Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.12.2019 wird abgelehnt. Die Antragstellerin hat die Kosten der Antragsgegner zu erstatten.
Gründe:
Die Entscheidung beruht auf § 199 Abs. 2 SGG. Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Der Aussetzungsantrag ist zulässig. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts vom 20.12.2019 ist ein vollstreckbarer Titel (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§ 175 Satz 1 und 2 SGG).
Der Antrag ist unbegründet.
Die Anordnung, die Vollstreckung einstweilen auszusetzen, ist eine Ermessensentscheidung (BSG Beschluss vom 08.12.2009 – B 8 SO 17/09; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 03.12.2014 – L 19 SF 801/14 ER und vom 16.07.2014 – L 6 SF 556/14 ER; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 26.01.2006 – L 8 AS 403/06 ER). Sie erfordert regelmäßig eine Abwägung des Interesses des Gläubigers an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung des Instanzenzugs leisten zu müssen. Für die einstweilige Aussetzung der Vollstreckung bedarf es regelmäßig besonderer rechtfertigender Umstände, die über die Nachteile hinausgehen, die für den Antragsteller mit der Zwangsvollstreckung aus einem noch nicht rechtskräftigen Titel also solcher regelmäßig verbunden sind. Dies folgt aus der Entscheidung des Gesetzgebers, dass die Rechtsmittel Berufung und Beschwerde grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben (§§ 154, 175 SGG, hierzu auch BSG Beschluss vom 05.09.2001 – B 3 KR 47/01 R). Für die Aussetzung der Vollstreckung aus einer einstweiligen Anordnung kommt hinzu, dass schon das in der Hauptsache geführte Eilverfahren darauf gerichtet ist, effizienten Rechtsschutz unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu gewährleisten (so etwa BVerfG Beschluss vom 10.10.2013 – 1 BvR 2025/03). Daher bedarf es für eine vorläufige Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG der Glaubhaftmachung weiterer schwerer und unzumutbarer, nicht anders abwendbarer Beeinträchtigungen, die durch die Entscheidung über die Beschwerde auch angesichts des Umstands, dass es sich auch beim Beschwerdeverfahren um ein Eilverfahren handelt, nicht mehr beseitigt werden können. Sind existenzsichernde Leistungen zum Lebensunterhalt im Streit, ist zudem zu berücksichtigen, dass deren Gewährung einer verfassungsrechtlichen, dem Schutz der Menschenwürde dienenden Pflicht des Staates entspricht (BVerfG Beschluss vom 23.07.2014 – 1 Bvl 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691713). Auch deshalb müssen in diesen Fällen die Interessen des Antragstellers gegenüber der existenzsichernden Funktion der zuerkannten Leistungen für den Antragsgegner deutlich überwiegen (ähnlich Bayerisches LSG Urteil vom 08.02.2006 – L 10 AS 17/06 ER; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 24.06.2008 – L 7 AS 2955/08 ER). Damit verengt sich der Anwendungsbereich des § 199 Abs. 2 SGG in Eilverfahren nach dem SGB II auf Fallgestaltungen, in denen die Vollstreckung gegen den Leistungsträger ganz erheblich über die Nachteile hinausgeht, die für ihn regelmäßig mit der Zwangsvollstreckung aus dem Titel ohnehin verbunden sind (zum Ausnahmecharakter einer Aussetzung der Vollstreckung vergl. BVerfG Beschluss vom 04.08.2016 – 1 BvR 380/16; in diesem Sinne auch Beschlüsse des Senats vom 18.11.2019 – L 7 SF 401/19 ER, vom 31.10.2016 – L 7 SF 449/16 ER und vom 09.01.2015 – L 7 SF 928/14 ER; LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 03.12.2014 – L 19 SF 801/14 ER, vom 04.11.2014 – L 19 SF 725/14 ER, vom 12.09.2013 – L 19 SF 267/13, vom 16.07.2014 – L 6 SF 556/14, vom 22.05.2014 – L 6 SF 450/14 ER und vom 16.03.2016 – L 19 SF 123/16 ER). Die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels sind insoweit zu berücksichtigen, als bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung die Vollzugsaussetzung regelmäßig angeordnet werden sollte.
Die Antragstellerin hat mit der Beschwerde und dem Vollstreckungsschutzantrag keine besonderen rechtfertigenden Umstände vorgetragen, die über die Nachteile hinausgehen, die mit der Vollstreckung aus einem nicht rechtskräftigen Titel ohnehin verbunden sind. Die Entscheidung ist weder offensichtlich rechtswidrig, noch liegen andere Gesichtspunkte vor, die eine Aussetzung unter Berücksichtigung der oben dargelegten Maßstäbe als geboten erscheinen lassen.
