Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 21.03.2019 geändert. Der Bescheid vom 12.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2018 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger unter Änderung der Bewilligungsbescheide vom 18.04.2017, 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 weitere 297,50 EUR für Oktober 2017 zu zahlen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme von Kosten der Kryokonservierung von Samenzellen des Klägers streitig.
Der 1998 geborene Kläger bezieht in Bedarfsgemeinschaft mit seinen Eltern und Geschwistern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Im Jahr 2014 wurde bei ihm ein Immundefekt (septische chronische Granulomatose) diagnostiziert. Wegen der daher notwendigen Knochenmarkttransplantationen und Chemotherapien bestand bei dem Kläger die Gefahr eines Fertilitätsverlustes. Dem Kläger wurde deshalb ärztlicherseits die Kryokonservierung körpereigener Spermienzellen empfohlen. Aufgrund eines Vertrages vom 30.09.2014 lagerte die Fa. D GmbH Spermien des Klägers ein. Die Kosten für die Kryokonservierung betragen 297,50 EUR/Jahr.
Die Barmer GEK als für den Kläger zuständige Krankenkasse des Klägers lehnte die Übernahme der Kryokonservierungskosten mit Bescheiden vom 16.10.2014 und vom 31.10.2014 ab, da es sich nicht um eine Kassenleistung handele.
Mit Bescheiden vom 18.04.2017 und Änderungsbescheiden vom 25.04.2017, 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft einschließlich des Klägers Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dem Kläger wurden im Oktober 2017 zuletzt Leistungen iHv 363,47 EUR bewilligt (327 EUR Regelbedarf + 7,52 EUR Warmwasserpauschale + 190,95 EUR kopfteilige Unterkunfts- und Heizbedarfe – 162 EUR bereinigtes Kindergeld [192 EUR Kindergeld – 30 EUR Versicherungspauschale]).
Mit Rechnung vom 18.09.2017 stellte die Fa. D GmbH dem Kläger für die Kryokonservierung vom 02.10.2017 bis zum 02.10.2018 297,50 EUR, zahlbar bis zum 02.10.2017, in Rechnung. Am 06.10.2017 beantragte der Kläger unter Beifügung der Rechnung und des zugrunde liegenden Vertrages die Übernahme dieser Kosten bei dem Beklagten.
Mit Bescheid vom 12.10.2017 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Kryokonservierung sei eine Maßnahme zur persönlichen Familienplanung und diene nicht der Sicherung des Lebensunterhalts. Zudem bestehe kein unabweisbarer Bedarf, da der Kläger die jährlichen Kosten aus der Versicherungspauschale iHv monatlich 30 EUR, um die das anzurechnende Kindergeld reduziert worden sei, ansparen könne. Am 10.11.2017 legte der Kläger Widerspruch ein. Die Familienplanung sei ein elementares Bedürfnis, welches bei ihm nur durch die Einlagerung des Keimmaterials habe gesichert werden können. Ein Verweis auf Absetzbeträge sei nicht zulässig. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Kosten für die Einlagerung von Keimmaterial zur Erfüllung eines späteren Kinderwunsches fielen nicht unter die Regelung des § 21 Abs. 6 SGB II. Die krankheitsbedingte Unfähigkeit, Nachkommen erzeugen zu können, begründe keinen Ausschluss vom gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Hiergegen hat der Kläger am 03.05.2018 Klage bei dem Sozialgericht Duisburg erhoben. § 21 Abs. 6 SGB II sei in Ausführung des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 – ergangen und im Lichte dieser Entscheidung auszulegen. Danach seien Kosten für den Erhalt der Möglichkeit, eigene Kinder zu haben, ein unabweisbarer Bedarf. Wenn nach den Durchführungshinweisen der Bundesagentur für Arbeit Kosten für Hygieneartikel, die Wahrung des Umgangsrechts und für Haushaltshilfen als unabweisbar angesehen würden, seine Kryokonservierungskosten erst recht als notwendig anzuerkennen.
