Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.05.2001 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Regelaltersrente für die Klägerin unter Anerkennung einer Beitragszeit von Mai bis November 1940 zu Recht erfolgt ist.
Die am 00.00.1919 in M/Polen geborene Klägerin ist jüdischer Abstammung. Nach ihren Angaben besuchte sie in M von 1936 bis 1938 die Städtische Volksschule und das Gymnasium sowie von 1938 bis 1939 die Abendhandelsschule. Von 1930 bis 1945 wurde sie nationalsozialistisch verfolgt. 1945 wanderte sie über Belgien, Holland und Frankreich nach Israel aus; dorthin gelangte sie im Januar 1947 und erwarb 1948 die israelische Staatsangehörigkeit.
Am 08.03.1994 beantragte sie bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung einer Rente. Sie machte geltend, bis Kriegsausbruch in M bei N M als Buchhalterin in dessen Seidenwarenfabrik sowie nach dem Krieg im DP-Lager I (April bis Juni 1945) tätig gewesen zu sein. Von Mai 1940 bis 1941 sei sie als Aufräumerin in der Offizierskantine X tätig gewesen; hierfür sei sie wenig bezahlt, jedoch verpflegt worden und habe bei Schließung des Ghettos (in dem die Klägerin in X wohnte) noch eine große Menge Proviant mitbekommen. Nach Beiziehung der Entschädigungsakte der Klägerin sowie Ermittlungen bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Sachsen-Anhalt lehnte die BfA mit Bescheid vom 29.05.1995 die Anerkennung einer Beitragszeit vom 01.05. bis 30.06.1945 mit der Begründung ab, eine Beitragszahlung sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden.
Sodann gab die BfA den Vorgang zuständigkeitshalber an die Beklagte ab.
Mit Bescheid vom 29.12.1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rentengewährung wegen Beschäftigungszeiten während eines Ghettoaufenthalts ab. Bei den Arbeiten im Ghetto habe es sich um Zwangsarbeiten gehandelt, die nicht der Versicherungspflicht unterlegen hätten. Juden im Generalgouvernement hätten nach der 2. Durchführungsverordnung vom 12.12.1939 zur Verordnung vom 26.10.1939 grundsätzlich dem Arbeitszwang unterlegen, so dass der Arbeitseinsatz als Zwangsarbeit anzusehen sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 12.08.1998 Klage erhoben. Sie habe die Arbeit im Ghetto X trotz Arbeitszwanges aus freiem Willensentschluss verrichtet, um sich finanziell über Wasser zu halten. Die Beklagte unterlaufe eine Grundsatzentscheidung des BSG zu Arbeitsverhältnissen im Ghetto mit fragwürdigen Behauptungen.
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.12.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1998 zu verurteilen, der Klägerin unter Berücksichtung der im Ghetto X geleisteten Arbeitszeit als Beitragszeit Altersrente zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat (nach Durchführung einer Sprachprüfung in Israel am 11.02.1999 mit positivem Ergebnis und guter deutscher Schreib- und Lesefähigkeitsprüfung) vorgetragen, die Klägerin erfülle die Voraussetzungen nach § 17a des Fremdrentengesetzes (FRG) sowie nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Unabhängig von der rechtlichen Bewertung sehe sie folgende Zeiten als nachgewiesen bzw. glaubhaft gemacht an: Dezember 1939 bis 30.04.1940 Verfolgungsersatzzeit Mai 1940 bis 15.11.1940 Arbeitszeit (Ghetto X) 16.11.1940 bis 13.04.1945 Verfolgungsersatzzeit 14.04.1945 bis 31.12.1946 pauschale Ersatzzeit Wegen Ausübung im Generalgouvernement und des dort bestehenden Arbeitszwangs für Juden sei die Arbeit jedoch als Zwangsarbeit anzusehen; ein Beschäftigungsverhältnis i.S. der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe damit nicht bestanden.
Die Klägerin hat sich mit den von der Beklagten genannten Zeiten einverstanden erklärt. Es habe sich allerdings bei der Arbeit in der Kantine nicht um Zwangsarbeit gehandelt, sondern um eine ihr vom jüdischen Komitee zugeteilte Tätigkeit, für die sie nicht entlohnt, aber erstklassig verpflegt worden sei. Zwang habe nur insofern bestanden, als nicht arbeitende Personen mit Deportation hätten rechnen müssen.
