Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 19.08.2019 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in vollem Umfang abgelehnt. Die Beteiligten haben einander in beiden Instanzen keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Den Antragstellern wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Q aus D für die Zeit ab Antragstellung bewilligt.
Gründe:
1. Die nach § 172 Abs. 1 SGG zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist in der Sache begründet.
a) Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Reglungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (LSG NRW vom 12.07.2017 – L 12 AS 596/17 B ER / L 12 AS 597/17 B, Juris Rn. 21). Stellt sich bei der Rechtsprüfung überdies eine Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den EuGH erfordert, so lassen sich weder – ohne weiteres – ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneinen noch kann die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bejaht werden (vgl. zu einer ähnlichen Situation: BVerfG, Beschluss vom 27.04.2005, 1 BvR 223/05). In diesen Fällen wird eine Antragsablehnung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur dann Bestand haben können, wenn dieser Umstand – über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts hinausgehend – in die Abwägung des Interesses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse einbezogen wird. Steht somit (zumindest) eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage im Raum, bei der im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH naheliegt, kann sich das Tatsachengericht nicht mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten zufriedengeben, sondern muss darüber hinaus eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Antragsteller durchführen (BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 – 2 BvR 2013/16, Rn. 18 und 23; zum Vorstehenden Beschluss des erkennenden Senats vom 14. September 2017 – L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/17 B -, Juris Rn. 34).
b) Nach diesem Maßstab kommt der Senat in Abwägung der Interessen der Antragsteller an einer Gewährung existenzsichernder Leistungen mit dem vom Antragsgegner vertretenen öffentlichen Interesse zu dem Ergebnis, dass die Antragsteller einen Anordnungsanspruch gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG nicht glaubhaft gemacht haben.
aa) Zweifel hinsichtlich des Anordnungsanspruches bestehen in formell-rechtlicher Hinsicht schon deshalb, weil die Antragsteller gegen den Ablehnungsbescheid vom 16.07.2019 keinen Widerspruch erhoben haben, so dass der Ablehnungsbescheid formell bestandskräftig ist (§ 77 SGG). Erst im Beschwerdeverfahren haben die Antragsteller insoweit einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Abs. 1 SGB X gestellt.
bb) Dies konnte indes dahinstehen. Denn die Antragsteller erfüllen zwar materiell-rechtlich die Anspruchsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, werden jedoch von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II erfasst.
Nach dieser Regelung sind von der Leistungsberechtigung nach dem SGB II Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen, die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (Freizügigkeitsverordnung) ableiten.
Dies ist bei den Antragstellern der Fall. Die Antragsteller leiten ihr Aufenthaltsrecht, anknüpfend an den Schulbesuch der Antragstellerin zu 2), allein aus Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung ab; an dem tatsächlichen Schulbesuch der Antragstellerin zu 2) zweifelt der Senat einstweilen nicht. Insbesondere besteht kein fortwirkendes Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 a, Abs. 3 FreizügG/EU, weil ihre letzte Beschäftigung – was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist – zum 31.12.2018 endete. Damit ergibt sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin seit dem 01.07.2019 allein aus dem Zwecke der Arbeitsuche, so dass sie gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist.
cc) Der Senat konnte sich im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz nur möglichen summarischen Prüfung nicht davon überzeugen, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II wegen des Anwendungsvorrangs europäischen Sozialrechts nicht anwendbar ist.
Die europarechtlichen Bedenken, die gegen diesen Leistungsausschluss vorgebracht werden und einen Verstoß gegen das leistungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (Koordinierungsverordnung) annehmen (hierzu Vorlagebeschluss des LSG NRW vom 14.02.2019 – L 19 AS 1104/18, m.w.N. zum Streitstand), hält der Senat derzeit nicht für derart durchgreifend, dass das nationale Recht unangewendet bleiben müsste.
Der Senat teilt im Rahmen der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II eine europarechtlich nicht gerechtfertigte (bzw. sogar nicht zu rechtfertigende) Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 4 der Koordinierungsverordnung darstellt. Denn diese Auffassung fußt auf der aus Sicht des Senates nicht zutreffenden Annahme, die Schranken- bzw. Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie), könne Ungleichbehandlungen hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen bei einem Freizügigkeitsrecht aus Art. 10 Abs. 1 der Freizügigkeitsverordnung nicht rechtfertigen. Der Senat konnte sich damit einstweilen nicht davon überzeugen, dass ein Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsverordnung europarechtlich zwingend zu einem leistungsrechtlichen Anspruch auf Sicherung des Lebensunterhaltes (Sozialhilfe iSd. Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie bzw. besondere beitragsunabhängige Geldleistung iSd. Art. 70 Abs. 2 Koordinierungsverordnung) führen soll, ohne denselben Schranken zu unterfallen, die leistungsrechtlich für Aufenthaltsrechte aus der Freizügigkeitsrichtlinie gelten. Der Senat nimmt insoweit zur Begründung im Einzelnen auf seinen Beschluss vom 14.09.2017 (L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/18 B, Juris Rn. 43 ff.) Bezug, auf den er die Beteiligten vor seiner Entscheidung ausdrücklich hingewiesen hat.
dd) Die hier vorzunehmende Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Antragsteller (dazu oben bei a) rechtfertigt es nicht, den nationalen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II einstweilen nicht anzuwenden.
Denn es sind keine besonderen Gründe erkennbar oder von den Antragstellern vorgetragen worden, die eine solche Nichtanwendung geltenden nationalen Rechts rechtfertigen könnten. Ein solcher besonderer Grund könnte insbesondere angesichts der grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Schwangerschaft mit unmittelbar bevorstehender bzw. zu erwartender Entbindung sein (dazu Beschluss des erkennenden Senates vom 14.09.2017 – L 21 AS 1459/17 B ER / L 21 AS 1360/18 B, Juris Rn. 36).
Der Senat verkennt nicht, dass die Nichtgewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II für die Antragsteller wirtschaftlich weitreichende Folgen hat. Sofern sie dadurch mittelbar veranlasst werden sollten, nach Italien als Herkunftsland zurückzukehren, werden gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII hilfebedürftigen Ausländern bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Die Überbrückungsleistungen umfassen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und ferner Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII. Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten zur Überwindung einer besonderen Härte gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.
Die Antragsteller haben nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beigeladenen bei ihm einen Antrag auf solche Überbrückungsleistungen nach dem SGB XII bislang nicht gestellt.
ee) Auch das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA vom 11.12.1953, BGBl. II 1956, S. 564) steht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II nicht entgegen. Bezogen auf SGB II-Leistungen kann sich ein Unionsbürger nach Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung am 19.12.2011 nicht mehr auf das Gleichbehandlungsgebot des EFA berufen (BSG, Urteil vom 17.03.2016, B 4 AS 32/15 R, Juris Rn. 18). Der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt ist wirksam (BSG, Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 43/15 R, Juris Rn. 18 ff).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
3. Den bedürftigen Antragstellern war für ihre Rechtsverteidigung im Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
4. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 15.06.2020
Zuletzt verändert am: 15.06.2020