Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.09.2014 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 16.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2014 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Aufforderung des Antragsgegners, einen Antrag auf Altersrente zu stellen.
Die am 00.00.1951 geborene Antragstellerin bezieht seit 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, zuletzt in Höhe von 756,00 EUR monatlich. Zudem verfügt sie über ein monatliches Einkommen in Höhe von 100,00 EUR aus einer geringfügigen Beschäftigung als Haushaltshilfe.
Mit Bescheid vom 16.04.2014 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, einen Antrag auf Altersrente zu stellen. Die Antragstellerin sei verpflichtet, einen Antrag bei dem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, wenn sie eine geminderte Altersrente (d.h. mit Abschlägen) beziehen könne und das 63. Lebensjahr vollendet habe.
Hiergegen legte die Antragstellerin am 15.05.2014 Widerspruch ein. Sie rügte die fehlende Ausübung von Ermessen. Es sei insbesondere zu berücksichtigen, dass sie bei Beantragung der vorzeitigen Altersrente Zeit ihres Lebens auf ergänzende Leistungen nach dem SGB XII angewiesen wäre. Ihre Altersrente ohne Abschläge hingegen würde in etwa zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreichen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27.06.2014 wies der Antragsgegner den Widerspruch der Antragstellerin als unbegründet zurück. Die Aufforderung, einen Rentenantrag zu stellen, stelle sich bei nachgeholter Ermessensausübung als rechtmäßig dar. Er hat ausgeführt:
"Die Beantragung einer anderen Sozialleistung ist dann nicht erforderlich, wenn dieser Antrag zu dem Verlust weiterer Leistungsansprüche führt, etwa aus einem Arbeitsverhältnis oder aber wie in § 2 der UnbilligkeitsV vorgesehen, des Anspruchs auf Arbeitslosengeld (LSG NRW 01.02.2010 – L 19 B 371/10 AS; Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3.Auflage 2013, § 12a SGB II rd. 10 m.w.N.).
Wie bereits ausgeführt würden die Rentenleistungen zu einer Verringerung des SGB II-Anspruchs ihrer Mandantin führen. Der Verlust weiterer Ansprüche ist durch die Stellung des vorzeitigen Rentenantrags nicht ersichtlich. Insbesondere ist die Aufgabe ihres Minijobs aufgrund der Hinzuverdienstgrenze von 450,00 EUR nicht notwendig.
Ihr Einwand, Ihre Mandantin wäre im Fall der vorgezogenen Altersrente länger hilfebedürftig als im Fall der regulären Altersrente, trifft ebenfalls nicht zu.
Der Bedarf Ihrer Mandantin beträgt derzeit 756,00 EUR (391,00 EUR Regelbedarf, 8,99 EUR Mehrbedarf Warmwasser u. 356,01 EUR Kosten der Unterkunft und Heizung). Die abschlagsfreie Altersrente Ihrer Mandantin beläuft sich auf 767,18 EUR. Nach Abzug der Versicherungspauschale von 30,00 EUR, wäre ein Betrag von 737,18 EUR bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Es verbliebe dann ein geringerer Restanspruch nach dem SGB II, der aufgrund der jährlichen Regelsatzanpassung steigen würde."
Am 22.07.2014 erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf und hat zugleich beantragt, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Aufforderungsbescheid vom 16.04.2014 anzuordnen. Da der Ausgangsbescheid keinerlei Ermessensausübung erkennen lasse, sei er von Anfang an rechtswidrig. Auch der Widerspruchsbescheid enthalte keine Ermessensausübung.
Durch Beschluss vom 16.09.2014 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Auch bei regulärer Rentenantragstellung werde eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII voraussichtlich nicht vermieden. Abzüglich der Kosten der Krankenversicherung sei mit einer Regelaltersrente von 705,00 EUR zu rechnen. Dem stünde ein höherer Bedarf von aktuell 756,00 EUR gegenüber.
Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 22.10.2014 Beschwerde eingelegt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 16.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2014, mit dem die Antragstellerin zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II aufgefordert worden ist, ist nach § 86b Abs. 1 SGG zulässig (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N.) und begründet.
Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebende Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse), mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Dabei besteht ein Regel-Ausnahmeverhältnis. In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes spricht.
Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse des Antragsgegners.
Der Bescheid vom 16.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2014 ist wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig. Die Aufforderung eines Leistungsberechtigten zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 12.01.2015 – L 19 AS 2211/14 B ER – und vom 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N). Bei dem in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II enthaltenen Wort "können" handelt es sich nicht um ein bloßes "Kompetenz-Kann" (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2014 – L 10 AS 2254/14 B -, m.w.N.). Vielmehr hat der Leistungsträger das Ermessen nach dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs. 1 S. 1 SGB I). Damit korrespondierend hat der Leistungsberechtigte einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessen (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I).