Die Beklagte hat daraufhin ergänzend vorgetragen, zwar sei nunmehr in Betracht zu ziehen, dass die Klägerin ihr Beschäftigungsverhältnis aus freier Willensentscheidung aufgenommen habe. Da sie aber keinen Barlohn erhalten habe, habe es sich nicht um ein Arbeitsverhältnis gegen Entgelt gehandelt (§ 1226 a.F. Reichsversicherungsordnung – RVO – ). Nach § 1227 a.F. RVO sei eine Beschäftigung gegen freien Unterhalt in Form von Sachbezügen versicherungsfrei gewesen.
Das Sozialgericht hat der Klägerin eine genauere Stellungnahme zu ihrer damaligen Tätigkeit aufgegeben. Die Klägerin hat dazu ausgeführt, sie sei in einer Militärkantine tätig gewesen. Im Erdgeschoss habe sich ein Restaurant befunden, im ersten Stock eine Kantine für Offiziere, in der sie gearbeitet habe. Sie habe von Mai bis November 1940 ununterbrochen Reinigungsarbeiten an Fußböden, Fenstern und beim Abwasch verrichtet. Die Tätigkeit sei ihr vom jüdischen Komitee zugewiesen worden, nachdem sie sich dort beworben gehabt habe. Zu der ihr zugewiesenen Arbeit sei sie nicht gezwungen worden. Zu der Kantine außerhalb des Ghettos sei sie unter deutscher Bewachung geführt worden. Bei der Arbeit selbst sei sie nicht bewacht worden. Sie habe keinen Barlohn erhalten, aber am Ort sehr gute Verpflegung, was seinerzeit wichtiger gewesen sei als Geld. Zeugen könne sie nicht mehr benennen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anfrage des Gerichts vom 25.05.2000 und die Stellungnahme der Klägerin vom 20.07.2000 Bezug genommen.
Das Sozialgericht hat die Entschädigungsakten der Klägerin beigezogen. Mit Urteil vom 12.10.1999 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente ausgehend von einem Antrag vom 08.03.1994 unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.05.1940 bis 15.11.1940 und von Ersatzzeiten von Dezember 1939 bis 30.04.1940 sowie vom 16.11.1940 bis 31.12.1946 vorbehaltlich einer noch erforderlichen Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 29.06.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte (spätestens) am 11.07.2001 Berufung eingelegt. Die von der Klägerin auf Anfrage des Sozialgerichts mitgeteilten Einzelheiten bezüglich ihrer damaligen Tätigkeit stünden nicht im Streit. Voraussetzung für ein versichertes Beschäftigungsverhältnis sei jedoch die freiwillige Beschäftigungsaufnahme. Die Klägerin habe lediglich eine – wenn auch gute – Verpflegung erhalten. Sachleistungen über den eigenen täglichen Verbrauchsbedarf hinaus habe sie nicht bezogen. Der Umfang der Sachleistungen habe daher keinen Entgeltcharakter erreicht. Die Anwendbarkeit des § 14 WGSVG i.V. mit einer Versicherungspflicht nach polnischem Recht sei problematisch, da § 14 WGSVG eine bestehende Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung voraussetze. Nach einem Urteil des BSG vom 23.08.2001 – B 13 RJ 59/00 R erübrige sich die Prüfung der Kriterien für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nach Reichsrecht. Maßgebend seien die seinerzeit geltenden polnischen Vorschriften. § 15 Abs. 1 FRG setze das Zurücklegen einer polnischen Beitragszeit voraus. Nach Abs. 3 der Vorschrift stünden Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeit i.S.d. Abs. 1 anrechnungfähig gewesen seien und für die an einen nichtdeutschen Sozialversicherungsträger (vgl. § 15 Abs. 2 FRG) Beiträge nicht entrichtet worden seien, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Damit könne zwar möglicherweise die Frage einer tatsächlichen Beitragsentrichtung offen bleiben, nicht jedoch Inhalt und Anwendung des im Generalgouvernement in Kraft gebliebenen polnischen Sozialversicherungsgesetzes. Für Tätigkeiten der dem Arbeitszwang unterlegenen Juden sei nicht davon auszugehen, dass Beiträge zum polnischen Sozialversicherungsträger entrichtet worden seien. Auch von einer sog. beitragslosen Zeit i.S.d. § 15 Abs. 3 FRG sei nicht auszugehen. Eine Regelung, dass eine solche