Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.07.2010 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Düsseldorf zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht Düsseldorf vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für Ereignisse, die die Klägerin als Kind im Zeitraum von 1953 bis 1973 und während ihrer zweiten Ehe in der Zeit von 1983 bis 1987 erlebt hat.
Die am 00.00 1952 geborene Klägerin beantragte im November 2007 die Gewährung von Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie leide unter Angstzuständen, Panikattacken, Albträumen und Depressionen. Als Ursache für diese Erkrankung gab die Klägerin Gewalterfahrungen in ihrer Kind- und Jugendzeit zwischen 1953 und 1973 an. Ebenso sei ihre zweite Ehe von 1983 bis 1987 gewaltbetont gewesen, sodass sie annimmt, dadurch traumatisiert worden zu sein.
In einem Rentenverfahren erstattete unter dem 30.01.2007 Dr. H ein psychiatrisches Fachgutachten. Dort wird der Klägerin eine "depressive Entwicklung mit Somatisierungsstörung bei dependenter Persönlichkeitsstörung" beschieden. Seit 2000 sei sie nicht mehr in der Lage, gewinnbringend am Erwerbsleben teilzunehmen. Bereits in einem Gutachten vom 11.11.2002 von Dr. I wurde bei der Klägerin ein "Borderline-Syndrom" diagnostiziert.
Mit Bescheid vom 17.04.2008 und Widerspruchsbescheid vom 08.05.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung von Versorgung nach dem OEG mit der Begründung ab, die von der Klägerin geschilderten Tathergänge seien nicht bewiesen. Die Klägerin habe ausdrücklich darum gebeten, ihre Mutter und auch ihren vormaligen Ehemann nicht zu den Geschehnissen zu befragen.
Hiergegen hat die Klägerin am 13.06.2008 Klage zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr früherer Ehemann habe schon seine erste Frau geschlagen. So sei auch ihre eheliche Beziehung gewaltbetont gewesen. Hierin läge der wesentliche Grund für ihre jetzigen psychiatrischen Erkrankungen.
Der Beklagte hat demgegenüber die Auffassung vertreten, dass der wesentliche Teil der Ursache für die heute bei ihr bestehenden Erkrankungen der Klägerin weder die Gewaltbeziehung von 1983 bis 1987 seien, noch die als gewalttätig erlebte Kind- und Jugendzeit von 1953 bis 1973.
Das SG hat keine Zeugen gehört, sondern ausschließlich durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis erhoben und der Sachverständigen dabei den zu überprüfenden Lebenssachverhalt auch nicht im Sinne von Anknüpfungstatsachen vorgegeben. Die gehörte psychiatrische Sachverständige, Frau Dr. Q hat bei der Klägerin folgende Diagnosen gestellt:
1. rezidivierende Depression mit somatischen Symptomen (ICD-10 F 33.1) 2. Angsterkrankung mit Panikanfällen, Verlustängsten und verstärktem Sicherungsbedürfnis (ICD-10 F 41.3) 3. kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen und narzisstischen Anteilen (ICD-10 F 60.8)
Die Sachverständige hat gemeint, die durch die Diagnosen beschriebene Erkrankung habe sich bei der Klägerin weit in der Kindheit zurückliegend entwickelt. Die Depression und die Angststörung seien als reaktive Erkrankungen zu verstehen, die auf der Gesamtheit der biographischen Belastungsfaktoren in der Kindheit und Jugend basierten. Darüber hinaus könnten für die kombinierte Persönlichkeitsstörung genetische Faktoren eine Rolle spielen. Heute vorherrschend seien Verlustängste in Bezug auf den Sohn. Obwohl eine Reihe von Traumatisierungen im Leben der Klägerin stattgefunden hätten, läge eine posttraumatische Belastungsstörung heute sicher nicht vor.