Der Kläger hat eine nach Durchführung der Stammzellentransplantation und Chemotherapie erfolgte Ejakulatanalyse der Urologischen Praxisklinik G vom 21.11.2016 vorgelegt. Zwei Ejakulatproben des Klägers haben keinen Nachweis von Spermien mehr erbracht.
Im Verhandlungstermin vom 21.03.2019 hat der Kläger mitgeteilt, er habe das Geld für die Einlagerung des Keimmaterials von Familienangehörigen geliehen und in der Vergangenheit keine Aufwendungen für Versicherungen gehabt.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 18.04.2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2018 zu verurteilen, ihm einen Mehrbedarf iHv jährlich 297,50 EUR für die Einlagerung seines Keimmaterials zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte Prof. Dr. Z vom 11.09.2018, Dr. A vom 12.09.2018 und Prof. Dr. N vom 18.09.2018 eingeholt. Diese haben mitgeteilt, bei dem Kläger habe wegen der aggressiven Therapie mittels Chemotherapie und Knochenmarkttransplantation die Gefahr der Infertilität bestanden und die Reproduktionsfähigkeit habe allein durch die Kryokonservierung, die eine spätere künstliche Befruchtung ermögliche, gewährleistet werden können. Eine kostengünstigere Einlagerung sei nicht möglich.
Mit Urteil vom 21.03.2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Zwar habe der Kläger den Nachweis des Fertilitätsverlustes nach Chemotherapie erbracht, sodass die Entnahme und Lagerung der Spermien medizinisch zum Erhalt der Zeugungsfähigkeit notwendig gewesen sei. Der hierdurch bedingte Finanzierungsbedarf sei jedoch für den bei Antragstellung volljährigen Kläger nicht unabweisbar, da er die jährlichen Lagerungskosten aus dem ihm gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO verbleibenden Freibetrag iHv 30 EUR aus dem Kindergeld ansparen könne.
Gegen das ihm am 25.04.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24.05.2019 Berufung eingelegt. Die Anrechnung der Versicherungspauschale sei unzulässig, da er selbst entscheiden könne, wofür er die pauschaliert zustehenden Leistungen verwende.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 21.03.2019 zu ändern, den Bescheid vom 12.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm unter Änderung der Bewilligungsbescheide vom 18.04.2017, 15.05.2017, 17.07.2017, 05.09.2017 und 11.12.2017 weitere 297,50 EUR für Oktober 2017 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Wunsch des Klägers nach einer Familiengründung sei zwar nachvollziehbar, gehöre jedoch nicht zum menschenwürdigen Existenzminimum. Der Beklagte beruft sich insoweit auf den Beschluss des BVerfG vom 27.02.2009 – 1 BvR 2982/07. Hiernach bestehe keine staatliche Pflicht, die Entstehung einer Familie durch medizinische Maßnahmen der künstlichen Befruchtung, zu denen die Kryokonservierung gehöre, zu fördern.