beitragslose Zeit fiktiv als Beitragszeit angerechnet worden wäre, habe das polnische Sozialversicherungsrecht nicht enthalten. Eine Arbeitszeit i.S.v. § 16 FRG erscheine möglich; jedoch seien Rentenleistungen aus Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG nicht ins Ausland zahlbar zu machen. Auch nach dem im Laufe des Verfahrens erlassenen Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20.06.2002 (ZRBG; BGBl. I, S. 2074) sei eine Ghetto-Beitragszeit an die Voraussetzung geknüpft, dass die Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt worden sei. Ein Sachbezug könne dazu zwar ausreichen, müsse dann jedoch wesentlichen Umfang gehabt haben (z.B. Beköstigung am Arbeitsplatz plus zusätzliche Lebensmittelkarten). Das sei bei der Klägerin nicht der Fall gewesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.05.2001 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die im Verhandlungstermin nicht erschiene und nicht vertretene Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Urteil des Sozialgerichts sei beizupflichten, insbesondere auch im Blick auf die Anwendbarkeit des § 14 WGSVG. Ihre gute Verpflegung sei damals wertvoller gewesen als Arbeitsentgelt. An einer Beitragspflicht ihrer Tätigkeit als Küchenhilfe nach Bundesrecht i.S.v. § 15 Abs. 3 FRG könne man nicht zweifeln. Wenn § 1227 a.F. RVO ( Eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wird, ist versicherungsfrei.") Beschäftigungszeiten beitragsfrei belasse, so betreffe die Vorschrift mit Sicherheit nur die Fälle, in denen Bekannte oder Verwandte in einem Haushalt vorübergehend mitgearbeitet hätten und hierfür verköstigt worden seien, ohne gesonderten Arbeitslohn zu erhalten. Keinesfalls könne sie auf ihren Fall angewandt werden; sie habe zum einen vollschichtig gearbeitet bzw. arbeiten müssen und sei zum anderen froh gewesen, wenigstens gut verpflegt zu werden. Es würde das System der RVO ad absurdum führen, wenn sie wie jeder andere gearbeitet habe, aber, nachdem hierfür keine Beiträge gezahlt worden seien, keine Zeiten angerechnet erhalte, weil sie nur verpflegt worden sei. Diese doppelte Benachteiligung könne nicht Wille des Gesetzgebers sein.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Akten (Verwaltungsakte der Beklagten und Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung Saarburg) Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte gem. §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da ihr Prozessbevollmächtigter in der Terminsmitteilung, die er ausweislich seines Empfangsbekenntnisses am 25.09.2003 erhalten hat, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Änderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin nach näherer Maßgabe des sozialgerichtlichen Tenors Regelaltersrente unter Berücksichtung einer Beitragszeit vom 01.05. bis 15.11.1940 zu gewähren. Der von der Klägerin angefochtene Bescheid verletzt sie i.S.d. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten. Insbesondere hat die Beklagte zu Unrecht die Voraussetzungen für die genannte Beitragszeit verneint.
Die Klägerin hat in der Zeit vom 01.05. bis 15.11.1940 in der von ihr genannten Kantine Aufräumarbeiten (allein) gegen gute Verpflegung in der Art und Weise verrichtet, wie sie es in ihrer Stellungnahme vom 20.07.2000 schildert. Die Beklagte zieht dies tatsächlich nicht in Zweifel, und auch der Senat sieht keinen Umstand, der diese Angaben der Klägerin als unzutreffend erscheinen ließe. Insbesondere hat die Klägerin, nachdem für sie zunächst angegeben worden war, sie sei neben der Gewährung von Verpflegung (auch) wenig bezahlt worden, auf konkrete Nachfrage des Sozialgerichts in ihrer Stellungnahme selbst erklärt, sie habe keinerlei Barlohn erhalten. Sie hat damit ihre Prozesschancen im Hinblick auf die Anerkennung einer Beitragszeit nur verkleinert, was gerade für die Richtigkeit ihrer eigenen Angaben in der Stellungnahme spricht.