Gewalterlebnisse könnten grundsätzlich eine Schädigung verursachen. Zum Zeitpunkt der Traumatisierung durch den zweiten Ehemann habe aber bereits seit mindestens 1982 eine komplexe psychiatrische Erkrankung vorgelegen, die als psychosomatische und depressive Erkrankung bereits im Kindes- und Jugendalter begonnen habe. Die Angsterkrankung sei zwar durch die körperlichen Misshandlungen in den Jahren von 1983 bis 1987 in gewisser Weise verschlimmert worden. Der überwiegende Anteil auch bezogen auf die Verschlimmerung stelle jedoch die Grunderkrankung der Klägerin dar.
Damit läge eine Erkrankung, die überwiegend durch die angeschuldigten Ereignisse verurteilt worden sei, nicht vor. Hierbei ist die Sachverständige auch auf den klägerischen Vorhalt, dass ihre gewaltbetonte zweite Ehe von 1982 bis 1987 die wesentliche Ursache für ihre Erkrankung darstelle, geblieben.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 21.07.2010 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:
"Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin wird durch die angefochtene Entscheidung vom 17.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2008 nicht in ihren Rechten beschwert. Die Entscheidung ist rechtmäßig. Zu Recht hat der Beklagte es abgelehnt der Klägerin Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG insbesondere in Form einer Versorgungsrente zu gewähren. Denn ein Anspruch auf Versorgung nach dem OEG steht der Klägerin nicht zu.
Wer im Geltungsbereich des Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.
Gemäß § 9 Nr. 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält ein Beschädigter Beschädigtenrente. Gemäß § 31 Abs. 1 BVG wird eine Beschädigtenrente ab einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 gewährt. Der Grad der Schädigungsfolgen wird nach § 30 Abs. 1 BVG nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben bemessen. Dabei sind seelische Begleiterscheinungungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wieviel die Befähigung zur üblichen auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind. Das schädigende Ereignis selbst und das Vorliegen bestimmter Schädigungsfolgen müssen dabei im Sinne des Vollbeweises erwiesen sein. Hinsichtlich der Kausalität zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Eintritt einer bestimmten Schädigungsfolge und dem dadurch verursachten GdS gilt hingegen das Kausalitätsprinzip der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Ursächlich in diesem Sinne ist die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen und wie Ursachen zu werten, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber dem anderen eine Überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechtes.
Nach den Einlassungen der Klägerin und den Feststellungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen geht die Kammer von folgendem Lebenssachverhalt aus:
Die Klägerin entstammt einer unerwünschten Schwangerschaft. Ab dem ersten Lebensjahr hielt sie sich für ein Jahr in einem Heim auf. Nachdem sie wieder bei der Mutter war, kam es zu regelmäßigen körperlichen Züchtigungen durch die Mutter. Es kam zu einer Unsicherheit in der Partnerwahl mit zwei alkoholkranken Partnern. Teilweise konnte sie sich adäquat schützen, indem sie die erste Ehe von sich aus löste. In der zweiten Ehe war die Klägerin jedoch entsprechend ihren Beziehungsunsicherheiten mit Spaltung hochambivalent zwischen Versöhnungen und Trennungswünschen. Seit der Trennung 1987 besteht eine chronisch depressive Erkrankung fort, auch die Ängste sind eher chronifiziert, eine gute Regulierung des Selbstgefühls ist über die Beziehung zum Sohn möglich.
Soweit in diesen Geschehensabläufen Tatbestände zu erkennen sind, die als schädigende Ereignisse im Sinne des § 1 OEG erfasst werden können, so liegen hierin jedenfalls nicht die wesentlichen Ursachen für das Entstehen und Fortbestehen der diagnostizierten psychiatrischen Erkrankungen der Klägerin.
