Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.09.2008 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch auf die Anerkennung einer Zahn- und Kieferfehlstellung als Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) gemäß § 9 Abs. 2 Siebtes Buch -Sozialgesetzbuch- (SGB VII)) streitig.
Die im Mai 1967 geborene Klägerin spielt seit ihrem 9. Lebensjahr Klarinette. Von 1987 bis 1992 studierte sie Musik mit dem Schwerpunkt Klarinettenspiel. Ab August 1992 bis Ende 2001 war sie in verschiedenen Symphonieorchestern als Klarinettistin tätig.
Am 01.07.2002 ging eine BK-Anzeige der Krankenkasse der Klägerin ein, in der ausgeführt wurde, bei der Klägerin bestehe eine Kieferfehlstellung im Sinne einer sagittalen Stufe, welche durch das Klarinettenspiel stets vergrößert werde. Es bestehe die Annahme, dass die vorliegende Erkrankung aus der beruflichen Tätigkeit (Klarinettenspiel) resultiere. Die nunmehr verordnete kieferorthopädische Apparatur mache die nächsten 1 1/2 Jahre das Klarinettenspiel unmöglich. Die Beklagte zog verschiedene zahnärztliche Unterlagen bei, unter anderem einen Arztbrief der Zahnärztin Dr. Q vom 20.02.2002, die ausführte,die große sagittale Stufe der Klägerin sei durch das Spielen des Blasinstruments stetig vergrößert worden. Die Beklagte beauftragte daraufhin zunächst Prof. Dr. E, Chefarzt der Poliklinik für Kieferorthopädie an der Universität E mit einer Begutachtung. Dieser kam in dem Gutachten vom 25.05.2004 zu dem Ergebnis, die Haltung des Instrumentes sei geeignet, die bei der Klägerin vorliegenden Beschwerden hervorzurufen. Insbesondere den Studien von N sei zu entnehmen, dass interdental gehaltene Holzblasinstrumente beträchtliche Krafteinwirkungen auf die Schneidezähne entfalten könnten. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 07.06.2004 führte Dr. E weiter aus, dass die Zahnfehlstellung und die im Zahnfrontbereich verursachten Schmerzen durch die Belastung beim professionellen Spiel der Klarinette bedingt seien. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 10 v. H … Der Bundesverband der Unfallkassen teilte am 03.03.2005 und 04.08.2005 mit, nach der Statistik der Entschädigungsansprüche nach § 9 Abs. 2 SGB VIII sei im Bereich der BUK-Mitglieder kein entsprechender Fall einer Kieferfehlstellung aufgrund Klarinettenspielens gemeldet. Auch im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften sei kein entsprechender Fall entschädigt worden. Nach ihren Informationen lägen derzeit keine neuen gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse i. S. des § 9 Abs. 2 SGB VII vor, wonach Kieferfehlstellungen infolge des Spielens einer Klarinette beruflich verursacht werden können. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat – Sektion "Berufskrankheiten" beim BMGS habe sich mit der aufgeworfenen Problematik bislang nicht befasst. Die Beklagte zog zunächst weitere Röntgenaufnahmen und Kiefermodelle bei und legte die Angelegenheit Prof. Dr. K, Charite Berlin zur Begutachtung vor. Dieser Sachverständige führte in seinem Gutachten vom 15.04.2005 und in der ergänzenden Stellungnahme vom 11.07.2005 aus, statistische Daten vergleichbarer berufsbedingter Erkrankungen seien kaum zu beschaffen. Aussagen von Seiten der Schulmedizin zu diesem Komplex seien ausgesprochen selten, da ihm keine einzige deutsche Hochschule bekannt sei, wo im Rahmen des studentischen Unterrichts entsprechendes Wissen vermittelt werde. Entsprechend schlecht sei die Datenbasis. Gleichwohl fehle es nicht an Publikationen, die auf die grundsätzliche Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen Zahnfehlstellungen bis hin zur Berufsunfähigkeit hindeuten würden. Insoweit sei auf die Habilitationsschrift von N hinzuweisen. Gesicherte statistische Nachweisungen bezüglich eines Zusammenhangs zwischen dem Klarinetten spielen und den Kieferveränderungen gebe es nicht. Mit Bescheid vom 10.10.2005 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung einer Berufskrankheit und Gewährung von Leistungen nach § 9 SGB VII ab. Eine Listenkrankheit liege nicht vor. Ebenso wenig sei eine BK im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII anzunehmen, weil es an neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen fehle, wonach das Klarinettenspiel generell geeignet sei, Kieferfehlstellungen zu verursachen und dass eine bestimmte Berufsgruppe mehr als andere betroffen sei. Einzelpublikationen reichten hierzu nicht aus. Eine gesicherte Datenlage liege nicht vor. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und wies darauf hin, dass Prof. Dr. N eine Untersuchung gerade auch bei Klarinettenspielern vorgenommen habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.11.2006 wies die Beklagte den Rechtsbehelf zurück. Die Studie von Prof. Dr. N sei eine Einzel- oder gar Mindermeinung, die einer Entscheidung nicht zu Grunde gelegt werden könne.