Nach § 35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Diese Wartezeit beträgt nach § 50 Abs. 1 SGB VI fünf Jahre. Auf sie werden nach § 51 Abs. 1 SGB VI (neben den bei der Klägerin vorliegenden Ersatzzeiten; § 51 Abs. 4 SGB VI) Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechtet. Solche Beitragszeiten hat die Klägerin während ihrer Tätigkeit in der Militärkantine zurückgelegt.
Allerdings scheidet eine Anerkennung dieser Beschäftigung als Beitragszeit unmittelbar nach deutschem (Reichs-)versicherungsrecht aus. Eine Beitragszeit i.S.v. § 1250 Abs. 1a RVO setzt voraus, dass nach Bundesrecht bzw. früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten. Die Klägerin hat ihre Tätigkeit im Gebiet des sog. Generalgouvernements für die damals vom Deutschen Reich besetzten polnischen Gebiete verrichtet. Als polnische Staatsangehörige jüdischer Abstammung, die nach der seinerzeit im Deutschen Reich befolgten Rechtsauffassung als staatenlos angesehen wurde, gehörte sie bei der Ausübung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses nicht zu den Personen, die von den Reichsversicherungsgesetzen erfasst waren. Für das Generalgouvernement sind auch keine Regelungen ersichtlich, nach denen ein ursprünglich polnischen Sozialversicherungsgesetzen unterfallendes Versicherungsverhältnis später in die Reichsversicherung hätte überführt worden sein können (vgl. näher zur reichsversicherungsrechtlichen Behandlung des betroffenen Personenkreises im Generalgouvernement BSG vom 23.08.2001 – B 13 RJ 59/00 R = SozR 3-2200 § 1248 Nr. 17).
Die Berücksichtigung der Versicherungszeit der Klägerin während ihrer Tätigkeit in der Militärkantine folgt jedoch aus § 15 FRG. Die Vorschrift ist auf die Klägerin nach § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG anwendbar. Diese Normen ermöglichen die Anwendbarkeit des FRG auf den von ihnen erfassten Personenkreis. Der Senat hat – ebenso wie die Beklagte – keine Zweifel, dass die Klägerin zu diesem Personenkreis gehört. Insbesondere bestand seinerzeit die nach § 20 WGSVG bzw. § 17a FRG notwendige Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Dies ist schon deshalb zumindest im Sinne einer Glaubhaftmachung (§ 4 FRG) höchstwahrscheinlich, als von Seiten der deutschen Besatzer offensichtlich keine Hinderungsgründe gesehen wurden, die Klägerin trotz Nutzung der Militärkantine durch deutsches Publikum dort als Arbeitskraft einzusetzen. Im Übrigen hat die in Israel am 11.02.1999 durchgeführte Sprachprüfung ergeben, dass die Klägerin selbst nach über einem halben Jahrhundert des Aufenthalts in Israel die deutsche Sprache noch immer wie eine Muttersprache spricht, Deutsch mühelos und mit Verständnis liest und ausweislich der abgelegten Schriftproben auch schriftlich gut beherrscht. Dies lässt auf einen muttersprachlichen Erwerb und überwiegenden Gebrauch des Deutschen in der Kindheit und auch später schließen.
Nach § 15 Abs. 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich (Satz 1). Sind die Beiträge auf Grund einer abhängigen Beschäftigung entrichtet, so steht die ihnen zugrundeliegende Beschäftigung oder Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des FRG gleich (Satz 2).
Zwar ist nicht feststellbar, dass für die Beschäftigung der Klägerin in der Militärkantine Beiträge zum polnischen Rentenversicherungsträger entrichtet worden seien. Vielmehr ist unter den konkreten damaligen Umständen einer Tätigkeit für die deutsche Militärbesatzung eine Beitragsentrichtung sogar mehr als unwahrscheinlich. Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG stehen jedoch Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten i.S.d. Abs. 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit (vgl. § 15 Abs. 2 FRG) Beiträge nicht entrichtet worden sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären.
