Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Tenor des Beschlusses des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.05.2014 betreffend das einstweilige Rechtsschutzverfahren in Absatz 1 wie folgt neu gefasst: Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 16.04.2014 bis zum 31.05.2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfs gemäß § 20 SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in dem Beschwerdeverfahren dem Grunde nach.
Gründe:
Nach der Rücknahme der Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.05.2014 mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 18.06.2014 hatte der Senat noch über die Beschwerde des Antragsgegners vom 28.05.2014 zu entscheiden.
Die zulässige Beschwerde war ursprünglich nicht begründet; der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.05.2014 erweist sich als ursprünglich rechtmäßig. Der Beschluss war allein wegen einer nach Beschwerdeeinlegung eingetretenen Änderung der Sachlage abzuändern.
Die Voraussetzungen für eine vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners lagen bei Beschwerdeeinlegung (noch) vor: Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs voraus, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen – § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden. Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (Bundesverfassungsgericht -BVerfG-, stattgebender Kammerbeschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, juris RdNr. 26).
Dem Antragsteller waren unter Berücksichtigung seiner grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den genannten Zeitraum zu gewähren. Der Antragsteller erfüllt nach der gebotenen summarischen Prüfung die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch.
Zweifelhaft ist zwar die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers. Daraus ergibt sich aber – für die Zeit vom 16.04.2014 (Antragstellung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes) bis zum 31.05.2014 (tatsächliche Leistungsaufnahme durch den SGB XII-Leistungsträger) – keine Unzuständigkeit des Antraggegners. Der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist auch dann zur Zahlung von Arbeitslosengeld II (Alg II) verpflichtet, wenn er zwar vom Fehlen der Erwerbsfähigkeit ausgeht, aber keine Abstimmung mit dem zuständigen Sozialhilfeträger über das Vorliegen der Erwerbsunfähigkeit herbeigeführt hat (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R -, juris RdNr. 20). Eine solche Abstimmung ist hier nicht erfolgt. Der Antragsgegner hat jedoch bei Zweifeln über die Erwerbsfähigkeit gem. § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle über die Erwerbsfähigkeit Leistungen zu erbringen. Das Bundessozialgericht führt in der angegebenen Entscheidung wörtlich aus: "Damit der Hilfebedürftige, bildlich gesprochen, nicht ‚zwischen zwei Stühlen sitzt’, darf die in § 44a SGB II angeordnete Regelung der Zahlung von Alg II durch die Träger des SGB II nicht erst einsetzen, wenn zwischen den Leistungsträgern des SGB II und des SGB XII tatsächlich Streit über das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit besteht. Vielmehr muss § 44a Satz 3 SGB II [jetzt: § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II] mit seiner endgültigen Zahlungspflicht der Leistungsträger des SGB XII bis zur Entscheidung der Einigungsstelle auch für den Fall gelten, dass die Leistungsträger des SGB II von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgehen, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger der SGB XII bemüht haben." Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Senat an.
Die Erwerbsunfähigkeit ergibt sich auch nicht daraus, dass der Antragsteller Ausländer ist. Zur Erwerbsfähigkeit von Ausländern bestimmt § 8 Abs. 2 SGB II, dass diese im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (Satz 1). Insofern ist auf die abstrakt-rechtliche Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung abzustellen (§ 8 Abs. 2 Satz 2 SGB II; Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R -, juris RdNr. 15). Als polnischer Staatsangehöriger benötigt der Antragsteller wegen der ihm zustehenden uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Beschäftigungsaufnahme keine Arbeitsgenehmigung.
Bedenken gegen die Hilfebedürftigkeit (§ 9 Abs. 1 SGB II) bestehen nicht. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er Einkommen nicht bezieht.