Hiergegen hat die Klägerin am 19.11.2006 Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhoben und sich auf die Einschätzung von Prof. Dr. E gestützt. Die Kammer hat ein Gutachten bei Prof. Dr. Dr. S, Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie, Uni-Klinikum C, eingeholt. Dieser hat in dem Gutachten vom 09.07.2007 ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine Kieferfehlentwicklung, eine starke Hypersensibilität der Oberkiefer-Frontzähne 12 bis 22, eine schmerzhafte Hyperaktivität der Kaumuskulatur beidseits, intermittierend anteriore Diskusverlagerung mit Reposition im linken Kiefergelenk sowie eine parafunktionelle Aktivität ( Bruxismus). Die Klägerin könne nicht mehr als Berufsklarinettistin arbeiten. Die schmerzhaften Zähne verhinderten den sicheren Ansatz des Mundstücks. Die Größe der Frontzahnstufe scheine das Entweichen von Luft seitlich des Klarinettenmundstücks zu bedingen. Zusätzlich mache die schmerzhafte Kaumuskulatur die anstrengende und nicht physiologische Haltung des Instrumentes über einen längeren Zeitraum nahezu unmöglich. Von den genannten Gesundheitsbeeinträchtigungen seien in einem direkten ursächlichen Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit die starke Empfindlichkeit und Protrusion der Oberkiefer-Frontzähne 12 bis 22 zu sehen. Zu dem genannten Themenkomplex lägen in der internationalen Literatur keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. In den ältere Publikationen, die sich mit dem Thema von Zahnfehlstellungen bei Berufsmusikern beschäftigen, scheine ein Konsens darüber zu herrschen, dass es in Abhängigkeit von den verwendeten Instrumenten und der individuellen Spieltechnik zur Einwirkung von mehr oder weniger starken orthodontischen Kräften auf die Zähne komme. Ein Zusammenhang mit dem Klarinettenspiel sei wahrscheinlich, wenn auch im Auswirkungsgrad schwer zu bestimmen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bestehe nicht.
Anschließend hat das Gericht auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten von Prof. Dr. med. N, Fachzahnarzt für allgemeine Stomatologie, Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie, Sprechstunde für Musikerkrankungen in Niederwiesa eingeholt. Dieser Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 10.02.2008 gemeint, es bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Tätigkeit als Klarinettistin und der Kiefererkrankung. Bei 181 auf einem Blasinstrument ausgebildetem Musikschülern, habe er im Rahmen seiner Habilitation 1989 unter anderem Maximalkraftmessungen der Ansatzmuskulatur (maximale Lippenkraft) und der Trainingsgrad dieser Muskulatur bestimmt sowie Untersuchungen am Gebiss durchgeführt. Bei 67 Klarinettenschülern seien Druckmessungen auf die mittleren Schneidezähne bei verschiedenen Tonhöhen vorgenommen worden. Die dabei erreichten Drücke seien so hoch, dass sich insbesondere bei ungünstiger Stellung der Schneidezähne im Zusammenhang mit einer dieser den Druck nicht ausgleichenden Lippenmuskulatur eine Ansatzfehlfunktion habe entwickeln können. In einer klinischen Studie, bei der auch 51 Klarinettistinnen beteiligt gewesen seien, sei im Zeitraum 2000 bis 2005 an 224 Musikern ein Zusammenhang zwischen der Stellung des Unterkiefers sowie des Kiefergelenks und dem Ansatz des Blasinstruments nachgewiesen worden. Neben dieser unmittelbaren Ansatzstörung im Bereich des direkten Instrument-Körperkontaktes könnten deshalb auch Muskelfunktionsstörungen in der korrespondierenden Gesichts- und Halsmuskulatur entstehen, die dann ggfls unter die BK 2106 eingeordnet werden müssten. Diese neueren Untersuchungsergebnisse seien bislang nicht berücksichtigt worden. Aus seiner Sicht handle es sich um eine Erkrankung, die einer Berufserkrankung entspreche, jedoch nicht für alle Klarinettisten verbindlich sein dürfe. Die MdE als Berufsklarinettistin werde am 03.03.2000 (Zeitpunkt der Untersuchung in seiner Sprechstunde zur Ansatzsituation) mit 70 bis 80 v. H., danach während der kieferorthopädischen Behandlung 100 v. H.eingeschätzt. Zum Zeitpunkt der klinischen Untersuchung am 27.12.2007 habe sie ebenfalls 100 v. H. betragen.