Zu dieser Auffassung kommt die Kammer auf der Basis des medizinischen Sachverständigengutachtens von Frau Dr. Q vom 29.07.2009. Die Sachverständige stellt in ihrem Gutachten überzeugend dar, dass es in der Lebensbiographie zwar zu Traumatisierungen gekommen sei, diese von ihrer Art und schwere her eine posttraumatische Belastungsstörung sicher nicht hervorgerufen haben können. So wirkte die Trennung der Klägerin im ersten Lebensjahr von der Mutter sicherlich traumatisierend. Auch die in der Folge entwickelte äußerst schwierige und belastende Mutterbeziehung hat traumatisierend gewirkt. Ebenso auch die körperlichen Übergriffe der Mutter, sowie zwei problematische Partnerschaften, die mehr oder weniger schwer als körperlich übergrifflich erlebt wurden. Keines der von der Klägerin beschriebenen Ereignisse waren geeignet eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne der ICD-10 Nomenklatur auszulösen. Demnach hätte die betroffene Person eine Situation erleben, beobachten oder mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert gewesen sein müssen, die den tatsächlichen oder den drohenden Tot oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Versehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltet. Dabei hätte die Reaktion intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen müssen. Eine Solche gravierende Erlebnissituation hat die Sachverständige trotz intensiver Exploration bei der Klägerin nicht feststellen können.
Gleichwohl stellt sich die Erkrankung der Klägerin als reaktive Störung dar. Als auslösende Faktoren, die auch Tatbestände im Sinne des § 1 OEG sind, kommen nur die körperlichen Züchtigungen durch die Mutter und die tatsächlich ausgeübte Gewalt durch den zweiten Ehemann in Betracht. Die wesentlichen Ursachen für die heute bestehenden Erkrankungen der Klägerin liegen aber nicht innerhalb dieser beiden Tatkomplexe.
Die rezidivierenden Depressionen mit somatischen Symptomen haben ihre Genese weit in der Kindheit zurückliegend und sind sicher mitbegründet durch eindeutige biographische Belastungsfaktoren. Die Mutter wurde als ungerecht, strafend und auch schlagend erlebt. Es bestand eine gegenseitige Hassbeziehung. Somatische Symptome mit Magenbeschwerden und rezidivierende Magengeschwüren reichen bis in die Kindheit (10. Lebensjahr) zurück. Ebenso lassen sich eindeutig depressive Symptome bis in die Kindheit zurückverfolgen. Aus dieser anhaltenden und chronifizierten Depression mit schlechter Selbstwertregulierung und gestörtem Selbstbewusstsein, hat sich eine Reihe von Beziehungskonflikten und eine Einschränkung der Beziehungsgestaltung entwickelt. Diese spiegeln sich sowohl in der Partnerwahl wieder, als auch in Arbeitssituationen, in denen die Klägerin sich häufig ausgenutzt, benachteiligt oder ungerecht Behandelt fühlte.
Der Beginn der daneben bestehenden Angststörung mit Panikzuständen und spezifischen Ängsten ist schwer auszumachen. Die Klägerin selbst gibt Ängste mit verstärktem Sicherheitsbedürfnis seit der Trennung 1987 an. Dabei ist die Intensität und die Qualität dieser Ängste schwer auszumachen. Eindeutig handelte es sich auch um Verlustängste in Bezug auf den Sohn, der als idealisiertes und bestätigendes Objekt in der Selbstwertregulierung eine große Rolle spielt. In wieweit tatsächlich ein deutlich verstärktes Sicherungsbedürfnis in der Öffentlichkeit und in der Wohnung besteht bleibt etwas im Unklaren. Zumindest sprechen der psychopathologische Befund und die eher geringe affektive Beteiligung bei der Schilderung der Ängste, eher gegen das Vorhandensein einer verstärkten Schreckhaftigkeit, eines signifikant verstärkten Sicherungsbedürfnisses.
Ferner besteht mit großer Wahrscheinlichkeit eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dependenten und auch narzisstischen Anteilen. Auch diese Persönlichkeitsstörung hat sich mit Sicherheit früh, in den ersten Lebensjahren entwickelt. Aufgrund der unterschiedlichen biographischen Belastungsfaktoren, auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen. Abhängige, ambivalente Beziehungsstrukturen durchziehen die Biographie der Klägerin. Beide Ehepartner hatten eine Suchterkrankung. Auch die Beziehung zum Sohn ist durch Abhängigkeit, Verlustängste und ein hohes Maß an Aufopferung bestimmt. So die Ausführungen der Sachverständigen in ihrem Gutachten, denen sich die Kammer anschließt.