Die danach vorausgesetzte Versicherungspflicht für die fragliche Tätigkeit nach damaligem polnischen Sozialversicherungsrecht (vgl. hierzu BSG a.a.O.) hat für die Beschäftigung der Klägerin in der Militärkantine bestanden. Denn nach polnischem Gesetz vom 28.03.1933 (in Kraft seit 01.01.1934) unterlagen nach Art. 2 Abs. 1 vorbehaltlich der Art. 4 bis 6 alle Personen ohne Unterscheidung nach Alter und Geschlecht der Versicherungspflicht, die in einem Lohnarbeits- oder Dienstverhältnis standen. Die Bemessung der Leistungen und Beiträge erfolgte nach Art. 13 Abs. 1 aufgrund des wirklichen Arbeitsverdienstes. Als solcher galt nach Art. 14 das Gesamteinkommen, das der Versicherte als Entgelt für die Arbeit erhielt, und zwar 1. die Barvergütung mit allen Zuschlägen, 2. Vergütungen in Sachleistungen und 3. Leistungen seitens Dritter, falls solche üblich waren.
Soweit es nach § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG darauf ankommt, dass für die ausgeübte Beschäftigung nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären, wäre sie im Bundesgebiet verrichtet worden, so ist zunächst offenkundig, dass eine Vollzeittätigkeit als Kantinenhilfe wie diejenige der Klägerin nach deutschem (Reichs-)Recht eine versicherungspflichtige abhängige Beschäftigung gewesen wäre. Besonderheiten ergeben sich lediglich daraus, dass die Tätigkeit unter den historischen Bedingungen des Ghettos und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft verrichtet worden ist. Das BSG hat den Begriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung i.S.d. deutschen Sozialversicherungsrechts in Bezug auf Arbeiten, die während eines Ghettoaufenthaltes verrichtet worden sind, in mehreren Entscheidungen näher konkretisiert (im Folgenden: Ghetto-Rechtsprechung; vgl. z.B. BSG a.a.O. m.w.N.). Danach ist eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit bestimmte Beschäftigung, die grundsätzlich der Versicherungspflicht unterliegt, von nichtversicherungspflichtiger Zwangsarbeit abzugrenzen (vgl. z.B. BSG SozR 3-5070 § 14 Nr. 3). Dies gelte auch, soweit die Arbeit unter den allgemeinen Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verrichtet worden sei (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr. 16; BSG SozR 3-5070 § 14 Nr. 3). Hiervon sei auch in Ansehung der besonderen Verhältnisse im sog. Generalgouvernement nicht abzuweichen, wenn es um die von § 15 Abs. 3 FRG geforderte Prüfung gehe, ob es sich um eine Beschäftigung gehandelt hat, die nach Bundesrecht versicherungspflichtig gewesen wäre (BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr. 17). Das BSG spricht bei dieser Abgrenzung der versicherungspflichtigen Beschäftigung von Zwangsarbeit von einer Rechtsfigur des Typus" eines Beschäftigungsverhältnisses (BSG vom 14.07.1999 – B 13 RJ 75/98 R), der durch eine Vielzahl von Merkmalen bestimmt werde. Dabei müsse das Fehlen einiger Merkmale nicht unbedingt zur Verneinung eines Beschäftigungsverhältnisses führen; insbesondere seien wirtschaftliche Gleichwertigkeit von Arbeits- und Gegenleistung nicht erforderlich. Der Flexibilität der Rechtsfigur des Typus sei es zu verdanken, dass das Beschäftigungsverhältnis als zentraler Begriff auch bei geänderten Strukturen seinen Regelungszweck erfüllen könne (vgl. auch zusammenfassend Gagel, Rentenversicherung von Ghettoarbeitsverhältnissen, NZS 2000, 231). Zusammenfassend ist für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis unter den besonderen Bedingungen des Ghettos nach der Rechtsprechung des BSG deshalb ausreichend, dass eine Arbeit nach dem "Modell eines Normalarbeitsverhältnisses" in einem Bereich verrichtet wurde, in dem normalerweise Normalarbeitsverhältnisse abgeschlossen wurden, und dass hierfür ein Arbeitsentgelt gezahlt wurde (so Gagel, a.a.O. S. 235).
