I. Der Bescheid vom 12. Juli 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2001 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 57,82 EUR abzüglich des Verwaltungskostenanteils im Sinne von § 13 Abs. 2 SGB V zu zahlen.
III. Die Beklagte erstattet der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 06/10.
IV. Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Erstattung von zahnärztlichen Heilbehandlungskosten in entsprechender Anwendung von § 13 Abs. 2 und 3 des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), die im Kleinwalsertal (Österreich) erbracht worden sind.
Der Zahnarzt der Klägerin hat seine Praxis im April 1999 ins Kleinwalsertal verlegt (Österreich, deutsches Wirtschafts- und Zollanschlussgebiet). – Die Klägerin hat mit Schreiben vom 27.01.2000 angefragt, ob eine Kostenübernahme für eine weitere Behandlung bei ihrem Zahnarzt möglich wäre. Die Beklagte hat mit Antwort vom 23.02.2000 die Klägerin dahingehend verbeschieden, dass eine Kostenübernahme gemäß § 18 Abs. 3 SGB V nicht zulässig sei, wenn sich gesetzlich Krankenversicherte zur Behandlung ins Ausland begäben. Dies treffe leider auch auf das Kleinwalsertal zu.
Die Klägerin hat sich dennoch wegen der Incision eines Abszesses samt Nachbehandlung von ihrem Zahnarzt im Kleinwalsertal behandeln lassen (Behandlungszeitraum: 25.04. bis 02.05.2000). Hierfür hat der Zahnarzt mit Honorarnote vom 04.07.2000 177,00 DM privat in Rechnung gestellt. – Nach deutschen Kassenarztsätzen hätte die Beklagte 112,30 DM für die nämlichen Leistungen verauslagen müssen.
Die Beklagte hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 12.07.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2001 eine Kostenerstattung abgelehnt. Die Klägerin gehöre als Versicherungspflichtige nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht zu denjenigen Versicherten, die nach § 13 Abs. 2 SGB V zur Kostenerstattung berechtigt seien. Für die Klägerin bestehe ein Sach- und Dienstleistungsanspruch gemäß § 2 Abs. 2 SGB V. Die Ausnahmeregelungen §§ 16 und 18 SGB V lägen nicht vor. Auch aus europarechtlichen Gründen (Artikel 22 der Verordnung – EWG Nr. 1408/71 sowie Artikel 34 Abs. 1 der Verordnung – EWG Nr. 574/72) sei keine für die Klägerin günstige Entscheidung möglich.
Die hiergegen gerichtete Klageschrift vom 23.03.2001 ging am 26.03.2001 im Sozialgericht Augsburg ein. Die Bevollmächtigten der Klägerin hoben hervor, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 28.04.1998 – C-158/96 in Sachen Kohll./. UCM zwar die vom Kostenerstattungsprinzip geprägte luxemburgische Gesundheitsversorgung beträfe. Die dortigen Grundsätze seien jedoch im Hinblick auf Art. 59 und 60 EGV weiterzuentwickeln. Die Grundprinzipien des freien Binnenmarktes, insbesondere des freien Dienstleistungsverkehrs, hätten zur Folge, dass der Klägerin ein Kostenerstattungsanspruch in Höhe der geltend gemachten Forderung (177,00 DM) gegen die Beklagte zustehe.
Vonseiten des Gerichts wurden die Akten der Beklagten beigezogen. Nach Überprüfung wurden die Beteiligten mit Nachricht des Gerichts vom 11.05.2001 darauf aufmerksam gemacht, dass nach nationalem Recht die Klage abgewiesen werden müsste. Sollte der EuGH seine bisherige Rechtsprechung fortführen, bestünde eine begründete Aussicht auf Erfolg, dass die geltend gemachten Zahnarztkosten bis zur Höhe vergleichbarer Inlandssätze zu erstatten seien. – In der mündlichen Verhandlung vom 07.03.2003 hat das Sozialgericht Augsburg beschlossen:
I. Der Rechtsstreit wird gemäß § 114 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgesetzt.
II. Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) werden gemäß Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Verstoßen §§ 16, 18 des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V), die hier die Erstattung der Kosten für Zahnarztbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit der Versicherten dem Grunde nach abhängig machen, auch dann gegen Art. 59 und 60 EGV, wenn das nationale System der gesetzlichen Krankenversicherung von dem Sachleistungsprinzip getragen wird (und nicht wie im Fall Raymond Kohll./. Union des caisses de maladie – EuGH, Urteil vom 28. April 1998, Az.: C-158/96 – vom Kostenerstattungsprinzip)?
2. Sofern entsprechend der Antwort zu Frage 1. die Beklagte aus auroparechtlichen Gründen verpflichtet sein sollte, die Kosten für die Zahnbehandlung (hier: in der Republik Österreich) zu erstatten, richtet sich der Erstattungsanspruch der Höhe nach auf die tatsächlich angefallenen und verauslagten Kosten oder ist er der Höhe nach auf die Sätze des nationalen Krankenversicherungssystems (hier: Bundesrepublik Deutschland) beschränkt?
Der EuGH hat in der Rechtssache der Klägerin (Vorabentscheidungsersuchen C-322/02) das Sozialgericht Augsburg mit Nachricht vom 27.01.2004 auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofes vom 13.05.2003 in der Rechtssache C-385/99 (V.G. Müller-Fauré) aufmerksam gemacht und gebeten mitzuteilen, ob im Hinblick auf dieses Urteil das Vorabentscheidungsersuchen noch aufrechterhalten werde.
