Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 8.1.2019 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Der Streitwert wird auf 27.399,07 Euro festgesetzt.
Gründe:
Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Aachen vom 8.1.2019 erhobene Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber unbegründet.
Zu Recht hat das SG die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid vom 21.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.8.2018 (Az. S 6 BA 537/18) angeordnet.
Gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese auf Antrag ganz oder teilweise anordnen. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine – wie hier erfolgte – Entscheidung über Beitragspflichten und die Anforderung von Beiträgen sowie der darauf entfallenden Nebenkosten haben gem. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung. Dies gilt auch für Säumniszuschläge (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 11.3.2016 – L 8 R 506/14 B ER – juris Rn. 49 m.w.N.).
Die Entscheidung, ob eine aufschiebende Wirkung ausnahmsweise gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG dennoch durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 S. 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Da § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Hierfür reicht es nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 11.3.2016 – L 8 R 506/14 B ER – juris Rn. 51 m.w.N.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat das SG zutreffend die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet, da ein Erfolg nach der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist. Es spricht derzeit mehr dafür als dagegen, dass sich der Bescheid vom 21.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.8.2018, mit dem die Antragsgegnerin vom Antragsteller für den Zeitraum vom 1.1.2011 bis 31.12.2013 Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 109.596,26 Euro einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 29.178,00 Euro fordert, in der Hauptsache als jedenfalls teilweise rechtswidrig erweisen wird.
Ermächtigungsgrundlage für den Erlass des Prüfbescheides durch die Antragsgegnerin ist § 28p Abs. 1 S. 5 SGB IV. Nach dieser Vorschrift erlassen die Träger der Rentenversicherung gegenüber den Arbeitgebern Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe der Arbeitnehmer in der Kranken-, Pflege-, und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.
Hat ein Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt und können dadurch die Versicherungs- oder Beitragspflicht oder die Beitragshöhe nicht festgestellt werden, kann der prüfende Träger der Rentenversicherung den Beitrag gem. § 28f Abs. 2 S. 1 SGB IV von der Summe der vom Arbeitgeber gezahlten Arbeitsentgelte geltend machen. S. 1 gilt nach S. 2 nicht, soweit ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand festgestellt werden kann, dass Beiträge nicht zu zahlen waren oder Arbeitsentgelt einem bestimmten Beschäftigten zugeordnet werden kann. Soweit der prüfende Träger der Rentenversicherung die Höhe der Arbeitsentgelte nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann, hat er diese nach S. 3 zu schätzen. Die Schätzung soll der Wirklichkeit möglichst nahe kommen. Auch wenn der Rentenversicherungsträger bei der Wahl der Schätzmethoden frei ist, muss er von sachlichen und nachvollziehbaren Erwägungen ausgehen und eigene, sozialversicherungsrechtliche Maßstäbe anlegen (vgl. Werner in jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 28f SGB IV (Stand: 01.03.2016), § 28f Rn. 65 ff.).
Nach dem derzeitigen Sachstand hat der Antragsteller zwar seine Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt und war eine Feststellung der Versicherungs- und Beitragspflicht bzw. Beitragshöhe nicht möglich (hierzu unter 1.). Es bestehen aber überwiegende Bedenken gegen die von der Antragsgegnerin auf der Grundlage von § 28f Abs. 2 S. 3 u. 4 SGB IV durchgeführte Schätzung (hierzu unter 2.).
1. Die derzeitigen Erkenntnisgrundlagen tragen zunächst die Auffassung der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller seine Aufzeichnungspflicht nach § 28f Abs. 1 S. 1 SGB VI nicht ordnungsgemäß erfüllt hat. Vollständige Entgeltaufzeichnungen für jeden Beschäftigten sind von ihm für den streitigen Prüfzeitraum weder im Verwaltungs- noch im gerichtlichen Eilverfahren vorgelegt worden. Stattdessen hat der Antragsteller sich darauf beschränkt, die Schätzungen der Antragsgegnerin anzugreifen und alternative Schätzmethoden vorzuschlagen. Dies bestätigt die Annahme, dass den gesetzlichen Anforderungen genügende Entgeltunterlagen nicht vorhanden sind. Dem entspricht es, dass auch die vernommenen Zeugen nicht von Aufzeichnungen berichtet haben und der Verdienst jedenfalls einzelner Arbeitnehmer bar aus der Kasse ausgezahlt wurde.
Da auch sonstige valide Dokumente bzw. Auskünfte nicht zur Verfügung gestanden haben bzw. stehen, konnte die Versicherungs- und Beitragspflicht der Beschäftigten sowie die Beitragshöhe nicht ohne weiteres festgestellt werden. Insbesondere haben die Arbeitnehmer des Antragstellers bei ihren Vernehmungen als Zeugen durch das Amtsgericht bzw. Hauptzollamt (HZA) sich widersprechende oder nicht ausreichend verwertbare Angaben zu ihren Arbeitszeiten gemacht.