Die Beklagte ist dem Gutachten entgegengetreten. Für § 9 Abs. 2 SGB VII reichten vereinzelte Meinungen nicht aus. Außerdem ergebe sich aus der Beurteilung von Prof. Dr. N, dass nicht bei jedem Klarinettisten eine gestörte Ansatzfunktion wie unter den bei der Klägerin beschriebenen Gegebenheiten zwangsläufig auftreten müsse. Schließlich könne der MdE-Einschätzung nicht gefolgt werden. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 02.07.2008 ist Prof. Dr. N bei seiner Einschätzung verblieben und hat darauf hingewiesen, dass es außer seinen Studien keine neueren internationalen Forschungsergebnisse in diesem Bereich gebe. Die Beteiligten wiederum haben an ihrer jeweiligen Auffassung festgehalten.
Mit Urteil vom 22.09.2008 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kieferfehlentwicklung der Klägerin als Versicherungsfall anzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen ausgeführt, Einigkeit bestehe darüber, dass eine so genannte Listen-BK nicht vorliege, allerdings seien die Voraussetzungen für die Anerkennung und Entschädigung der Erkrankung der Klägerin im Sinne einer Wie-BK geben. Nach sämtlichen bereits im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Erkrankung. Bereits Prof. Dr. E habe in seinem Gutachten herausgearbeitet, dass die spezielle Haltung der Klarinette geeignet sei, die auch bei der Klägerin vorliegenden Beschwerden hervorzurufen. Auch die individuelle Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs werde durch die eingeholten Sachverständigengutachten belegt. Die von Prof. Dr. N zitierten Reihenuntersuchungen zeigten, dass die Berufsgruppe der professionell tätigen Musiker bezogen auf eine Kieferfehlstellung mehr betroffen seien, als die übrige Bevölkerungsgruppe. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse seien auch neu im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII. Insoweit habe Prof. Dr. N auf seine eigenen Studien beginnend in den 80iger Jahren hingewiesen, wonach es neue, eindeutige Erkenntnisse gebe. Diese stellten zur Überzeugung der Kammer eine ausreichende wissenschaftliche Basis dar, sowohl den Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit eines Berufsklarinettisten und einer Kieferfehlentwicklung wahrscheinlich zu machen, die generelle Geeignetheit des Klarinettenspiels zu belegen und diese Erkenntnisse als neu im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII zu bewerten. Eine MdE liege jedoch nicht vor. Die völlig zu hoch gegriffene MdE-Bewertung von Prof. Dr. N rühre von der Fehleinschätzung her, dass es hier allein um die Bewertung im Beruf eines Berufsmusikers ginge. Richtig sei jedoch, die MdE bezogen auf das allgemeine Erwerbsleben festzustellen. Hier belege insbesondere das Gutachten von Prof. Dr. S, dass die Klägerin – jedenfalls so lange sie keine Klarinette spiele – gesund sei. Eine MdE sei zur Überzeugung der Kammer deshalb nicht feststellbar, jedenfalls nicht in rentenberechtigender Höhe.
Gegen das am 18.11.2008 zugestellte Urteil haben sowohl die Klägerin wie auch die Beklagte jeweils fristgerecht Berufung eingelegt.
Die Klägerin meint, entgegen der Einschätzung des Sozialgerichts sei unter Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinne des § 56 Abs. 2 Satz 3 SGB VII eine MdE anzunehmen. Sie verfüge über Spezialkenntnisse und sei die Einzige die in ihrem Orchester die "hohe Klarinette" beherrsche. Im Übrigen stütze sie sich auf die Einschätzung von Prof. Dr. N.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.09.2008 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2006 zu verurteilen, die Kieferfehlentwicklung der Klägerin wie eine Berufskrankheit anzuerkennen und die Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren sowie di Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.09.2008 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, eine gruppenspezifische Risikoerhöhung sei hier nicht in ausreichendem wissenschaftlichen Umfang belegt. Die von Prof. Dr. N zugrunde gelegte Reihenuntersuchung betreffe Klarinettenschüler und habe keinen Bezug zu Berufsmusikern. Auch fehle es nach wie vor an ausreichenden nationalen und internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Forschungsergebnissen. Die grundsätzliche Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Zahnfehlstellungen und Klarinettenspiel reiche nicht aus. Es sei von einer anlagebedingten Erkrankung auszugehen.