In der Abwägung der verschiedenen Ursachenfaktoren kommt die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass weder die tatsächliche Gewalterfahrungen im Sinne des § 1 OEG in der Kindheit wie auch in der zweiten Ehe nicht die wesentliche Ursache für das heute bestehende Krankheitsbild sind und damit eine Ursächlichkeit im Sinne eines Versorgungsanspruchs nicht wahrscheinlich gemacht werden kann. Vielmehr liegt die Ursache in den anderen, nicht unter das OEG fallenden Faktoren, in der kindlichen Biographie der Klägerin. Die körperlichen Traumatisierungen während der Kindheit sind zwar glaubhaft, sie sind aber Traumatisierungen unter anderen wesentlichen und die psychosozialer Entwicklung behindernden Belastungsfaktoren wie unerwünschte Schwangerschaft, emotionale Kühle, nicht erreichbare und letztlich gehasste Mutter, passiv abwartender Vater, frühe Trennungserlebnisse durch Heimaufenthalt und Unterbringung bei der Großmutter usw … Insofern besteht bei der Klägerin eine komplexe Traumatisierung, weshalb auch die Entwicklung einer ungünstigen komplexen Persönlichkeitsstörung insgesamt wahrscheinlich erscheint und auch die jetzige depressive Erkrankung ebenso wie die Ängste durch diese vorliegende Persönlichkeitsstörung ungünstig und chronisch verlaufen sind.
Zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung in der zweiten Ehe, bestand bei der Klägerin bereits eine komplexe psychiatrische Erkrankung. Die als psychosomatische und depressive Erkrankung bereits im Kindes- und Jugendalter begonnen hatte und auch schon zu mehreren Therapien ab 1971 und dem Abbruch der Lehre geführt hatten. Damit mögen die erlebten körperlichen Misshandlungen innerhalb der zweiten Ehe zu einer gewissen Verschlimmerung der Angsterkrankung geführt haben. Die wesentliche Ursache der Symptomatik liegt aber in der psychiatrischen Grunderkrankung der Klägerin die in ihrer frühen Kindheit entstanden ist."
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin, die ihr erstinstanzliches Begehren unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens in vollem Umfang aufrecht hält.
Die Klägerin und der Beklagte beantragen beide,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.07.2010 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Düsseldorf zurückzuverweisen.
Beide Beteiligte haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichtet zugestimmt. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakten und auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, sowie auf den Inhalt der beigezogenen Prozessakten in dem Verfahren S 26 R 33/06 des SG Düsseldorf, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache ab die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel i.S.d. Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (näher hierzu Senatsurteile vom 22.06.2011 – L 13 VG 90/10 und vom 25.05.2011 – L 13 VG 52/10 sowie Frehse in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 159 Rn. 6 m.w.N.). Die angefochtene Entscheidung des SG beruht auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn der erkennende Senat konnte ohne die Erhebung weiterer Beweise in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen. (hierzu unter II.
I.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG siehe Senatsurteil vom 14.10.2011 – L 13 VJ 44/11 – ; vom 22.06.2011 – L13 VG 90710-; vom 25.05.2011 – L 13 VG 52/10 -und vom 22.02.2011 – L 13 SG 328/10 – jeweils mit weiteren Nachweisen, insbesondere auf die Urteile des LSG NRW vom 20.02.2002 – L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 – L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 – L 8 R 264/07 – sowie vom 27.11.2008 – L 2 KN 165/08 -). Hier liegen mehrere wesentliche Verfahrensmängel vor: Das hat SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gem. §§ 103 und 106 SGG nicht genügt.
1. Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil das SG sich zu weiterer Beweiserhebung in Gestalt der Vernehmung von Zeugen (vor Beauftragung von Sachverständigen) hätte gedrängt fühlen müssen. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Das Gericht ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden Hiernach hat das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren die Amtsermittlung in eigener Verantwortung durchzuführen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen (vgl. Kolmetz in: Jansen, SGG, 3. Auflage, 2009, § 193 Rn. 3 ff. m.w.N.). Bei einem geltend gemachten Anspruch nach dem OEG hat das Gericht konkret die angeschuldigten Handlungen nach Ort, Zeit und Art zu ermitteln und zu benennen, die es als Angriffe iSd § 1 OEG ansieht (LSG NRW Urteil vom 13.08.2008 – L 10 VG 12/08 -).
Die genauere Feststellung der angeschuldigten Missbrauchserfahrungen der Klägerin ist bislang trotz sich aufdrängender Beweismöglichkeiten, insbesondere in Gestalt der Vernehmung ihres als Täter genannten früheren Ehemannes sowie ihrer Mutter, Schwestern und ihrer früheren Schulfreundin nicht im Ansatz aufgeklärt. Ob die Klägerin diese Anhörung bezüglich einzelner Auskunftspersonen nicht wünscht, ist für die Ermittlungen von Amts wegen gemäß §§ 103,106 SGG nicht maßgeblich. Denn das Zeugnisverweigerungsrecht steht nur dem Zeugen, nicht aber der Klägerin (Antragstellerin) zu (vgl. § 118 SGG iVm § 383 Zivilprozessordnung). Die Klägerin hat es vielmehr über die sog. Dispositionsmaxime bzw. den Antragsgrundsatz gemäß §§ 90, 92 SGG allenfalls in der Hand, den behördlichen/gerichtlichen Ermittlungen gänzlich die Grundlage zu entziehen, indem sie ihren Antrag/die Klage zurücknimmt (was sie jederzeit ohne Begründung tun kann. Es handelt sich bei einer Zeugenvernehmung (auch von Angehörigen) auch nicht etwa um eine mitwirkungspflichtige Handlung, die nach den Grundsätzen fehlender Mitwirkung gemäß § 60 ff des Sozialgesetzbuches Erstes Buch zu behandeln wäre (Androhung und dann Belastung mit Beweisnachteilen bis hin zur Ablehnung des Antrags). Denn der Kläger/Antragsteller muss bei einer gerichtlichen Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung nichts selbst beitragen oder dulden, so dass eine "Mitwirkung" der Klägerin schon im rechtlichen Ansatz ausscheidet. Das SG hätte also zumindest die Mutter und den angeschuldigten Täter, die beide bekannt sind bzw. sich polizeilich ermitteln lassen, als Zeugen vernehmen müssen. Auch eine Vernehmung der Schwestern als Zeuginnen bietet sich an. Ob sich die Häufigkeit und Heftigkeit der von der Klägerin geschilderten Schläge dadurch erweisen lässt, kann im Vorhinein nicht beurteilt werden. Jedenfalls hätte das SG allen sich objektiv anbietenden Beweismöglichkeiten zum Tathergang nachgehen müssen, um festzustellen, inwieweit überhaupt unter § 1 OEG fallende konkrete Handlungen vorlagen.
Dies hätte auch vor der Anhörung der Sachverständigen geschehen müssen, da diese angesichts der vom Gericht gestellten Beweisfragen einen fest stehenden nicht-medizinischen Sachverhalt in Gestalt von sogenannten Anknüpfungstatsachen benötigt, um überhaupt auf dieser Grundlage die medizinisch-psychiatrische Frage nach den Auswirkungen und der Ursächlichkeit dieses Sachverhalts auf das heutige Krankheitsbild der Klägerin seriös beurteilen zu können. Dabei ist mit Blick auf die im Gesetz vorgegebene zeitliche Zäsur des § 10a OEG zusätzlich nach Taten vor und Taten nach dem Jahr 1976 zu unterscheiden, weil erstere nur entschädigungsfähig sind, wenn die Klägerin bereits allein in Folge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig ist.