2. Jedoch begegnet die auf der Grundlage von § 28f Abs. 2 S. 3 u. 4 SGB IV durchgeführte Schätzung der Antragsgegnerin zu den erzielten Arbeitsentgelten gegenwärtig überwiegenden Bedenken.
a) Zwar ist die Schätzung zunächst grundsätzlich zulässig. Die Arbeitsentgelte konnten mangels Aufzeichnung durch den Antragsteller und mangels sonstiger Anhaltspunkte – wie dargelegt – nicht bzw. nicht ohne unverhältnismäßig großen Aufwand i.S.v. § 28f Abs. 2 S. 3 SGB IV ermittelt werden.
b) Die von der Antragsgegnerin der Schätzung zugrunde gelegten Erwägungen sind jedoch nicht hinreichend nachvollziehbar. Diese ist davon ausgegangen, dass der Gastronomiebetrieb der Antragstellerin in zwei Schichten organisiert gewesen sei, einer Frühschicht von 11.00 bis 17.00 Uhr und einer Spätschicht von 17.00 bis 23.00 Uhr. In der Frühschicht seien neben dem Inhaber regelmäßig mindestens zwei weitere Personen und in der Spätschicht mindestens drei weitere Personen tätig geworden.
Die bisher vorliegenden Zeugenaussagen tragen diese Annahme, die der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Hochrechnung der Entgelte zugrunde liegt, jedoch nicht. Vielmehr ist derzeit – vorbehaltlich weiterer Zeugenvernehmungen – von einer geringeren Stundenzahl von zusätzlich beschäftigten Arbeitnehmern auszugehen.
Zutreffend hat das SG im angefochtenen Beschluss bereits darauf hingewiesen, dass die Zeuginnen C und S, auf die die Antragsgegnerin ihre Schätzung gestützt hat, lediglich in einem sehr geringen Teil des über zweijährigen Prüfzeitraums (1.11.2011 bis 31.12.2013) bei dem Antragsteller beschäftigt waren, so die Zeugin C weniger als einen Monat im Oktober 2012 und die Zeugin S gut drei Monate von September bis Dezember 2013. Problematisch erscheint es daher, aus deren Aussagen, mittags hätten immer 2 bis 3 Personen und abends noch mehr Beschäftigte im Imbiss gearbeitet, wobei der Antragsteller selbst nur stundenweise und seine Ehefrau H. B. im Wesentlichen gar nicht tätig gewesen seien, einen validen Rückschluss auf den gesamten Prüfzeitraum zu ziehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass den Darstellungen der Zeuginnen die Aussagen weiterer – auch in anderen Zeiträumen beschäftigter – Zeuginnen und Zeugen entgegenstehen, die einen höheren bis hohen Arbeitsanteil der Eheleute B und mehrheitlich eine nur stoßbetriebsbezogene Bedarfsanforderung von Beschäftigten angegeben haben. Auf die Ausführungen des SG im angefochtenen Beschluss vom 8.1.2019 wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG). Zu Recht hat das SG seine Zweifel jedenfalls an der Höhe des von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Stundenumfangs – für das streitige Eilverfahren – auch durch den Freispruch des Antragstellers im Strafverfahren vor dem AG A bestätigt gesehen. Auch hierauf wird verwiesen. Das von der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des AG zunächst geführte Berufungsverfahren ist gegen Zahlung eines Betrags von 1.000 Euro am 11.03.2019 eingestellt worden, nachdem auch die hierfür zuständige Kammer des Landgerichts auf die Unwägbarkeit einer erneuten Beweisaufnahme verwiesen hat.
Aufgrund der vorgenannten Umstände und der Zweifel am Umfang der bisher nicht verbeitragten Arbeitsstunden ist es auch dem Senat nicht möglich, derzeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Beitragsforderung in geringerer Höhe als des von der Antragsgegnerin festgesetzten Betrags konkret zu beziffern. Jede Festlegung wäre gegenwärtig reine Spekulation.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 197a SGG i.V.m. §§ 52, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz und berücksichtigt, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes, die Beitragsangelegenheiten betreffen, regelmäßig nur ein Viertel des Wertes der Hauptsache einschließlich etwaiger Säumniszuschläge als Streitwert anzusetzen ist (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 21.2.2012 – L 8 R 1047/11 B ER – juris Rn. 38 m.w.N.).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 16.06.2020
Zuletzt verändert am: 16.06.2020