Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 15.12.2014 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen ihre einstweilige Verpflichtung, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu erbringen.
Die verwitwete bulgarische Antragstellerin lebt seit 2011 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie erhielt in Ausführung einer gerichtlichen einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bis zum 30.04.2014. Die Antragstellerin ging im Zeitraum vom 22.04.2014 bis zum 31.05.2014 einer geringfügigen Beschäftigung zu 20 Stunden im Monat mit einem Stundenlohn von 9,31 EUR zzgl. Fahrgeld als Reinigungskraft bei der Firma W + S X GmbH (Gebäudereinigung) nach. Am 16.06.2014 beantragte sie die Weitergewährung der Leistungen. Seit dem 16.11.2014 geht sie einer Tätigkeit als Reinigungskraft bei der Firma C, I mit einem monatlichen Einkommen von 160,00 EUR nach.
Am 15.08.2014 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Dortmund einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Im Wege der einstweiligen Anordnung sei die Antragsgegnerin zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verpflichten. Sie genieße seit Aufnahme ihrer Tätigkeiten einen Arbeitnehmerstatus, der einen ausreichenden Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt herstelle.
Mit Bescheid vom 02.09.2014, persönlich zugestellt an die anwaltlich vertretene Antragstellerin, hat die Antragsgegnerin die Gewährung von Leistungen abgelehnt.
Mit Beschluss vom 15.12.2014 hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs ohne Kosten der Unterkunft und Heizung für die Zeit ab dem 18.08.2014 bis zum 15.11.2014 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu "gewähren". Der Antrag sei statthaft, insbesondere fehle nicht das Rechtsschutzbedürfnis aufgrund einer Bestandskraft des Bescheides vom 02.09.2014. Der Bescheid sei nicht ordnungsgemäß an den beauftragten Rechtsanwalt zugestellt worden, so dass auch für den Fall eines fehlenden Widerspruchs keine Bestandskraft eingetreten sei. Der Antrag sei im Hinblick auf den Regelbedarf ohne die Kosten für Unterkunft und Heizung im tenorierten Umfang begründet. Die Antragstellerin gehöre bis zum 15.11.2014 zur Personengruppe der Unionsbürger ohne materielle Freizügigkeitsberechtigung. Die vorher ausgeübte Tätigkeit sei derart geringfügig gewesen, dass sie einer wirtschaftlich inaktiven Person gleichwertig und nicht von einem Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU auszugehen sei. Auch eine erfolgversprechende Arbeitssuche lasse sich für diesen Zeitraum nicht feststellen. Damit gehöre die Antragstellerin zum Personenkreis der materiell Nicht-Freizügigkeitsberechtigten. Solange die daraus resultierende Ausreisepflicht nicht im dafür vorgesehen Verfahren festgestellt worden sei, seien Leistungen nach dem SGB II zu erbringen. Dem stehe weder die Entscheidung des BSG vom 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R, juris noch die Entscheidung des EUGH vom 11.11.2014 in der Rechtssache C 333/13 "Dano" entgegen. Nach dieser Entscheidung sei nur davon auszugehen, dass der Gesetzgeber berechtigt wäre, eine europarechtskonforme Regelung zu schaffen, die für diesen Personenkreis einen Ausschluss bei den SGB-II-Leistungen vorsehe. Eine solche Regelung liege derzeit noch nicht vor. Für diesen Zeitraum sei die Hilfebedürftigkeit durch die Antragstellerin auch glaubhaft gemacht. Eine Erstreckung auf den Zeitraum danach sei nicht geboten. Ab dem 16.11.2014 sei von einem Arbeitnehmerstatus auszugehen. Für diesen Zeitraum sei die Antragstellerin Arbeitnehmerin und ihr das Abwarten der Reaktion der Antragsgegnerin zuzumuten.