Der Senat hat nach § 106 SGG ein Gutachten bei Prof. Dr. Dr. G, Klinikum der medizinischen Fakultät, Universitätspoliklinik für Kieferorthopädie der N-Universität I eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 09.09.2009 in Verbindung mit einer ergänzenden Stellungnahme vom 21.01.2010 ausgeführt, seit der ersten kieferorthopädischen Behandlung im Jahr 1985 mit kieferorthopädischer Versorgung im Jahr 2001 habe sich eine deutliche zunehmende Protrusion sowohl der Ober- und Unterkieferfront ergeben. Es bestehe eine minimale Unterkieferrücklage. Die distale Bisslage bzw. Rücklage des Unterkiefers sei überwiegend genetisch bedingt. Daraus habe sich eine erhebliche Frontzahnstufe ergeben. In diese Lücke zwischen Ober- und Unterkiefer-Frontzähnen habe sich eine zweite im Kindesalter erworbene Angewohnheit (orofaciale Dysfunktion) eingestellt, die Unterlippe habe sich habituell in die Frontzahnstufe eingelagert. Erst als dritter Faktor sei das Klarinettenspiel hinzugetreten. Die genetische Disposition und die Habits stellten die wesentliche bzw. deutlich überwiegende Ursache dar. Das Rezidiv der Frontzahnstufe habe sich zudem in einem Zeitraum entwickelt, in dem die Klägerin wenig Klarinette gespielt habe. Auch daraus ergebe sich, dass die primäre und sekundäre Disposition die wesentlichen Faktoren auch bei der Rezidiventstehung darstellten. Die Berufsgruppe der Klägerin sei bei ihrer Arbeit nicht in höherem Maße als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt. Die Einwirkungen seien nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft grundsätzlich geeignet, Krankheiten bei Berufsmusikern zu verursachen bzw. zu verstärken. Die insoweit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Prof. Dr. N dargestellt habe, seien als neu zu bewerten. Die MdE sei mit Null anzusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts-und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die bei der Klägerin vorliegende Kiefer- und Zahnfehlentwicklung als Wie-BK nach § 9 Abs 2 SGB VII anzuerkennen. Die auf Gewährung von Verletztenrente gesichtete Berufung der Klägerin hat infolgedessen keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Wie-BK liegen nicht vor.
Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erfüllt sind. Eine Krankheit kann dann als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII bezeichnet werden, wenn sie nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Erforderlich ist nach gefestigter Rechtsprechung des BSG sowohl zu der Vorgängervorschrift des § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) als auch zu der weitgehend übereinstimmenden Nachfolgevorschrift des § 9 Abs. 2 SGB VII, in der das BSG auch immer wieder betont hat, dass diese Vorschrift keine "Härteklausel" enthält, nach der jede durch eine versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit als Wie-BK anzuerkennen wäre (BSGE 79, 250; Urteil vom 04.06.2002 – B 2 U 20/10 R -; Urteil vom 27.04.2010 – B 2 U 13/09 R -; Urteil vom 20.07.2010 – B 2 U 19/09 R – jeweils m.w.N.) mithin eine gruppentypische Risikoerhöhung, die sich auf das allgemeine Auftreten einer Krankheit innerhalb dieser Gruppe bezieht. Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um dann daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE 79, 250). Die gruppenspezifische Risikoerhöhung muss sich in jedem Fall letztlich aus Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ergeben. Die Einwirkungen, denen die Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit ausgesetzt ist, müssen abstrakt-generell nach dem Stand der Wissenschaft die wesentliche Ursache einer Erkrankung der geltend gemachten Art sein. Dabei ist zu klären, ob nach wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen belegt ist, dass bestimmte Einwirkungen generell bestimmte Krankheiten der vom Versicherten geltend gemachten Art verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu der selben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es muss sich um gesicherte Erkenntnisse handeln; nicht erforderlich ist, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung der Mediziner sind. Andererseits reichen dafür vereinzelte Meinungen einzelner Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG, Urteil vom 21.01.1997 – 2 RU 7/96 -; Urteil vom 04.06.2002 a.a.O.). Diese medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnis über das Bestehen einer Einwirkungs- und Verursachungsbeziehung müssen neu sein. Schließlich müssen die abstrakten Voraussetzungen der Wie-BK konkret – individuell erfüllt sein, d. h. es müssen auch bezogen auf den Versicherten die genannten Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache für die Erkrankung darstellen.