Entsprechend der Nachricht der Bevollmächtigten der Klägerin vom 13.02.2004 hat das Sozialgericht Augsburg der Curia mit Nachricht vom 17.02.2004 mitgeteilt, dass das Vorabentscheidungsersuchen nicht mehr aufrechterhalten werde.
In der mündlichen Verhandlung vom 16.03.2004 in Immenstadt stellt der Bevollmächtigte der Klägerin mit deren Einvernehmen die Anträge aus der Klageschrift vom 23.03.2001, modifiziert im Sinne des Vergleichsvorschlages des Gerichts vom 09.02.2004: Entsprechend den Ausführungen der Curia in dem Parallelverfahren C-385/99 erscheine die hiesige Klage insoweit begründet, als nach deutschen Kassenarztsätzen 112,30 DM = 57,82 EUR abzüglich des Verwaltungskostenanteils zu erstatten seien (vgl. § 13 Abs. 2 SGB V).
Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten und den der beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Augsburg form- und fristgerecht erhobene Klage ist gemäß §§ 51 ff. des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig.
Die Klage erweist sich insoweit auch als begründet, als die Beklagte der Klägerin 57,82 EUR abzüglich des Verwaltungskostenanteils im Sinne von § 13 Abs. 2 SGB V zu erstatten hat. – Die Klägerin kann jedoch nicht die vollen Kosten erstattet verlangen, die ihr der behandelnde Zahnarzt im Kleinwalsertal mit Honorarnote vom 04.07.2000 als Privatpatientin in Höhe von 177,00 DM in Rechnung gestellt hat.
Nach deutschem nationalen Recht hätte die Klage abgewiesen werden müssen. Denn § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bestimmt, dass der Anspruch auf Leistungen ruht, solange Versicherte sich im Ausland aufhalten, und zwar auch dann, wenn sie dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkranken, soweit in diesem Gesetzbuch nichts Abweichendes bestimmt ist. – Ist eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit nur im Ausland möglich, kann die Krankenkasse die Kosten der erforderlichen Behandlung ganz oder teilweise gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.1991 (BGBl I S. 2325) übernehmen. – Ist während eines vorübergehenden Auslandsaufenthalts eine Behandlung unverzüglich erforderlich, die auch im Inland möglich wäre, hat die Krankenkasse die Kosten der erforderlichen Behandlung insoweit zu übernehmen, als Versicherte sich hierfür wegen einer Vorerkrankung oder ihres Lebensalters nachweislich nicht versichern können und die Krankenkasse dies vor Beginn des Auslandsaufenthaltes festgestellt hat. Die Kosten dürfen nur bis zur Höhe, in der sie im Inland entstanden wären, und nur für längstens sechs Wochen im Kalenderjahr übernommen werden. Eine Kostenübernahme ist nicht zulässig, wenn Versicherte sich zur Behandlung ins Ausland begeben (§ 18 Abs. 3 Satz 1 bis 3 SGB V, angefügt durch Gesetz vom 21.12.1992 – BGBl I S. 2266).
Der EuGH hat mit Urteil vom 13.05.2003 – C-385/99 (V.G. Müller-Fauré) entschieden:
Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und Artikel 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates nicht entgegenstehen, die wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Übernahme der Kosten für eine Krankenhausversorgung in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung der Krankenkasse des Versicherten durch einen Leistungserbringer, mit dem diese Kasse keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat, davon abhängig machen, dass die Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt, und nach denen diese Genehmigung nur erteilt wird, wenn die medizinische Behandlung des Versicherten es erfordert. Die Genehmigung kann jedoch nur dann aus diesem Grund versagt werden, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung erlangt werden kann, die eine vertragliche Vereinbarung mit der betreffenden Kasse getroffen hat.
Dagegen stehen die Artikel 59 und 60 des Vertrages diesen Rechtsvorschriften entgegen, wenn sie die Übernahme der Kosten für eine Versorgung, die in einem anderen Mitgliedstaat außerhalb eines Krankenhauses durch eine Person oder Einrichtung erfolgt, mit der die Krankenkasse des Versicherten keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat, davon abhängig machen, dass die betreffende Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt, auch wenn die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften ein Sachleistungssystem einführen, in dessen Rahmen die Versicherten Anspruch nicht auf die Erstattung der Kosten für die medizinische Versorgung, sondern auf die Versorgung selbst haben, die kostenlos erfolgt.
Entsprechend den Ausführungen der Curia in dem Parallelverfahren C-385/99 ist die hiesige Klage daher insoweit begründet, als nach deutschen Kassenarztsätzen 112,30 DM = 57,82 EUR abzüglich des Verwaltungskostenanteils zu erstatten sind (vgl. § 13 Abs. 2 SGB V).
Nach alledem ist der Klage zum überwiegenden Teil stattzugeben gewesen. – Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Berufung im Sinne von § 144 Abs. 2 SGG haben nicht mehr vorgelegen, nachdem der EuGH mit dem vorstehend bezeichneten Urteil vom 13.05.2003 – C-385/99 (V.G. Müller-Fauré) die entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzlich geklärt hat.
Erstellt am: 20.07.2005
Zuletzt verändert am: 20.07.2005