalts Wathelet vom 20.05.2014 in der Rechtsache C-333/13, http://curia.europa.eu/juris/document/document print.jsfdoclang; generell verneinend Stellungnahme der Europäischen Kommission in der Rechtssache C-333/13).
Ergänzend hat der Senat bei der Abwägung berücksichtigt, dass der Antragsgegner seine finanziellen Belange durch die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs nach § 102 ff SGB X beim örtlichen Sozialhilfeträger wahren kann. Denn bei einem Eingreifen des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II käme ein Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Betracht. § 21 S. 1 SGB XII greift bei Hilfebedürftigen, die von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, nicht ein (Beschlüsse des Senats vom 29.06.2012 – L 19 AS 973/12 B ER m.w.N. und 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER m.w.N.; LSG Hamburg Beschluss vom 14.01.2013 – L 4 AS 332/12 B ER; zum Leistungsausschluss beim Bezug einer Rente wegen Alters gem. § 7 Abs. 4 SGB II siehe auch BSG Urteil vom 16.05.2011 – B 4 AS 105/11 R; kritisch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 15.05.2013 – L 9 AS 466/13 B ER). Zwar kann § 23 SGB XII einen Anspruch des Antragstellers als Ausländer auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausschließen, jedoch besteht auch bei Eingreifen des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 SGB XII ein Anspruch auf Sozialhilfe im Ermessenswege, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (Coseriu in juris LPK-SGB XII, § 23 Rn. 75 ff; Greiser in juris LPK-SGB XII Anhang zu § 23 – Die Sozialhilfe als Gegenstand des Europäischen Rechts Rn. 119 ff; Armborst in LPK-SGB II, 5 Aufl., § 8 Rn. 30; Birk in LPK-SGB XII, 9. Aufl., § 23 Rn. 21; vgl. auch OVG Berlin Beschluss von 22.04.2003 – 6 S 9.03; BVerwG Urteil vom 10.12.1987 – 5 C 32/85 – zur Vorgängervorschrift des § 120 BSHG; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 18.11.2011 – L 7 AS 614/11 B ER und vom 28.11.2012 – L 7 AS 2109/11 B ER). Bei den Ermessensleistungen sind bei Art und Umfang der Leistungen Einschnitte möglich, die ihre Grenze bei dem zum Lebensunterhalt Unerlässlichen haben dürften (Coseriu, a.a.O., § 23 Rn 77). Insoweit ist der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in die Erwägungen einzubeziehen, wonach das Existenzminimum eines Ausländers auch bei kurzer Aufenthaltsdauer oder kurzer Aufenthaltsperspektive in Deutschland in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (vgl. hierzu BVerfG Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).
Im Hinblick darauf, dass der Antragsgegner einen Erstattungsanspruch anmelden kann, sieht der Senat von einer Beiladung der Stadt X als örtlichem Sozialhilfeträger ab.
Ungeachtet der einstweiligen Verpflichtung des Antragsgegners im vorliegenden Verfahren sieht der Senat sich veranlasst darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner – wenn er sich nicht für die Leistungserbringung zuständig hält – gehalten ist, entsprechende Anträge nach § 16 Abs. 2 SGB I unverzüglich an den örtlichen Sozialhilfeträger weiterzuleiten. Denn mit einem Antrag nach SGB II erklärt der Antragsteller, dass Hilfebedürftigkeit besteht und es kommt ein Anspruch nach dem SGB XII in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 06.08.2014
Zuletzt verändert am: 06.08.2014