Gegen den am 15.12.2014 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 19.12.2014. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei auf die Antragstellerin anwendbar. Die Antragstellerin befinde sich ausschließlich zum Zwecke der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland. Ein anderer Aufenthaltsgrund sei weder ersichtlich noch vorgetragen worden. Der EuGH habe in der Entscheidung vom 11.11.2014 (Az. C-333/13) die europarechtliche Konformität des in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelten Leistungsausschlusses bestätigt. Es wäre ein eklatanter Wertungswiderspruch, wenn Unionsbürger mit materiellem Aufenthaltsrecht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen wären, Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht aber Leistungsansprüche verwirklichen könnten.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin zur einstweiligen Erbringung des Regelbedarfs an die Antragstellerin verpflichtet. Für eine der Verpflichtung des Antragsgegners entgegenstehende Bestandskraft des Bescheides liegen keine Anhaltspunkte vor. Insoweit wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es – wie hier – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 – L 7 AS 2162/14 und vom 10.09.2014 – L 7 AS 1385/14 B ER). Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind (BVerfG Beschlüsse vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12; Beschluss des Senats vom 11.07.2014 – L 7 AS 1035/14 B ER).
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt die Antragstellerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hat ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Umstritten ist zwischen den Beteiligten allein, ob die Antragstellerin als Arbeitsuchende gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
Die Antragstellerin bemüht sich um Arbeit im Sinne der genannten Vorschrift. Sie stand und steht in Beschäftigungsverhältnissen, wenn auch nicht sozialversicherungspflichtig. Die Sozialversicherungspflicht von Beschäftigungen ist allerdings nicht Voraussetzung für die Bejahung des Tatbestandsmerkmals der Arbeitsuche.
Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze lässt sich dem beim BSG unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das vorgenannte Verfahren ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu den verschiedenen Fragen einzuholen, u.a., ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R, Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache Alimanovic).
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 11.11.2014 (Az. C-333/13, Rechtssache Dano) die europarechtliche Konformität des in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelten Leistungsausschlusses nicht ausdrücklich bestätigt. Die Entscheidung des EuGH beruht ausdrücklich auf der Feststellung, dass Frau Dano sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die mit dem Ziel eingewandert sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen (Rn. 78 der Entscheidung). Eine Entscheidung des EuGH für Personen, bei denen die Arbeitsuche zu bejahen ist, steht noch aus (BSG EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache Alimanovic).
Auf Grund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist.
Selbst wenn die Antragstellerin – wie das Sozialgericht für die Zeit bis zur Aufnahme der Beschäftigung am 16.11.2014 meint – nicht als Arbeitsuchende anzusehen wäre, wäre im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, weil auch dann nicht sicher wäre, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hat. Für diese Fallgestaltung (wirtschaftlich inaktive Unionsbürger) ist umstritten, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II tatbestandlich greift oder im Wege der "Erst-Recht"-Schlusses anzuwenden ist oder sich ein Leistungsanspruch in Anwendung deutschen Verfassungsrechts ergibt (einen Leistungsanspruch bejahend LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 10.10.2013 – L 19 AS 129/13 und vom 05.05.2014 – L 19 AS 430/14, Revision anhängig unter B 14 AS 33/14 R; zustimmend Hessisches LSG, Urteil vom 27.11.2013 – L 6 AS 378/12; abweichend LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30.01.2014 – L 13 AS 266/13 B ER; jeweils mwN).
Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Hierbei sind die besondere Bedeutung der beantragten Leistungen für die Antragstellerin gegen das fiskalische Interesse des Antragsgegners, die vorläufig erbrachten Leistungen im Falle des Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten, abzuwägen. Vorliegend tritt das Interesse des Antragsgegners hinter das Interesse der Antragstellerin zurück. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II dienen der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Ohne die beantragten und vom Sozialgericht zugesprochenen Leistungen drohten bzw. drohen der Antragstellerin für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, welche sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da der Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des erzielten Einkommens nicht gesichert ist. Der Antragsgegner hingegen hat allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Daher kann der Antragstellerin im Lichte des in Art. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebots des effektiven Rechtsschutzes und der Menschenwürde nicht zugemutet werden, ohne jede staatliche Existenzsicherung eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 – L 7 AS 2162/14 und vom 08.09.2014 – L 7 AS 1231/14 B mit Verweis auf Beschluss vom 03.04.2013 – L 7 AS 2403/12 B und Beschluss vom 28.04.2014 – L 7 AS 550/14 B ER). Durch die zeitliche Beschränkung der vorläufigen Gewährung sind die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners begrenzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Erstellt am: 30.03.2015
Zuletzt verändert am: 30.03.2015