Nach Hinweis des Senats auf § 27a Abs. 4 SGB V in der Fassung des Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom 06.05.2019 hat der Kläger am 28.06.2019 einen erneuten Antrag auf Kostenübernahme der Kryokonservierung bei der Barmer GEK gestellt. Mit Bescheid vom 02.07.2019 hat diese den Antrag abgelehnt. Einen Leistungsanspruch auf Kryokonservierung hätten die GKV-Versicherten erst, wenn der GBA in den Richtlinien nach § 27a Abs. 5 SGB V über künstliche Befruchtung die Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen bestimmt habe. Der GBA habe am 04.07.2019 beschlossen, den Unterausschuss Methodenbewertung mit der Durchführung des Beratungsverfahrens zur Anpassung der Richtlinien zur künstlichen Befruchtung zu beauftragen. Mit einer Anpassung der Richtlinien sei voraussichtlich im Februar 2020 zu rechnen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Ablehnung der Änderung der Bewilligungsbescheide für Oktober 2017 ist rechtswidrig iSd § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Änderung der Bewilligungsbescheide und Zahlung weiterer Leistungen für Oktober 2017 für die Kryokonservierungskosten iHv 297, 50 EUR.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens sind ein Anspruch des Klägers auf zusätzliche Leistungen wegen der Kosten der Kryokonservierung unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 12.10.2017 sowie die Verpflichtung des Beklagten zur Änderung der entsprechenden Bewilligungsbescheide für Oktober 2017 gem. §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 44 Abs. 1 SGB X. Da der geltend gemachte Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen eines unabweisbaren laufenden besonderen Bedarfs gemäß § 21 Abs. 6 SGB II keinen eigenständigen und von der Höhe des Regelbedarfs abtrennbaren Streitgegenstand darstellt (BSG Urteile vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 und vom 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R) ist die Höhe der gesamten Regelleistung einschließlich etwaiger Mehrbedarfe Gegenstand des Verfahrens. Der Bescheid vom 12.10.2017 wäre als isolierter Ablehnungsbescheid unzulässig und ist daher als Ablehnung einer entsprechenden Änderung der Bewilligungsbescheide gem. § 44 SGB X auszulegen (hierzu BSG Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R). Die Höhe der Unterkunfts- und Heizkosten gem. § 22 SGB II ist hingegen nicht Streitgegenstand, da der Kläger sein Begehren hierauf nicht erstreckt hat (hierzu BSG Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 42/13 R).
Gemäß §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Die Leistungsbescheide für den Monat Oktober 2017 sind rechtswidrig, soweit sie keine Übernahme der in diesem Monat fälligen Kryokonservierungskosten vorsehen. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Der Kläger befand sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II und war erwerbsfähig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II iVm § 8 Abs. 1 SGB II). Er war als Mitglied seiner Bedarfsgemeinschaft hilfebedürftig iSd §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 SGB II und verfügte im streitigen Zeitraum über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet iSd § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II iVm § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I. Leistungsausschlussgründe lagen nicht vor. Der Kläger hat damit im Oktober 2017 gem. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Die Leistungen umfassen gem. § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II neben den hier nicht streitigen Unterkunftskosten den Regelbedarf und Mehrbedarfe. Die Kosten für die Kryokonservierung stellen einen Mehrbedarf iSd § 21 Abs. 6 SGB II dar.
Gemäß § 21 Abs. 6 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Die vom Kläger geltend gemachten Kosten für eine aus medizinischen Gründen notwendige Kryokonservierung stellen einen nach § 21 Abs. 6 SGB II anzuerkennenden Bedarf dar.
§ 21 Abs. 6 SGB II ist aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG) in das SGB II eingeführt worden. Nach diesem Urteil folgt aus dem aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundrecht auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Anspruch auf Deckung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs. Ein solcher ist für denjenigen Bedarf erforderlich, der nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen. Denn ein pauschaler Regelleistungsbetrag kann nach seiner Konzeption nur den durchschnittlichen Bedarf decken. Ein in Sonderfällen auftretender Bedarf nicht erfasster Art oder atypischen Umfangs wird von der Statistik nicht aussagekräftig ausgewiesen. Auf ihn kann sich die Regelleistung folglich nicht erstrecken. Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG gebietet jedoch, auch einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf zu decken, wenn dies im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist. Der Bedarf entsteht, wenn er so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen – das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet (BVerfG Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. Rn. 204 f).
Der vom Kläger geltend gemachte Bedarf für die Kryokonservierung ist grundsätzlich als Bedarf für die Gesundheitspflege, die ebenfalls zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört (BVerfG Urteil vom 09.02.2010 – 1 Bvl 1/09 u.a. Rn. 135), im Regelbedarf berücksichtigt. Eine Kostenübernahme scheidet aus, wenn der Leistungsberechtigte wegen der Erkrankungen Kosten geltend macht, die nicht über das hinausgehen, was für die übrigen Kosten für Gesundheitspflege im Regelbedarf vorgesehen ist (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R). Für die Referenzgruppe der Einpersonenhaushalte (Regelbedarf dort 409 EUR) sieht § 5 RBEG idF vom 22.12.2016 Verbrauchsausgaben in der Abteilung 6 (Gesundheitspflege) von monatlich 15 EUR (jährlich 180 EUR) vor. Die hier entstehenden weiteren Kosten von jährlich 297,50 EUR übersteigen die im Regelbedarf für Alleinstehende vorgesehenen Verbrauchsausgaben für die Gesundheitspflege deutlich und haben aufgrund eines atypischen Sachverhalts einen atypischen Umfang.