In Anwendung dieser Grundsätze kann der Senat offen lassen, ob im Einzelfall bezogen auf die Klägerin die Kausalität zwischen dem beruflichen Klarinettenspiel und ihrer Zahn- und Kiefererkrankung zu bejahen ist, wovon die Sachverständigen mit Ausnahme von Prof. Dr. G wohl ausgehen. Indessen fehlt es zur Überzeugung des Senats an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, aus denen sich eine gruppentypische Risikoerhöhung für das vorliegende Krankheitsbild herleiten lässt. Derartige Erkenntnisse liegen bezogen auf die letzte Änderung der BKV (Verordnung vom 11.06.2009-BGBl I S.1273) sowohl im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung wie auch im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide nicht vor. Dabei lässt der Senat offen, welche Gruppe hier zu bilden ist, also ob auf die Gruppe der Bläser insgesamt abzustellen ist, oder ob alle Holzbläser ( zu denen die Klarinettisten gehören) oder nur die Klarinettisten zu erfassen sind. Es sind jedenfalls keine hinreichenden Feststellungen in Form medizinischer Erkenntnisse vorhanden, die medizinisch fundiert belegen würden, dass die Personengruppe der Bläser insgesamt oder die der "Klarinettisten", zu der die Klägerin zählt, durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt ist, mit denen die übrige Bevölkerung nicht in diesem Maße in Kontakt kommt und die geeignet sind, Kiefer- und Zahnfehlstellungen hervorzurufen und dass sich dieses Krankheitsbild in besonderem Maße bei dieser Personengruppe realisiert.
Sowohl Prof. Dr. E, Prof. Dr. K und Prof. Dr. Dr. G wie letztlich auch Prof. Dr. N selbst verweisen insoweit ausschließlich auf die Studien von N. Dieser hat im Rahmen seiner Habilitation 1989 bei 181 auf einem Blasinstrument ausgebildeten Musikschülern Maximalkraftmessungen der Ansatzmuskulatur (maximale Lippenkraft) durchgeführt, den Trainingsgrad dieser Muskulatur bestimmt und anschließend Untersuchungen am Gebiss durchgeführt. Bei 67 Klarinettenschülern wurden Druckmessungen an den mittleren Schneidezähnen vorgenommen. Daneben hat Prof. Dr. N in einer klinischen Studie, bei der auch 51 Klarinettisten beteiligt waren, im Zeitraum von 2000 bis 2005 bis 224 Blasmusikern einen Zusammenhang zwischen der Stellung des Unterkiefers sowie des Kiefergelenkes und dem Ansatz des Blasinstrumentes nachgewiesen.
Unabhängig von der Frage, ob es sich hierbei um methodisch erforschte, d. h. mit gesicherten Verfahren ermittelte und im Ergebnis jederzeit wiederholbare Erkenntnisse handelt, haben jedoch diese Forschungsergebnisse offenkundig noch keine Allgemeingeltung in der Fachwelt erworben. Bereits Prof. Dr. L hat darauf hingewiesen, dass eine gesicherte Datenbasis, die auf Querschnitt- und Längsschnittstudien beruht, nicht vorhanden ist. Prof Dr. S hat ebenfalls auf fehlende neuere Forschungsergebnisse verwiesen. Auch Prof. Dr. N hat letztlich eingeräumt, dass außer seinen Forschungen neuere, auch Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler auf internationaler Ebene nicht existieren. Damit fehlt es aber an der notwendigen Breite der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich nach der Rechtsprechung des BSG eben nicht in vereinzelten Meinungen einiger Sachverständiger – hier sogar im Wesentlichen den Forschungsergebnissen von Prof. Dr. N – erschöpfen dürfen. Dies verkennt Prof.Dr.Dr. G, der das Vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse allein unter Berücksichtigung der Veröffentlichungen von N bejaht hat. Das Fehlen neuerer gesicherter medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse im Kontext einer gruppentypischen Risikoerhöhung wird schließlich auch durch den Umstand bestätigt, dass sich der Ärztliche Sachverständigenbeirat – Sektion Berufskrankheiten beim BMAS mit der aufgeworfenen Problematik bislang nicht befassen musste. Da die besonderen Voraussetzungen für die Feststellung einer Wie-BK mithin nicht vorliegen, sind weitere Ausführungen zu den individuellen Kausalitätsfragen und einer etwaigen MdE entbehrlich. Bei dieser Sach- und Rechtslage konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es besteht kein Grund, nach § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen.
Erstellt am: 24.11.2011
Zuletzt verändert am: 24.11.2011