Die Beweisaufnahme war auch nicht wegen eines sonstigen bereits erwiesenen Sachverhalts entbehrlich. Es gibt derzeit keine gesicherte Erkenntnisse zu Art und Qualität von späteren Umständen oder Erkrankungen im Leben der Klägerin, die nicht unter den Begriff eines Angriffs i.S.d. § 1 OEG fallen und die Ursächlichkeit vorangegangener Taten im Sinne eines sogenannten Nachschadens als überragende Ursache der heutigen Erkrankung ausschließen. Auch hierzu hat das Sozialgericht bislang keine ausreichenden Feststellungen getroffen, die eine sichere Abgrenzung erlauben.
Vielmehr hat das Sozialgericht selbst eingeräumt, dass die Erkrankung der Klägerin als reaktive Depression ihre Entstehung weit in der Kindheit zurückliegend hat und daher ausdrücklich feststeht, dass es damals unter anderem auch zu regelmäßigen körperlichen Züchtigungen durch die Mutter kam, die als Tatbestände i.S.d. § 1 OEG in Betracht kommen. Warum diese Umstände nicht zumindest weiterhin im Sinne einer sich noch heute wesentlich auswirkenden Mitursache zu bewerten sind, hat das SG nicht nachvollziehbar begründet. Vielmehr geht es selbst ausdrücklich sogar davon aus, dass sie für die Erkrankung der Klägerin "sicher mit begründet" sein sollen.
II.
Die aufgezeigten Verfahrensmängel sind auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass SG bei ordnungsgemäßer Beweisaufnahme und -würdigung eine andere Entscheidung getroffen hätte. Das erkennende Gericht macht von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem sonst drohenden Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch. Es überwiegen vorliegend die Schutzinteressen der Beteiligten an einem ordnungsgemäßen Verfahren, zumal sowohl die Klägerin wie die der Beklagte beide ausdrücklich eine Zurückverweisung an die erste Instanz wünschten.
Das erkennende Gericht könnte i.Ü. selbst gegenwärtig auch nicht ohne weitere aufwändige Beweiserhebung in Form von zumindest weiterem Zeugenbeweis und ergänzenden Sachverständigengutachten abschließend über den geltend gemachten Anspruch entscheiden. Hierbei handelt es sich um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG als ermessensgerecht gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a.a.O., vgl. nunmehr auch die Neufassung des § 159 Abs. 1 SGG gem. Art. 8 des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2011, das am 01.01.2012 in Kraft getreten ist). Anderenfalls bestünde nicht zuletzt auch die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden. Es wurde ausgeblendet, dass § 159 SGG ein wesentliches Instrument der verfahrensmäßigen Qualitätssicherung ist. In der Rechtsprechung ist mit guten Gründen anerkannt, dass der Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung im Interesse der rechtssuchenden gewissen Minimalanforderungen genügen muss (hierzu z.B. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 28.11.2002 – 2 C 25/01 -; Bundesfinanzhof (BFH), Urteile vom 01.02.2001 – III R 11/98 – und 07.11.2000 – VII R 24/00 -; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 15.11.1988 – 4/11a RA 20/87 -; BGH, Urteil vom 21.12.1962 -; LSG NRW, Urteile vom 23.01.2002 – L 10 SB 150/01 -, 05.09.2001 – L 10m SB 70/01 -, 20.02.2002 – L 10 V 41/01 – und 14.05.1998 – L 7 SB 146/97 -). Wird dem – wie hier – nicht Rechnung getragen und sprechen keine sonstigen besonderen Gründe der Verfahrensgerechtigkeit dagegen, ist mithin eine Zurückverweisung nach § 159 SGG geboten.
Die Kostenentscheidung basiert auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestanden nicht, § 160 Abs. 2 SGG.
Erstellt am: 27.02.2019
Zuletzt verändert am: 27.02.2019