Bei dem Bedarf handelt es sich – anders als der Beklagte meint – um einen grundsicherungsrechtlich relevanten Bedarf für die Gesundheitspflege. Die Kryokonservierung ist erforderlich geworden, um der krankheitsbedingten dauerhaften Unfähigkeit des jugendlichen Klägers, eigene Nachkommen haben zu können, entgegenzuwirken. Es handelt sich zwar nicht um eine Krankenbehandlung, da die durch die Kryokonservierung ggfs. vorbereitete künstliche Befruchtung keinen regelwidrigen körperlichen Zustand beseitigt, sondern diesen mit Hilfe medizinischer Technik umgeht (so BVerfG Beschluss vom 27.02.2009 – 1 BvR 2982/07), dennoch kann sie der Gesundheitspflege iSd § 5 RBEG iVm Abteilung 6 der EVS-Sonderauswertung zugerechnet werden. Zu Aufwendungen für die Gesundheitspflege gehören nicht durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckte Aufwendungen für pharmazeutische, medizinische und therapeutische Erzeugnisse, Mittel und Geräte (Gesetzesbegründung zum RBEG – BT-Drs. 18/9984 S. 41). Der Versuch, negative Auswirkungen einer schweren Erkrankung zu reduzieren, indem medizinische und technische Verfahren genutzt werden, die Erkrankungsfolgen zu umgehen, kann aufgrund des engen Zusammenhangs mit der eigentlichen Krankenbehandlung der Gesundheitspflege zugeordnet werden.
Der Umstand, dass nach der Rechtsprechung des BSG bis zum Inkrafttreten von § 27a Abs. 4 SGB V die Kryokonservierung von männlichen Samenzellen nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zählte (BSG Urteil vom 28.09.2010 – B 1 KR 26/09 R), steht der Zuordnung des Bedarfs zur dem Existenzminimum zuzurechnenden Gesundheitspflege nicht entgegen. Die Nichtübernahme von Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung ist gerade der Grund dafür, dass auch Gesundheitspflegeleistungen regelbedarfsrelevant sind (BT-Drs. 18/9984 S. 41). Die gesetzliche Krankenversicherung ist keine Vollversicherung und kennt zudem zahlreiche gesundheitsbedingte Bedarfe, die zwar nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen (zB Fahrtkosten zur medizinischen Behandlung nur nach Maßgabe von § 60 SGB V, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V, Sehhilfen für Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben gem. § 33 Abs. 2 SGB V), aber dennoch Sonderbedarfe iSd SGB II auslösen können (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 19.03.2015 – L 6 AS 1926/14 – Fahrtkosten zur Methadonsubstitution; LSG Hessen Urteil vom 14.02.2018 – L 6 AS 27/17 – nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel; BSG Urteil vom 25.10.2017 – B 14 AS 4/17 R – Brillenreparaturkosten als Bedarf iSd § 24 Abs. 3 Nr. 3 SGB II).
Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf den Beschluss des BVerfG vom 27.02.2009 – 1 BvR 2982/07 berufen. Das BVerfG hat zu der Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei medizinischen Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung entschieden, dass keine staatliche Verpflichtung des Gesetzgebers besteht, die Entstehung einer Familie mit den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung zu fördern. Bei Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung handele es sich um eine Leistung, die nicht medizinisch für eine Therapie notwendig sei, sondern die Wünsche eines Versicherten für seine individuelle Lebensgestaltung betreffe. Im Gegensatz zu der vom BVerfG entschiedenen Fallgestaltung handelt es sich vorliegend indes nicht um eine in ihren medizinischen Ursachen ungeklärte idiopathische Sterilität, sondern die Kryokonservierung der Samenzellen vor Beginn der Chemotherapie war eine medizinisch zur Erhaltung der Fähigkeit, eigene Kinder zu haben, zwingend notwendige, ärztlich empfohlene und in das Gesamtbehandlungskonzept eingebundene Maßnahme. In einer derartigen Fallgestaltung ist die Kryokonservierung keine Maßnahme, die lediglich "die Wünsche eines Versicherten für seine individuelle Lebensgestaltung betrifft" (so BVerfG Beschluss vom 27.02.2009 – 1 BvR 2982/07, Rn. 13), sondern es handelt sich um einen Bestandteil einer umfassenden Krankenbehandlung und damit einen existenziell notwendigen Bedarf iSd Art. 1 Abs. 1 GG, der dem Kläger nicht deshalb verschlossen bleiben darf, weil er nicht über die Mittel zu Finanzierung dieses Bedarfs verfügt.
Bei dem vom Kläger geltend gemachten Bedarf handelt es sich um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf. Maßgeblich ist nicht, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (vgl. BSG Urteil vom 08.05.2019 – B 14 AS 13/18 R mwN). Dies ist bei den hier geltenden gemachten jährlich über mehrere Jahre hinweg anfallenden Kosten der Fall. Dass der Bedarf nur einmal im Jahr entsteht, ist ausreichend.
Der Bedarf war auch unabweisbar. Unabweisbar im Sinne des Grundsicherungsrechts kann wegen der Subsidiarität dieses Leistungssystems ein medizinischer Bedarf grundsätzlich nur dann sein, wenn nicht die gesetzliche Krankenversicherung oder Dritte zur Leistungserbringung, also zur Bedarfsdeckung, verpflichtet sind (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R). Die Krankenkasse hat zu Recht (BSG Urteil vom 28.09.2010 – B 1 KR 26/09 R; Beschluss vom 09.12.2004 – B 1 KR 95/03 B) die Kostenübernahme nach dem SGB V abgelehnt. § 27 Abs. 4a SGB V ist erst zum 01.05.2019 in Kraft getreten, die Richtlinien des G-BA iSd § 27a Abs. 5 SGB V sind noch nicht ergangen. Die zur Überbrückung der Notlage von Familienmitgliedern darlehensweise erbrachte Zuwendungen führen nicht zu einem Wegfall des Bedarfs (vergl. BSG Urteile vom 17.06.2010 – B 14 AS 46/09 R und 20.12.2011 – B 4 AS 46/11 R).
Der Kläger kann schließlich nicht darauf verwiesen werden, die Aufwendungen aus dem vom anzurechnenden Kindergeld abzusetzenden Freibetrag gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-V zu bestreiten. Alle Mehrbedarfe, mithin auch der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II, umfassen die Bedarfe, die nicht durch den Regelbedarf gedeckt sind. Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass die Mehrbedarfe – ebenso wie der Regelbedarf – einen Teil des soziokulturellen Existenzminimums darstellen und somit von diesem regelungssystematisch nicht abgegrenzt werden können (Knickrehm/Hahn in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl., § 21 Rn. 10). Vor diesem Hintergrund wäre es systemwidrig, Einkommensfreibeträge, die beim Regelbedarf und bei den anderen Mehrbedarfen nicht berücksichtigt werden dürfen, beim Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II anspruchsmindernd anzurechnen. Die gegenteilige Auffassung führt zu einer systemwidrigen Vermengung des Gesamtbedarfs (Bedarfsebene) mit dem Umfang der zur Verfügung stehenden bereiten Mittel (Bedarfsdeckungsebene). Nach der gesetzlichen Systematik ist zunächst der Bedarf zu ermitteln, und erst anschließend zu prüfen, inwieweit dieser Bedarf durch bereite Mittel (Einkommen/ Vermögen) gedeckt werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Erstellt am: 26.02.2020
Zuletzt verändert am: 26.02.2020