Der Bescheid vom 16.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2014 verletzt die Antragstellerin in ihrem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Im Ausgangsbescheid vom 16.04.2014 hat der Antragsgegner kein Ermessen ausgeübt. Auch durch die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 27.06.2014 ist eine ordnungsgemäße Ermessensbetätigung nicht erfolgt. Es kann dahinstehen, ob und bis zu welchem Zeitpunkt eine Nachholung von Ermessenserwägungen bei vollständigem Ermesssensausfall im Ausgangsbescheid überhaupt möglich ist (vgl. dazu BSG, Urteile vom 22.08.2000 – B 2 U 33/99 R und vom 01.03.2011 – B 7 AL 2/10 R; BSG; BSG Beschluss vom 14.02.1991 – 10 RKg 10/89; BSG Großer Senat, Beschluss vom 06.10.1994 – GS 1/91). Bis zum heutigen Zeitpunkt hat der Antragsgegner nicht in hinreichendem Umfang Ermessen geübt.
Vorliegend sind keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf null zu Gunsten der Antragstellerin oder des Antragsgegners erkennbar und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Beteiligten. Allein die Tatsache, dass infolge der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente auf Dauer eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII verursacht wird, begründet keine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten der Antragstellerin. Diese Wertung bestätigen §§ 12a, 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Hiernach besteht die Obliegenheit, andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen grundsätzlich auch dann, wenn hierdurch die Hilfebedürftigkeit lediglich vermindert wird und nicht vollständig entfällt. Allein der Umstand, dass bei Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente gegebenenfalls die Hilfebedürftigkeit nicht entfällt, bedingt demnach keine gebundene Entscheidung zugunsten der Antragstellerin.
Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010 – B 2 U 10/10 R m.w.N.). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Jedoch besteht ein Ermessenfehlgebrauch.
Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn der Grundsicherungsträger die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch erfolgt sein, wenn er seiner Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Deshalb haben die Tatsacheninstanzen in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010 – B 2 U 10/10 R m.w.N.)
Der Grundsicherungsträger ist bei der Ermessensausübung gehalten, sich mit den vorgetragenen Einwänden des Betroffenen auseinanderzusetzen (Wagner in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 39 SGB I, Rn. 29, der von einer gewissen "Spiegelbildlichkeit von Einwänden des Betroffenen und Ermessenserwägungen" ausgeht). Er hat die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles abzuwägen, d. h. er ist gehalten, auf die für die Ermessensentscheidung relevanten Verhältnisse des Einzelfalles einzugehen, auch wenn er sich für eine Ermessensentscheidung auf allgemeine Grundsätze berufen will (BSG, Urteil vom 14.11.1985 – 7 RAr 123/84). Den für seine Entscheidung benötigten Sachverhalt hat er ggf. von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei u.a. der Mitwirkung der Beteiligten bedienen (§§ 20, 21 SGB X; BSG, Urteile vom 23.08.2013 – B 8 SO 7/12 R – und vom 14.11.1985 – 7 RAr 123/84; vgl. Beschluss des Senats vom 10.02.2014 – L 19 AS 54/14 B ER – zum Recht des Grundsicherungsträgers, einen Leistungsempfängers zur Vorlage einer aktuellen Rentenauskunft aufzufordern).
Unter Zugrundelegung der Ausführungen im Widerspruchsbescheid hat der Antragsgegner zum einen unvollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt. Er hat zu diesem Zeitpunkt weder die voraussichtliche Höhe der abschlagsfreien Nettoaltersrente (Bruttorente minus Beitrag zur Krankenversicherung- und Pflegeversicherung) noch die voraussichtliche Höhe der vorgezogenen Nettoaltersrente (Bruttorente minus Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag) ermittelt.
Zum anderen hat er sich mit der Argumentation der Antragstellerin, dass sie bei Bezug einer abschlagsfreien Altersrente nicht hilfebedürftig i.S.v. des SGB XII sein werde, jedoch bei Bezug einer vorgezogenen Altersrente auf Leistungen nach dem SGB XII angewiesen sei, nicht auseinandergesetzt und diese auch nicht gewichtet. Die Ermessenserwägungen beschränken sich im Wesentlichen auf die Frage, ob die Antragstellerin bei Bezug einer Altersrente in geringem Umfang auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen wäre. Die Ausführungen, dass die Antragstellerin bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente aufstockende Leistungen nach SGB II beziehen kann, sind schlicht fehlsam, da bei Bezug einer Altersrente der Leistungsauschluss des § 7 Abs. 4 SGB II eingreift (BSG, Urteil vom 16.05.2012 – B 4 AS 105/11 R) und damit die Antragstellerin aus dem Leistungssystem des SGB II auf Dauer ausscheidet. Auch die Ausführungen zur Möglichkeit der Erzielung von Erwerbseinkommen neben der verzogenen Altersrente beziehen sich ausschließlich auf die Anrechnungsvorschriften des SGB VI, sie verhalten sich nicht zu den unterschiedlichen Anrechnungsvorschriften im SGB II und SGB XII (vgl. zu möglichen Ermessensaspekten auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 07.08.2014 – L 28 AS 1830/14 B ER – und 05.11.2014 – L 25 AS 2731/14 B ER).
Damit liegt ein Abwägungsdefizit vor. Dieses Defizit kann nicht durch eigene Abwägungen des Gerichts nachgeholt oder geheilt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundesozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 03.02.2015
Zuletzt verändert am: 03.02.2015