Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.05.2014 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarf nach dem SGB II ab dem 29.04.2014 bis zum Abschluss des Klageverfahrens (S 21 AS 1518/14), längstens bis zum 31.08.2014 zu gewähren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin N aus F beigeordnet. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und unbegründet. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat zu Unrecht die vorläufige Bewilligung von Leistungen abgelehnt; dem Antragsteller standen vielmehr im Rahmen der Folgenabwägung die begehrten Leistungen im tenoriertem Umfang zu.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927¸ Keller in: Meyer-Ladewig u.a., Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012 zu § 86b Rn. 29 a).
Die Folgenabwägung ist geboten und fällt im vorliegenden Verfahren zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die allgemeinen Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) gegeben. Der Antragsteller ist am 08.07.1957 geboren und hat damit das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Nach summarischer Prüfung ist der Antragsteller niederländischer Staatsangehöriger, hierfür spricht insbesondere die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers vom 29.04.2014. Als niederländischer Staatsangehöriger ist der Antragsteller erwerbsfähig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, Rn. 13 ff). Der Antragsteller ist i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3, 9 SGB II auch hilfebedürftig; auf die entsprechende eidesstattliche Versicherung der Antragstellers vom 29.04.2014 wird hingewiesen. Der Antragsteller hat im Übrigen auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II glaubhaft gemacht (vgl. zur Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 ff); er hält sich ausweislich der eidesstattliche Versicherung in E auf. Die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II setzt die Erreichbarkeit voraus; vgl. § 7 Abs. 4a SGB II in Verbindung mit § 1 Abs. 1 S. 1 Erreichbarkeits-Anordnung (EAO). Eine Erreichbarkeit ist vorliegend ebenfalls zu bejahen. Auch bei einem Wohnungslosen muss sichergestellt werden, dass der Hilfesuchende jeden Tag für den Grundsicherungsträger erreichbar ist. Dies kann auch dadurch sichergestellt werden, dass ein Antragsteller sich jeden Tag bei einer anerkannten Beratungs- und Betreuungseinrichtung meldet, die sich im jeweiligen Zuständigkeitsbereich des entsprechenden Grundsicherungsträgers befindet und die sich verpflichtet, dem Grundsicherungsträger mitzuteilen, wenn sich der Hilfesuchende dort nicht mehr meldet (LSG NRW, Beschluss vom 19. September 2012 – L 19 AS 1371/12 B ER). Der Antragsteller ist hier bei der Diakonie E in der O Straße 00gemeldet. Ausweislich der eidesstattlichen Versicherung, erhält der Antragsteller von der Diakonie Lebensmittel und Essen. Dies spricht im Rahmen der summarischen Prüfung in hinreichendem Maße für eine regelmäßige Meldung.
Es ist abschließend noch nicht geklärt, ob für den Antragsteller der Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greift. Bei der Frage, ob der Antragsteller als niederländischer Staatsangehöriger gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist oder ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 hinter dem dort geregelten Gleichbehandlungsgebot zurücktritt, handelt es sich um umstrittene Rechtsfragen, die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht einheitlich beantwortet sind (vgl. etwa gegen die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012 – L 19 AS 794/12 B ER unter Berufung auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER; LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER; Schreiber in NZS 2012, Seite 647 ff.; für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II: SG Berlin, Beschluss vom 11.06.2012 – S 205 AS 11266/12 ER und Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14.05.2012 – S 124 AS 7164/12 ER; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER und vom 02.08.2012 – L 5 AS 1297/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 – L 3 AS 1477/11). Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze lässt sich auch dem beim Bundessozialgericht (BSG) unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das Verfahren B 4 AS 9/13 R nach Art. 267 Abs. 1 und 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu verschiedenen Fragen einzuholen, u.a., ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004, mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004, auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R).
Aufgrund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist (BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Diese fällt zugunsten des Antragstellers aus. Ohne die beantragten Leistungen drohten bzw. drohen dem Antragsteller für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da dessen Lebensunterhalt jedenfalls ab Antragstellung bei dem SG nicht mehr gesichert war. Demgegenüber hat der Antragsgegner allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Insbesondere ist der Antragsteller zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu verweisen (LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2012 – L 7 AS 2138/12 B ER).
Gegen eine Bewilligung von Leistungen im Rahmen der Folgenabwägung spricht im Übrigen auch nicht der Schlussantrag des Generalanwaltes Wathelet vom 20.05.2014 im Vorlageverfahren des SG Leipzig (EuGH – C-333/13 – Rs. Dano). Die Rechtsauffassung des Generalanwalts bindet den EuGH nicht.
Bei der Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht abzustellen. Die Dauer der Bewilligung richtet sich dabei nach § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II und ist regelmäßig auf sechs Monate zu beschränken. Unter Berücksichtigung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II und der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei nicht möglicher abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Ausschöpfung des Rahmens des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II grundsätzlich gerechtfertigt (LSG NW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – L 7 AS 742/13 B ER). Im Fall der Folgenabwägung ist es nicht ausgeschlossen, dass der Grundsicherungsträger seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand hat der Senat Rechnung zu tragen, indem die nachteiligen Folgen auf Seiten des Trägers auf einen Zeitraum von vier Monaten zeitlich begrenzt wurden (LSG NW, Beschluss vom 02. Dezember 2013 – L 2 AS 1726/13 B ER); hierbei hat der Senat auch die zu erwartende Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dano berücksichtigt.
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie die Anwaltsbeiordnung beruht auf §§ 73 a SGG, 114, 121 Abs. 2 ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 14.08.2014
Zuletzt verändert am: 14.08.2014