Nach diesen Kriterien war die Tätigkeit der Klägerin in der Militärkantine eine freiwillige und entgeltliche versicherungspflichtige Beschäftigung i.S.d. deutschen Sozialversicherungsrechts.
Sie hat die Beschäftigung insbesondere freiwillig aufgenommen. Denn sie hat sie nicht etwa auf Anordnung der deutschen Besatzer verübt, sondern sie ist ihr aufgrund ihrer dortigen Bewerbung vom jüdischen Komitee des Ghettos vermittelt worden. Dass ihre Motivation für die Aufnahme der Tätigkeit auch darin bestand, durch Arbeit einer Deportation zu entgehen, ist demgegenüber unerheblich; jedenfalls hat sie die Tätigkeit aufgrund eigener Entscheidung aufgenommen (vgl. hierzu BSG SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15).
Die Klägerin hat die Beschäftigung darüber hinaus auch gegen Entgelt ausgeübt. Muss das Entgelt aufgrund der Flexibilität der Rechtsfigur des Typus eines Beschäftigungsverhältnisses keine gleichwertige und damit auch keine angemessene Gegenleistung für die geleistete Arbeit sein, so beschränkt sich die Bedeutung des Entgeltbegriffes nach Ansicht des Senats auf die Eignung des für die Beschäftigung Erlangten zur Sicherung des Lebensunterhalts. Insoweit kann für die gute Verpflegung, welche die Klägerin für ihre Arbeit erhielt, nichts anderes gelten als für die Fälle der Gewährung eines das bloße Überleben im Ghetto sichernden Währungsentgelts in Reichmark, Zloty oder gar nur sog. Ghettogeld. Für ein solches Entgelt ist nach der Ghetto-Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass der Typus des Beschäftigungsverhältnisses unter den besonderen Bedingungen des Ghettos eingehalten wurde. Dies findet seinen Grund darin, dass sich unter den unmenschlichen Bedingungen des Ghettos die Sicherung des Lebensunterhalts auf die Sicherung des Überlebens reduzieren musste. Das Überleben (und damit die Sicherung des Lebensunterhalts unter den konkreten historischen Umständen) jedoch war – was die Klägerin unmittelbar nachvollziehbar hervorhebt – durch die regelmäßige Gewährung von guter Verpflegung weit besser sichergestellt als durch eine Entlohnung in irgendeiner Art von im Ghetto verwendbarer Geldwährung. In diesem Sinne hat die Klägerin unter Beachtung der konkreten historischen Umstände deshalb ein weit besseres "Entgelt" für ihre Arbeitsleistung erzielt, als es in vielen anderen Fällen im Ghetto durch Bezahlung in Geld erzielt werden konnte.
Dem steht nach Ansicht des Senats auch § 1227 RVO in der seinerzeit geltenden Fassung nicht entgegen. Zwar war danach eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, versicherungsfrei. Nach dem Wortlaut der Vorschrift wäre deshalb die Beschäftigung der Klägerin in der Militärkantine bei Ausübung im Reichsgebiet nicht versicherungspflichtig gewesen. Seine Anwendung auf den Fall der Klägerin würde jedoch dem Sinn und Zweck des § 1227 a.F. RVO nicht gerecht. Die Vorschrift knüpfte mit dem Abstellen auf einen lediglich gewährten freien Unterhalt an eine unter normalen Lebensbedingungen nur eingeschränkte Gegenleistung des Arbeitgebers für die geleistete Arbeit an, mit der der zu sichernde Lebensunterhalt unter diesen Normalbedingungen nicht voll gedeckt werden kann. Denn unter Normalbedingungen reduziert sich der Lebensunterhalt nicht auf die zum unmittelbaren Überleben notwendigen Dinge wie Verköstigung, Bekleidung, Obdach, etc. Vielmehr gehören zum Lebensunterhalt normalerweise auch die notwendigen Mittel zur Freizeitgestaltung, Bildung, gewisse Luxusaufwendungen, usw. Gestattet es aber die Flexibilität der Rechtsfigur des Typus eines Beschäftigungsverhältnisses, den Entgeltbegriff von der Angemessenheit des Erlangten für die geleistete Arbeit zu lösen und lässt es zu, auch geringe Entlohnungen im Ghetto, die zur minimalen Überlebenssicherung unter den Bedingungen des Ghettos geeignet waren, als Entgelt anzusehen, so ist § 1227 a.F. RVO teleologisch zu reduzieren: Unter historischen Bedingungen, in denen das Entgelt von Vornherein nur das unmittelbare Überleben sichern kann und keinen Raum für darüber hinausgehende Lebensgestaltung eröffnet, findet die auf normale Lebensbedingungen zugeschnittene Vorschrift keine Anwendung.