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären war die Frage, ob der Antragsteller als polnischer Staatsangehöriger deshalb keine Leistung erhalten kann, weil zu seinen Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift. In Rechtsprechung und Literatur wird kontrovers diskutiert, ob der Leistungsausschluss in der vom Bundesgesetzgeber gewählten Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (aus der umfangreichen obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. zuletzt Beschlüsse des erkennenden Senats vom 02.12.2013 – L 2 AS 1726/13 B ER – und vom 01.08.2013 – L 2 AS 733/13 B ER: jeweils Folgenabwägung; vgl. auch Landessozialgericht -LSG- Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.05.2013 (juris fälschlich: 13.06.2013) – L 6 AS 531/13 B ER: Folgenabwägung; Beschluss vom 27.03 2014 – L 7 AS 326/14 B ER: Einschränkung bei Familiennachzug; Beschluss vom 12.03.2014 – L 12 AS 108/14 B ER: Folgenabwägung; LSG Bayern, Urteil vom 19.06.2013 – L 16 AS 847/12: Vereinbarkeit verneinend; Beschluss vom 27.05.2014 – L 16 AS 344/14 B ER: Zweifel, Entscheidung nach Folgenabwägung; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER: Ausschluss europarechtswidrig; Beschluss vom 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER: Zweifel an Vereinbarkeit; LSG Hessen, Beschluss vom 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER -, juris RdNr. 18 ff.: kein Leistungsausschluss; Thüringer LSG, Beschluss vom 25.04.2014 – L 4 AS 306/14 B ER: Keine Verbindung zum Arbeitsmarkt, aber längerer Aufenthalt, Folgenabwägung; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.03.2014 – L 20 AS 502/14 B ER: keine Überzeugung von der Europarechtswidrigkeit, wobei die zentrale Aussage, dass "Zugangsregelungen geschaffen werden können" – juris RdNr. 13- ohne Beleg bleibt; Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER -, juris RdNr. 36; ebenso LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER -, juris RdNr. 32; Beschluss vom 18.03.2014 – L 13 AS 363/13 B ER -, juris RdNr. 20: Verhinderung von sozialleistungsorientierten Wanderungsbewegungen als legitimer Zweck).
Zwar sprechen gute Gründe dafür, dass ein Leistungsausschluss möglich ist, wenn keinerlei Verbindung eines Antragstellers zum Arbeitsmarkt besteht (siehe zu den Argumenten Schlussanträge des Generalanwaltes des EuGH in der Rechtsache C-333/13, dort insbes. Ziff. 105, 113,118); insofern erscheint, sofern man den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich von Art. 4 VO (EG) 883/2004 für eröffnet hält, eine Einschränkung oder Rechtfertigung möglich, soweit die Ausübung des Freizügigkeitsrechts "einzig und allein" mit dem Ziel erfolgte, Sozialhilfe zu erhalten. Jedenfalls in solchen Fällen aber, in denen eine Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt begründet wurde, sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Lichte von Art. 4 VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 19.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit auszulegen ist unter den vorliegenden Umständen keine Anwendung findet (zweifelnd ebenfalls, wenn eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt bestand oder – sogar weitergehend – wenn ein gewisser Grad der Integration erreicht ist: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.03.2014 – L 15 AS 16/14 B ER – juris RdNr. 8).
Aufgrund der Vielzahl der in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen hält der Senat eine Folgenabwägung für erforderlich, die hier in dem aus dem Tenor der Entscheidung ersichtlichen Umfang zu Gunsten des Antragstellers ausgeht. Ohne die beantragten und vom Sozialgericht Düsseldorf vorläufig zugesprochenen Leistungen drohten dem Antragsteller existenzielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht abwenden konnte. Auf der Seite des Antragsgegners sind hingegen "lediglich" finanzielle Nachteile für einen Zeitraum von maximal 1,5 Monaten zu befürchten, wenn der Antragsteller in einem Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren nicht durchdringt. Der Senat hat in die Folgenabwägung eingestellt, dass der Antragsteller im Jahre 1988 nicht "einzig und allein" eingereist ist, um Sozialhilfe zu beziehen; dies belegt seine, wenn auch nur kurze und weit zurückliegende, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von November 1991 bis Februar 1992. Eine genaue Feststellung der Lebensumstände bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Wegen der im Laufe des Beschwerdeverfahrens eingetretenen Sachverhaltsänderung durch die Gewährung von Leistungen durch den Träger der Sozialhilfe ab dem 01.06.2014 ist die Beschwerde für den Zeitraum ab dem 01.06.2014 begründet geworden – der Tenor des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses war entsprechend zu ändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass ursprünglich Anlass für eine Beschwerde nicht gegeben war – das Veranlassungsprinzip gebietet hier auch bei einer Änderung der Sachlage zu Gunsten des Antragsgegners (dazu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer -Hrsg.-, SGG, 2012, § 193 Rdnr. 12c) die im Tenor ausgesprochene Kostentragung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 10.09.2014
Zuletzt verändert am: 10.09.2014