Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 29.06.2012 geändert. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Klageverfahren ab dem 10.04.2012 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin T, V, bewilligt. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Kläger wendet sich gegen den Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des Sozialgerichts.
Der Kläger meldete sich am 15.02.2011 mit Wirkung zum 01.03.2011 bei der Beklagten arbeitslos. Mit seinem Antrag auf Arbeitslosengeld bestätigte er, das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Die Beklagte bewilligte ihm daraufhin Arbeitslosengeld ab dem 19.03.2011 für eine Dauer von 360 Kalendertagen auf Grundlage eines täglichen Bemessungsentgeltes in Höhe von 64,12 EUR. Ergänzend bezog der Kläger Arbeitslosengeld II vom Jobcenter I. Vom 29.06. bis zum 01.07.2011 war der Kläger bei der Firma B Dienstleistungen als Lagermitarbeiter mit einer vereinbarten Wochenarbeitszeit von 38,3 Stunden beschäftigt. Die Beklagte unterrichtete er über die Beschäftigungsaufnahme nicht. Am 26.07.2011 sprach der Kläger bei der Beklagten vor und beantragte die Übernahme der Kosten für einen Gabelstaplerschein. Durch eine Überschneidungsmitteilung erhielt die Beklagte Anfang September 2011 Kenntnis von der Beschäftigung. Mit Bescheid vom 06.09.2011 hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld auf und setzte gegen den Kläger einen Erstattungsbetrag in Höhe von 1.616,96 EUR fest.
Der Kläger meldete sich daraufhin am 12.09.2011 telefonisch bei der Beklagten und teilte mit, er habe die Arbeitsaufnahme gegenüber dem Jobcenter gemeldet und nicht gewusst, dass auch eine Mitteilung gegenüber der Beklagten erforderlich sei. Auch habe er nicht gewusst, dass der Arbeitgeber ihn zur Sozialversicherung anmelden würde, da dieser zunächst von einem Probearbeitsverhältnis gesprochen habe. Mit Änderungsbescheid vom 27.09.2011 begrenzte die Beklagte die Aufhebung des Arbeitslosengeldes auf den Zeitraum vom 29.06.2011 bis zum 25.07.2011 und reduzierte den Erstattungsbetrag auf 918,99 EUR.
Der Kläger legte gegen den letztgenannten Bescheid mit anwaltlichem Schreiben am 21.10.2011 Widerspruch ein und führte zur Begründung unter anderem aus, der Arbeitgeber habe ihm gegenüber zugesagt, die Beschäftigungsaufnahme der Beklagten zu melden. Die Beklage wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2012 als unbegründet zurück: Zwar sei der Kläger nach dem Ende der Beschäftigung ab dem 02.07.2011 wieder beschäftigungslos gewesen, die persönliche Arbeitslosmeldung des Klägers sei jedoch gem. § 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III erloschen, da der Kläger die Arbeitsaufnahme der Beklagten nicht mitgeteilt habe. Erst am 26.07.2011 habe er sich erneut bei der Beklagten gemeldet. Zudem lägen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung ab Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gem. §§ 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III, 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X vor. Der Kläger habe wissen müssen, dass die Anspruchsvoraussetzungen mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit entfallen seien. Er habe zudem die Aufnahme der Erwerbsfähigkeit nicht mitgeteilt, obwohl er hierzu nach § 60 SGB I verpflichtet gewesen sei.
Hiergegen hat der Kläger am 09.03.2012 Klage zum Sozialgericht Aachen erhoben und beantragt, ihm für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Das Sozialgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 29.06.2012 abgelehnt: Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Klägerbevollmächtigte habe trotz mehrfacher Aufforderung keine Gründe dargelegt, welche für eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sprechen könnten. Gegen den seinen Bevollmächtigten am 06.07.2012 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 03.08.2012 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt, bei der Beschäftigung habe es sich um ein Probearbeitsverhältnis gehandelt. Aufgrund eines Bandscheibenvorfalls habe das Arbeitsverhältnis jedoch nicht fortgesetzt werden können. Er sei davon ausgegangen, dass sein Arbeitgeber kurzfristig die Beklagte informieren werde.
II.
1. Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 29.06.2012 ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Klageverfahrens zu Unrecht abgelehnt.
a) Die Gewährung von Prozesskostenhilfe setzt gem. § 73a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO zunächst voraus, dass die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist vorliegend zu bejahen. Die Klage ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs zulässig und begründet.
Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 06.09.2011 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 27.09.2011 und des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2012. Zwar hat der seinerzeit bereits anwaltlich vertretene Kläger mit Schreiben vom 21.10.2011 Widerspruch dem Wortlaut nach allein gegen den Änderungsbescheid vom 27.09.2011 eingelegt. Aus den Ausführungen der Widerspruchsbegründung ergibt sich jedoch, dass der Kläger sich gegen die Bewilligungsrücknahme insgesamt wandte. Nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz ist der Widerspruch vom 21.10.2011 deshalb dahingehend auszulegen, dass er sich auch gegen den ursprünglichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 06.09.2011 richtete. Der Umstand, dass dieser ursprüngliche Bescheid bei Einlegung des Widerspruchs wegen Ablaufs der einmonatigen Widerspruchsfrist gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG bereits bestandskräftig geworden war, ist unschädlich. Denn die Beklagte hat mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2012 sowohl nach dessen Rubrum als auch nach seinen Gründen über den Widerspruch auch gegen den Bescheid vom 06.09.2011 in der Sache entschieden, ohne sich auf die Verfristung des Widerspruchs zu berufen. Hierdurch ist die Verfristung geheilt worden (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 84 Rn 7).
Die Klage ist zudem gegenwärtig begründet. Denn die angefochtenen Bescheide sind formell rechtswidrig. Es fehlt an der Anhörung, welche gem. § 24 Abs. 1 SGB X vor Erlass eines belastenden Verwaltungsaktes durchzuführen ist. Die Beklagte hat den Kläger weder vor Erlass des erstmaligen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 06.09.2011 noch vor Erlass des Änderungsbescheides vom 27.09.2011 angehört. Die Anhörung war nicht entbehrlich gem. § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X, weil es nicht um die Anpassung einkommensabhängiger Leistungen an geänderte Verhältnisse ging, sondern um einen Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen für die Leistung des Arbeitslosengeldes.
Der Anhörungsmangel ist nicht durch eine Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden. Denn die bloße Konfrontation des Klägers mit der behördlichen Entscheidung alleine heilt den Anhörungsmangel nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass der Verwaltungsträger dem Betroffenen die entscheidungserheblichen Tatsachen unterbreitet, dieser sie als solche erkennen und sich zu ihnen sachgerecht äußern kann. Entscheidungserheblich sind dabei alle Tatsachen, auf welche die Behörde den Verfügungssatz gestützt hat oder auf die es nach ihrer materiell-rechtlichen Ansicht ankommt (Waschull in Diering/Timme/Waschull, SGB X, 3. Auflage 2011, § 41 Rn 18, unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des BSG). Ein Anhörungsmangel wird durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens hinsichtlich des belastenden Verwaltungsaktes deshalb nur dann geheilt, wenn der Bescheid selbst alle wesentlichen Tatsachen enthält (BSG, Urteil vom 14.07.1994, Az. 7 Rar 104/93). Dies war bei den Bescheiden der Beklagten vom 06.09.2011 und 27.09.2011 nicht der Fall. Denn die für die Entscheidung wesentliche innere Tatsache, dass der Kläger gewusst oder grob fahrlässig nicht gewusst habe, dass die Anspruchsvoraussetzungen mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit entfallen seien, hat die Beklagte erstmals im Widerspruchsbescheid dargelegt.
Der Anhörungsmangel ist schließlich bislang auch nicht im gerichtlichen Verfahren geheilt worden. Eine Nachholung der Anhörung parallel zum gerichtlichen Verfahren, welche grundsätzlich gem. § 41 Abs. 2 SGB X bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz möglich ist, setzt ein eigenständiges, nicht notwendigerweise formelles Verwaltungsverfahren voraus, in dessen Rahmen die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und an dessen Ende sie zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (BSG, Urteil vom 09.11.2010, Az. B 4 AS 37/09 R; Urteil vom 07.07.2011, Az. B 14 AS 144/10 R). Ein solches Anhörungsverfahren parallel zum gerichtlichen Verfahren ist bislang nicht erfolgt.
Einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht nicht entgegen, dass die Klage im Falle rechtmäßiger Nachholung des Anhörungsverfahrens im Ergebnis erfolglos bleiben könnte, weil sich die angefochtenen Bescheide als materiell rechtmäßig erweisen könnten. Zwar kann eine unterbliebene Anhörung gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X noch bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz nachgeholt werden; das Gericht kann das Verfahren hierzu ggf. auch auf Antrag gem. § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist. Eine nachträgliche Unbeachtlichkeit ("Heilung") eines Anhörungsfehlers gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 Abs. 2 SGB X ändert aber nichts daran, dass die Klage zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs wegen der formellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Im Übrigen gilt bei nachgeholten verfahrensbezogenen Handlungen (wie der Anhörung) der Verwaltungsakt nur als mangelfrei (BSG, Beschluss des Großen Senats vom 06.10.1994, GS 1/91, BSGE 75, 159); rechtmäßig wird er also nicht (Steiner, NZS 2002, S. 113, 117).
Der Senat sieht sich nicht veranlasst, hinsichtlich der Prozesskostenhilfe einen restriktiven Maßstab anzulegen; denn dies widerspräche sowohl Sinn und Zweck des Anhörungsrechts als auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Prozesskostenhilferecht.
Das Anhörungsrecht verfolgt den Zweck, das rechtliche Gehör im Verwaltungsverfahren jedenfalls dann zu gewährleisten, wenn in die Rechte eines Beteiligten eingegriffen werden soll. Es dient der Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung und dem Schutz vor Überraschungsentscheidungen (von Wulffen in ders., SGB X, 7. Auflage 2010, § 24 Rn 2). Es verkörpert somit keinen leeren Formalismus, sondern dient der Verwirklichung prozeduraler Gerechtigkeit. Diese Bedeutung des Anhörungsverfahrens wird – trotz seiner Relativierung durch die erweiterten Heilungsmöglichkeiten gem. § 41 Abs. 2 SGB X – durch die Regelung des § 42 Satz 2 SGB X unterstrichen, wonach die in § 42 Satz 1 SGB X unter den dortigen Voraussetzungen normierte fehlende Aufhebbarkeit gerade nicht bei Anhörungsfehlern gilt. Im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht des § 46 VwVfG fehlt eine § 42 Satz 2 SGB X entsprechende Regelung.
Der verfassungsrechtliche Maßstab für gerichtliche Entscheidungen zur Prozesskostenhilfe ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet. Zwar ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass § 114 Satz 1 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig macht, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Dies bedeutet, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dürfen jedoch nicht überspannt werden. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (zum Vorstehenden: BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, 2 BvR 94/98, BVerfGE 81, 347, 357 f.).
Vor diesem Hintergrund würden die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt, berücksichtigte man bei der Prozesskostenhilfeentscheidung einen fiktiven weiteren Prozessverlauf prognostisch in der Weise, dass man unterstellt, eine ordnungsgemäße Anhörung würde in jedem Fall noch wirksam nachgeholt werden. In Anbetracht der vorprozessualen Arbeitsweise der Beklagten, insbesondere des Umstandes, dass die Anhörung vorliegend bei Erlass gleich zweier belastender Verwaltungsakte unterblieben ist, ist für den Senat zudem nicht hinreichend sicher erkennbar, dass die Beklagte selbst auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Anhörung durchführen wird. Somit ist offen, ob der Anhörungsmangel auch bei Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens noch bestehen und die Klage vor dem Sozialgericht allein wegen der formellen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide Erfolg haben wird.
b) Der Kläger erfüllt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe gem. §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 Satz 1, 115 ZPO. Bei einem monatlichen Nettoeinkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 1.089,34 EUR und angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 650,- EUR verbleibt dem Kläger kein gem. § 115 ZPO für die Prozessführung einzusetzendes Einkommen. Der Kläger hat die wirtschaftlichen Voraussetzungen jedoch erst auf Anforderung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts durch Vorlage von Kontoauszügen am 10.04.2012 vollständig dargelegt. Erst ab diesem Zeitpunkt lagen somit die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe vor.
2. Kosten sind im Verfahren der Beschwerde gegen den Prozesskostenhilfebeschluss gem. §§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO nicht zu erstatten. Bei der Kostenentscheidung im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren gem. § 193 SGG wird das Sozialgericht erwägen können, die Wertung des § 63 Abs.1 Satz 2 SGB X entsprechend heranzuziehen, weil die Beklagte das Klageverfahren durch die unterbliebene Anhörung – jedenfalls auch – veranlasst haben könnte.
3. Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.
Erstellt am: 31.01.2013
Zuletzt verändert am: 31.01.2013