Der Anerkennung guter Verpflegung als für ein unter den Bedingungen des Ghettos für eine Versicherungspflicht ausreichendes Entgelt lässt sich auch nicht entgegenhalten, das BSG habe mit der Ghetto-Rechtsprechung und der darin postulierten weiten Flexibilität der Rechtsfigur des Typus eines Beschäftigungsverhältnisses die Grenzen richterlicher Rechtsanwendung zugunsten eines gewünschten Ergebnisses überschritten, welches zu schaffen allein dem Gesetzgeber vorbehalten gewesen wäre. Zwar hätte es dem Gesetzgeber offengestanden, als entschädigungsrechtliche Regelung für Arbeiten in einem Ghetto eine fiktive Beitragszeit in der Rentenversicherung zu schaffen, ohne diese Tätigkeiten in die üblichen sozialversicherungsrechtlichen Kriterien eines Beschäftigungsverhältnisses einzuordnen. Und in der Tat mag man die Einbeziehung von Arbeiten in einem Ghetto unter den Typus" eines Beschäftigungsverhältnisses bzw. (in der Diktion Gagels, a.a.O.) das "Modell eines Normalarbeitsverhältnisses" jedenfalls nicht für zwingend halten. Seit Inkrafttreten des ZRBG jedoch stellt sich das Problem, ob die Rechtsprechung mit einer zu weiten Fassung die ihr im Gewaltenteilungsgefüge gesetzten Grenzen überschritten habe, von Vornherein nicht mehr. Denn mit dem ZRBG hat der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG reagiert und (allein) die Zahlbarmachung der sich aus dieser Rechtsprechung ergebenden Rentenansprüche erleichtert; mit dem rückwirkenden Inkrafttreten zum 01.07.1997 (Art. 3 ZRBG) hat er zugleich auf das Datum der ersten (neueren) BSG-Entscheidung zu Beschäftigungen in einem Ghetto Bezug genommen (vgl. BT-Drucks. 14/8583 S. 1). Damit aber hat der Gesetzgeber selbst die sich aus der Ghetto-Rechtsprechung des BSG ergebenden Rechtsfolgen in seinen gesetzgeberischen Willen aufgenommen. Indem auch das ZRBG in § 1 Abs. 1 Nr. 1b auf eine entgeltliche Ausübung der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto abstellt, hat der Gesetzgeber zudem zu erkennen gegeben, dass er sich die Lesart des Begriffes der Entgeltlichkeit in der Ghetto-Rechtsprechung des BSG zu eigen macht.
Ob die Klägerin über ihre Tätigkeit in der Kantine hinaus noch weitere berücksichtigungsfähige Beitragszeiten – insbesondere bis Kriegsausbruch als Buchhalterin in der Seidenwarenfabrik eines N M – zurückgelegt hat, musste der Senat nicht klären. Berufungsführerin ist allein die Beklagte, die wegen einer etwa fehlerhaften Nichtberücksichtigung weiterer Beitragszeiten von Vornherein nicht beschwert ist.
Hinsichtlich der für die Klägerin anrechenbaren Ersatzzeiten wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen. Ob der Vorbehalt einer freiwillige Beitragsnachentrichtung im Tenor der sozialgerichtlichen Entscheidung zu Recht ausgesprochen worden ist, musste der Senat nicht prüfen. Auch insoweit ist die allein berufungsführende Beklagte nicht beschwert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen, ob die alleinige Gewährung von (guter) Verpflegung als "Entgelt" für eine Beschäftigung i.S. der Ghetto-Rechtsprechung des BSG sowie des ZRBG ausreicht.
Erstellt am: 26.02.2004
Zuletzt verändert am: 26.02.2004