Soweit der Antragsteller einwendet, der Tenor des mit der Beschwerde angefochtenen Beschlusses sei "zu unbestimmt", trifft dies nicht zu. Der Beschluss verpflichtet den Antragsteller, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Unterkunftskosten für einen genau bestimmten Zeitraum an die im Rubrum bezeichneten Personen zu zahlen. Auch im einstweiligen Rechtsschutz ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG die Verpflichtung des Leistungsträgers lediglich dem Grunde nach zulässig (st. Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschluss vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER), die Vollstreckung erfolgt dann in entsprechender Anwendung von § 201 SGG mittels Zwangsgeldandrohung und -festsetzung (Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 12. Aufl., § 201 Rn. 2a; Wündrich, SGb 2009, 267 ff).
Soweit der Antragsteller meint, der angefochtene Beschluss sei rechtswidrig, weil das Sozialgericht ihn nicht nur zur Zahlung vorläufiger Leistungen verpflichtet, sondern eine endgültige Entscheidung getroffen und damit die Hauptsache vorweggenommen habe, trifft dies ebenfalls nicht zu. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner sowohl nach dem Rubrum der Entscheidung als auch ausdrücklich im Tenor "im Wege der einstweiligen Anordnung" zur Zahlung der Leistungen verpflichtet. Damit handelt es sich allein aus verfahrensrechtlichen Gründen um eine vorläufige Entscheidung, ohne dass die Leistungen im Tenor ausdrücklich als "vorläufige" Leistungen bezeichnet werden müssen oder auch nur sollten. Eine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG trifft immer nur eine vorläufige Regelung, die unter dem Vorbehalt einer abweichenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht. Die einstweilige Anordnung verliert ihre Rechtswirkung mit der endgültigen Entscheidung (BSG Urteil vom 20.04.2016 – B 8 SO 20/14 R). Wenn der Leistungsträger aufgrund einer einstweiligen Anordnung Leistungen erbracht hat, steht ihm ein in entsprechender Anwendung von § 50 Abs. 2 SGB X zu verfolgender Rückzahlungsanspruch zu, soweit die Verpflichtung zur Erbringung der Leistung im Hauptsacheverfahren nicht bestätigt wird. Die Erstattungspflicht des Gegners ergibt sich aus dem Prozessrechtsverhältnis zwischen den Beteiligten (BSG Urteil vom 09.03.1988 – 9/9a RV 24/85 mwN). Eine ausdrückliche Verpflichtung des Leistungsträgers im einstweiligen Rechtsschutz, "vorläufig" Leistungen zu zahlen, wie dies vom Antragsteller des Vollstreckungsschutzverfahrens ausdrücklich begehrt wird, wäre demgegenüber mindestens missverständlich. Der Begriff der "Vorläufigkeit" ist im SGB II für Leistungen iSd § 41a SGB II vorgesehen. Die nach dieser Vorschrift erbrachten vorläufigen Leistungen unterliegen dem Regelungsgefüge des § 41a SGB II, die Erstattungspflicht richtet sich zB nach § 41a Abs. 6 SGB II, es gilt die Festsetzungsfiktion nach § 41a Abs. 5 SGB II, für die abschließende Entscheidung gilt § 41a Abs. 3 und 4 SGB II. Dieses Regelungsgefüge gilt nicht für durch eine gerichtliche einstweilige Anordnung gem. § 86b SGG zugesprochene Leistungen, weshalb es zutreffend ist, derartige Leistungen gerade nicht ausdrücklich als vorläufige Leistungen zu bezeichnen.
Schließlich nimmt die angefochtene Entscheidung die Hauptsache nicht unzulässig vorweg. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur vor, wenn die angeordnete Maßnahme nicht mehr nachträglich für die Vergangenheit korrigierbar ist (BSG Urteil vom 13.12.2016 – B 1 KR 1/16 R). Bei der Verpflichtung zur Zahlung von Geldleistungen liegt eine Vorwegnahme der Hauptsache daher nur vor, wenn eine spätere Rückforderung im Fall des Obsiegens des Leistungsträgers aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist. Evtl. wirtschaftliche Schwierigkeiten des Schuldners bei der Rückerstattung der Leistungen begründen keine Unmöglichkeit der Rückabwicklung und Vorwegnahme der Hauptsache (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 12. Aufl., § 86b Rn. 31).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 15.06.2020
Zuletzt verändert am: 15.06.2020